E-Book, Deutsch, Band 35, 64 Seiten
Reihe: Kinderlachen
Clemens Kinderlachen - Folge 035
1. Auflage 2017
ISBN: 978-3-7325-4685-5
Verlag: Bastei Lübbe
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Zu spüren, du bist für mich da
E-Book, Deutsch, Band 35, 64 Seiten
Reihe: Kinderlachen
ISBN: 978-3-7325-4685-5
Verlag: Bastei Lübbe
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Anna-Lena ist allein, als der mörderische Schmerz plötzlich über sie herfällt und ihr die Luft zum Atmen nimmt. All das Gelernte aus dem Geburtsvorbereitungskursen - richtiges Atmen, das dem Kind mehr Platz bietet, und beruhigende Entspannungstechniken - sie hat es vergessen. Mit letzter Kraft erreicht sie ihr Handy, um den Notruf zu wählen. Als Anna-Lena nach der Geburt aus der Narkose erwacht, ist sie nicht mehr allein. Ein Arzt sitzt an ihrem Bett und hält ihre Hand. Anna-Lena blickt suchend um sich: Wo ist ihr Baby?
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Manchmal, wenn sie mit der U-Bahn heimfuhr in den Außenbezirk der Stadt, ja, manchmal, da fiel es ihr noch auf: Grau und freudlos sahen die Gesichter der meisten Mitreisenden aus, so, als hätte ein Schicksalsschlag ihnen die Schönheit geraubt. Ja, manchmal fiel es Anna-Lena noch auf. Sie ließ ihre Blicke an den aufgeschlitzten Kunststoffsitzen herabgleiten, entdeckte Bonbonpapier und feuchte Seiten einer Tageszeitung, angebissene Brötchen und undefinierbaren Müll. Wenn es regnete, roch die U-Bahn nach feuchten Kleidern und billigem Parfüm, nach Straßenstaub und ranzigem Fett, das zerknüllte Pommes-Tüten noch immer ausdünsteten. An diesen seltenen Tagen des bewussten Schauens suchte die Vierundzwanzigjährige auf der langen Fahrt nach etwas Besonderem im Waggon, nach dem Lächeln eines Kindes vielleicht, nach einer Hand, die der gehbehinderten, alten Frau dort drüben half, nach etwas, das über die banale Alltäglichkeit einer Fahrt ins Wohnsilo auf dem weiten Feld hinausging. Warum sahen die Menschen, die in den Hochhäusern dort im Randgebiet der Großstadt wohnten, denn immer so … gedemütigt aus? So, als hätte sie jemand geprügelt und sie hätten sich trotz dieses grundlosen Angriffs nicht gewehrt. Kam eine Bahn entgegen, entdeckte Anna-Lena für Sekunden ihr Spiegelbild. Sie erschrak über die Blässe ihres Gesichtes, empfand den Zopf, der ihre hellblonden Haare straff zurückhielt, als fremd und fast unweiblich, und dann schaute sie auf den Boden und wartete auf die nächste Haltestelle, darauf, dass etwas Schönes und nie dagewesenes passierte, etwas, das diesen Tag über alle anderen hinaushob. Nie passierte dieses Etwas. Die U-Bahn hielt an der Endstation, und sie alle drängelten sich hinaus, als wartete etwas Großes, Wunderbares auf sie. Manche machten sofort an der Bahnhofsklause halt, riefen schon beim Eintreten dem Wirt ihren Getränkewunsch zu und blieben dort stundenlang, vielleicht sogar die ganze Nacht. Manche aber, wie sie, überquerten den betonierten Platz und wandten sich nach rechts, dem Einkaufszentrum zu. Alle großen Wohnsiedlungen besaßen dieses Center als Mittelpunkt. Alles war Beton, Grau in Grau, selbst die armseligen Pflänzchen, die die Stadt gesetzt hatte, wurden von Achtecken in Beton umrahmt. Durch Tiefgaragen und unterirdische Keller ging ihr Weg. Ihre Schritte hallten. Anna-Lena hatte Angst. So viel passierte hier! Jugendliche