E-Book, Deutsch, 224 Seiten
Dean Meine Väter
1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-7152-7513-0
Verlag: Atlantis Literatur
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 224 Seiten
ISBN: 978-3-7152-7513-0
Verlag: Atlantis Literatur
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Martin R. Dean wurde 1955 in Menziken, Aargau, als Sohn eines aus Trinidad stammenden Vaters und einer Schweizer Mutter geboren, studierte Germanistik, Ethnologie und Philosophie an der Universität Basel, unterrichtete an der Schule für Gestaltung in Basel und am Gymnasium in Muttenz. Dean ist vielfach ausgezeichneter Buchautor. Zu seinen jüngsten Werken gehören Meine Väter (Neuausgabe 2023), Ein Stück Himmel (2022), Warum wir zusammen sind (2019) und Verbeugung vor Spiegeln - Über das Eigene und das Fremde (2015). Martin R. Dean lebt in Basel.
Autoren/Hrsg.
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I Mind the Gap
Besenkammer in Trinidad
Auf dem Flug nach London las ich in der Zeitung von einem seltenen Verbrechen: Ein Junge hatte seinen Vater getötet. Nachdem er mit einer Eisenstange auf den Schlafenden eingedroschen und ihn mit einigen gezielten Messerstichen verwundet hatte, erstickte er ihn unter einem Kissen. Die Stiefmutter des Jungen wurde Zeugin der Bluttat. Die ganze Wohnung, die Wände und auch das weiße Bettlaken, sagte sie später vor Gericht aus, seien voller Blut gewesen, als der Sohn endlich vom Vater ließ. Der Sohn habe sofort ein Geständnis abgelegt.
In den meisten Fällen können Söhne ihre Väter nicht von Angesicht zu Angesicht angreifen. Kaum ein Mordversuch am Vater findet in der direkten Konfrontation statt. Da der Vater als unbezwingbar erscheint, erfolgt der Angriff meist im Schlaf, hinterrücks oder mit Gift.
Welche Strafe steht auf Vatermord?
Ich habe meinen Vater erst jetzt, im Alter von vierzig Jahren, gefunden. Fast vierzig Jahre wusste ich nichts über ihn. Vierzig Jahre lang glaubte ich, er sei eine Art Märchenprinz mit einem silbernen Stock.
Vor einer Woche versicherte mir der in London ansässige Hochkommissar von Trinidad und Tobago am Telefon, dass mein Vater noch lebe, ja dass er sogar mit ihm bekannt sei. Sofort buchte ich einen Flug von Basel nach London.
»Ihr Vater Ray hat dreißig Jahre lang auf Ihren Anruf gewartet«, hat der Hochkommissar gesagt. »Er stammt aus einer angesehenen Familie in Trinidad. Aber Sie sind spät dran.«
Ich sah einen einflussreichen alten Mann mit gegerbtem Gesicht vor mir, der irgendwo in einem Seemannshaus an der Themse residiert und weltweit seine Geschäfte führt. Im Laufe all der Jahre und Jahrzehnte habe ich ihn mir immer wieder anders vorgestellt. Mal hellhäutig, dann wieder dunkel, mal schmächtig – oder groß, ja überwältigend groß wie ein Baum.
Nun bin ich auf dem Weg zum Hochkommissar von Trinidad und Tobago. Mein linkes Auge ist geschwollen und tränt, meine Nase so verstopft wie die Straßen von Belgrave, durch die sich der Cabdriver im Stop-and-go voranbewegt. Seit vierzehn Tagen leide ich an einem Stirnhöhlenkatarrh. Deutlich sehe ich noch das Röntgenbild mit meinen gegen die Stirnhöhle sich verengenden Nasenlöchern vor mir, in denen mein Atem stockt und stecken bleibt. Sodass ich zuweilen fast zu ersticken drohe. Keine Panik, no panic, it’s the normal rush hour, meint der Cabdriver.
Wenn ich krank werde, sagt mir Leonie, soll ich nicht gleich in Panik verfallen. Meine Krankheiten sind unauffälliger Natur, sie unterscheiden sich nicht von denen meiner Freunde und Bekannten. Mal eine Verzerrung des Nackenmuskels, dann eine Magenverstimmung oder ein Nierenstein. Hypochondrische Kapriolen. Vor allem aber Fieber, Fieber seit meinem achtzehnten Lebensjahr. Immer wieder schnellt meine Körpertemperatur nach oben und wirft mich ins Bett. Meine Zunge und mein Hals schwellen an, und meine Wahrnehmung wird trübe. Ich kann nicht mehr unter die Leute gehen und muss tagelang das Bett hüten. Leonie weiß dann, dass ein neues Loch in mir aufgegangen ist. Eigentlich siehst du gesund aus, sagt sie; wenn man dich sieht, bemerkt man nicht, dass du so viele Löcher mit dir herumträgst. Vielleicht wärst du gesünder, wenn du deine Geschichte kennen würdest. Aber auch Leonie weiß nicht, wie mir zu helfen ist. Die Ärzte wissen es auch nicht. Wenn ich mit hohem Fieber im Bett liege, bin ich für andere nicht mehr erreichbar. Bin abgeschnitten von allem. Wie viele Verpflichtungen und Termine habe ich deswegen versäumt. Das halbe Leben habe ich verpasst. Aber deine eigentliche Krankheit, sagt Leonie, ist in keinem Lehrbuch zu finden. Vielleicht nennen wir sie einfach mal »Vatermangel«. Damit wirst du in die medizinischen Lehrbücher eingehen.