fanden sich zu Straßencliquen und Banden zusammen, Kinder schwänzten die Schule und lungerten herum. Es gab Cafés und Treffpunkte im Silo, ja, es gab Kaufhäuser und Boutiquen und Getränkemärkte und Läden für den Haushaltsbedarf. Es gab lauter bunten Kitsch aus Plastik, und die Menschen gingen an den Schaufenstern vorbei, und ihre Blicke waren sehnsüchtig auf etwas Kaufbares gerichtet. Vielleicht, dachte Anna-Lena, vielleicht ist mit der Seele der Menschen in den letzten Jahren etwas Furchtbares passiert. Sie hat den Körper verlassen und sich in Elektrogeräte und Teppiche, Autos und Fernreisen eingenistet. Und nur deshalb, auf der Suche nach ihrer Seele, wollten die Menschen alles besitzen, was in den Schaufenstern lag. Sie brauchten ihre Seele doch! Jetzt überquerte sie einen Parkplatz. Nicht besonders begabte Farbkleckser hatten ihn mit Zeichen beschmiert. Fast alle Antennen der Autos waren abgebrochen, manche Scheiben eingeschlagen. Die Klingelanlage am Haus 9 b funktionierte schon lange nicht mehr. Die Namensschilder waren herausgerissen. Der Lift roch nach Abfall. Er war ganz neu, doch er stotterte. Im Treppenhaus war es schmutzig. Auf jeder zweiten Etage brannte schon längst kein Licht mehr. Warum lässt Gott das zu?, fragte Anna-Lena sich manchmal. Warum gibt er den einen so viel, lässt ihnen Heuchelei, Lüge, Betrug und Diebstahl durchgehen … und die anderen haben nichts? Anna-Lena lief die acht Etagen hinauf. Überall lärmten Fernseher. Die Nolde schrie mit ihren Kindern. Eines weinte. Das war wohl die kleine Tinka. Mit drei Jahren versteht ein Kind noch nichts vom wunschlosen Unglück seines Lebens. Es kann sich nicht wehren … gegen eine überforderte Mutter, die fünf Kinder durchbringen muss und deren Mann viel zu viel trinkt. Anna-Lena schloss die Tür auf. »Vater?« So fing ihr Abend immer an. Immer mit diesem einen Wort. »Vater?« Ja, auch das war typisch. Er antwortete nie beim ersten Mal. Immer dauerte es Sekunden, sehr langsam vergehende Sekunden, bis er zu sich kam und begriff, dass die Einsamkeit seines Tages nun zu Ende war. »Vater?« Jetzt würde er den Rollstuhl wenden, weg vom Fenster, der Tür entgegen. Er würde sie mit der Krücke antippen und seiner Tochter vorwurfsvoll entgegensehen. Immer war das so, schon elf Jahre lang. Er tat es nicht. Aber … wieso? Es musste ihm gutgehen. Tagsüber kam jemand von der Caritas, gab ihm die Spritzen, die Tabletten, wärmte das Essen, das Anna-Lena am Abend zuvor zubereitet hatte. Allein konnte er nicht viel tun. Er wollte wohl auch nicht. »Vater, Vater, Vater.« Sie riss die Wohnzimmertür auf. Dort war er nicht. Sie riss die Schlafzimmertür auf. Nichts. Und dann kam sie in die Küche. Der Rollstuhl stand umgekippt am Fenster, wie weggeworfen, wie zu nichts mehr nutze. »Vater!« Sie riss die Wohnungstür wieder auf. Sie rief das eine Wort; sie schrie es hinaus. Einer öffnete von den hundertsechs Wohnungsinhabern, ja, einer schon. »Schnauze!«, schrie er. In diesem Augenblick klingelte ihr Telefon. Sie hob ab, nannte ihren Namen. »Anna-Lena Lange?«, fragte eine Männerstimme. »Sind Sie die Tochter von Herbert Lange? Wohnhaft Jahnring?« Sie nickte, als glaubte sie, der Fremde würde das erkennen. »Anna-Lena Lange?«, wiederholte er eindringlich. »Sind Sie es? Hier ist die Polizeiwache am Rabenstieg …« *** Später wusste Anna-Lena nicht mehr, wie sie unter all den gleich aussehenden Gebäuden, den versteckten Eingängen und den ramponierten Straßenschildern ihr Ziel gefunden hatte. Schnurgerade, so kam es ihr vor, war sie darauf zugegangen. Die Polizeistation hier im Randgebiet war neu und sah doch in ihrer Einförmigkeit aus, als hätte sie ein Menschenleben lang hier gestanden. »Ich … ich bin angerufen worden«, stammelte sie. »Ein … Herr Martens, ich glaube: Nils Martens, hat mich angerufen.« Der junge Beamte schaute sie an und wurde rot. Sie bemerkte es nicht einmal. »Der Chef sitzt da drüben«, sagte er. »Der große Graublonde da ohne Uniformjacke.« Sie ging an grauen Schreibtischen vorüber, die überladen waren mit Papier und Akten und alten, angeschlagenen Kaffeebechern. Dann stand sie vor ihm und fürchtete sich ein wenig vor seiner massigen Gestalt, den unwillig zusammengezogenen, dichten Augenbrauen, vor den breiten Händen, die mehr Kraft ausstrahlten, als sie ertragen konnte. »Ihr Name?« Seine Stimme klang unwillig und gereizt. »Anna-Lena Lange«, flüsterte sie. Und: »Ich verstehe nicht …« Seine Stimme wurde noch ärgerlicher. »Setzen!«, blaffte er. »Theo, bring Kaffee!« Theo war der junge Polizist, den sie angesprochen hatte. »Danke, ich möchte nicht …« »Sie tun, was ich Ihnen sage, basta!« Ungefragt wurde ihr ein Stuhl zugeschoben. Anna-Lena setzte sich gehorsam. Das erwartete der Herr Martens wohl. »Mein Vater …?«, fragte sie. »Ich verstehe nicht … Ich bin nach Hause gekommen, und er war nicht da! Aber er war immer da! Er wird tagsüber von der Caritas betreut, das heißt … nur für zwei Stunden, weil sie keine Leute haben. Weil er ein schwieriger Patient ist, so schwierig, dass ich …« Anna-Lena spürte, dass Tränen in ihr hochstiegen, und sie glaubte plötzlich, sie weinte über ihr verpfuschtes Leben und seines dazu. »Ihr Vater ist tot.« Brutal klang seine Stimme, hart erbarmungslos. »Als der Pfleger vom Hilfsdienst kam, war er bereits gestürzt, doch er lebte noch. Was genau passierte, wissen wir nicht. Möglicherweise liegt Fremdverschulden vor. Fehlt etwas in der Wohnung? Gibt es Wertsachen, die nicht auf den ersten Blick erkennbar sind?« Seine Stimme drückte aus, dass er das nicht erwartete. Im Jahnring lebten keine Menschen, die Safes brauchten. Ihre »Wertsachen« waren ein intakter Fernsehapparat und ein festes Arbeitsverhältnis. »Wir wussten nicht, wo wir Sie erreichen konnten. Von all den Nachbarn, bei denen wir klingelten, haben es nur drei für nötig befunden, die Haustür zu öffnen. Eine meinte, der alte Mann hätte eine Tochter – Sie! Aber was Sie tagsüber tun, wusste niemand.« Er schwieg eine Weile und betrachtete sie mit zusammengezogenen Augenbrauen. Etwas Furchterregendes ging von ihm aus. »Sie arbeiten? In einem richtigen Beruf?« Er wollte sie verletzen! Er wusste genau, dass die meisten Frauen im Jahnring vom Amt abhängig waren. »Ich bin technische Zeichnerin«, sagte Anna-Lena. Und wie, um sich zu entschuldigen, fügte sie hinzu: »Ich habe ihn jahrelang gepflegt. Wir kamen nicht besonders gut aus. Mein Vater ist … war sehr schwierig, seitdem er gelähmt ist … war.« Sie brach ab, aus Angst, er könnte denken, sie beklagte sich. Aber so war es nicht. Sie hatte ihren Vater gepflegt und diese Arbeit als selbstverständlich und sinnvoll zugleich betrachtet. In Fernkursen hatte sie ein wenig gelernt, nur nebenher, denn er...