Am Belgrave Square weichen die schmucken Backsteinhäuser imposanten Prunkbauten mit weiß leuchtenden Fassaden, mit teppichausgelegten Entrees und goldbeschrifteten Lettern an den Briefkästen. Die ganze Zeit muss ich daran denken, dass dies meines Vaters Stadt ist. Die ganze Zeit sehe ich Ray mit einem Stöckchen durch die in goldenes Licht getauchten Straßen gehen. Auch der ärmste indische Schlucker, der heruntergekommenste Schwarze, der zerlumpteste Bettler darf hier spazieren gehen. Der Fassadenprunk ist Teil des ehemaligen britischen Empires, dem auch mein Vater angehört. Die Namen, die Häuser und die Monumente auf den Plätzen bilden einen großen Echoraum der weltumspannenden Kolonialgeschichte, die die Geschichte Indiens wie auch Trinidads geprägt hat.
Wie viel weiß der Hochkommissar? Wird er mir verraten, was dieser Ray all die Jahre in London getrieben hat? Kennt er die Leute, mit denen er verkehrt? Ist es denkbar, dass er Rays Leben in wenigen klaren Sätzen zusammenfasst?
Auf dem großen Platz vor der Botschaft überlege ich, wie viele Schiffe, Segelschiffe der englischen Flotte, beispielsweise der von Sir Francis Drake angeführten englischen Flotte, hier nebeneinander Platz hätten. Ich habe diese Flotte vor Augen, dazu das ans Kielholz schlagende Meer, während ich die Stufen der weiß getünchten Treppe hinaufsteige. Ein frischer Wind knattert in der grün-roten, auf einer Zinne angebrachten Landesflagge, als ich den glänzenden Klingelknopf drücke. Eine Angestellte öffnet mir die Tür, und ich versichere ihr, dass ich eine Verabredung mit Hochkommissar Lennox habe. Sie schüttelt den Kopf, als wäre ich ein Schwindler, und weist mich in einen dunklen Raum, kaum größer als eine Besenkammer. Eine Besenkammer in Trinidad, denn mit dem Überschreiten der Botschaftsschwelle habe ich London verlassen und befinde mich nun auf Rays Heimatboden. Auf dem Boden, den meine beiden Väter, Neil und Ray, verlassen haben.
Aber man lässt mich ziemlich lange in dieser stickigen Kammer auf einem folkloristischen Holzschemel warten; eine halbe Stunde schon, in der der Hochkommissar der Inselrepublik seine Fingernägel säubert oder mit seiner Geliebten telefoniert oder seine Zimmerpflanzen gießt.
Ich schleiche mich aus der Besenkammer und klopfe an die Tür, hinter der die Bedienstete verschwunden ist.
»Sie wünschen, Sir?«, fragt mich eine andere Beamtin.
»Wo ist die Frau von vorhin? Sie wollte mich doch zu Mister Lennox bringen.«
»Die hat jetzt Dienstschluss. Hat sie Sie etwa vergessen«, sagt sie, lacht und legt ihren zur Seite. »Kann ich etwas für Sie tun, Sir?«
»Wie gesagt, ich möchte zu Mister Lennox.«
»Mister Lennox ist für vier Tage nach Barbados geflogen. Worum geht’s denn?«
»Ich suche meinen Vater.«
Nun greift sie kichernd zum Telefon und redet mit rasender Geschwindigkeit in die Muschel.
In einem holzgetäfelten Zimmer eilt mir kurz darauf Lennox – ein Schwarzer und kein Inder, wie üblich für einen trinidadischen Regierungsbeamten – mit ausgestreckten Armen entgegen, fast so, als wollte er mich an sich drücken. Im letzten Augenblick aber lässt er beide Arme sinken und gibt mir seine trockene Hand. Dann setzt er sich umständlich hinter einen magistral großen Schreibtisch. Er streicht mit der Handinnenfläche über seine Bügelfalten, die scharf hervorstechen.
»Sie sind also der Mann aus der Schweiz, der seinen karibischen Vater sucht. Wie sind Sie überhaupt auf mich gekommen?«
»Ich habe die trinidadischen Vertretungen in halb Europa angerufen.«
»Ich verstehe aber nicht, warum Sie erst jetzt kommen? Es ist doch eigentlich zu spät.«
»Am Telefon haben Sie gesagt, mein Vater sei am Leben und warte seit dreißig Jahren auf meinen Anruf.«
»Das war metaphorisch gesprochen. In Wirklichkeit glaube ich nicht, dass er das tut. Hat er sich überhaupt jemals bei Ihnen gemeldet?«
»Nicht, dass ich wüsste«, sage ich, unangenehm überrascht. »Auf jeden Fall hat mir Neil, mein Stiefvater, nie etwas davon gesagt. Meine Familie hat leider nicht das beste Verhältnis zu diesem Ray Randeen, obwohl auch Neil ein Trinidader indischer Herkunft war.« Ich rede offen mit Lennox, der sicherlich genug Erfahrung in solchen Dingen hat.
»Verstehe«, sagt Lennox und schnalzt mit der Zunge. »Ihr Stiefvater ist auch indischer Abstammung und aus Trinidad. Kompliziert die Sache enorm. In diesem Fall weiß ich gar nicht, ob ich befugt bin, Ihnen Rays Adresse zu geben.«
Lennox kommt hinter seinem Schreibtisch hervor und stellt sich vor mir auf, sodass ich ihn nur noch aus den Augenwinkeln sehe. Ich bin verunsichert, schaue auf meine Jeans und überprüfe mein Jackett, an dem einige Fäden heraushängen. Bin ich zu nachlässig angezogen? Hätte ich Lennox zuliebe nicht doch besser eine Krawatte umbinden müssen?
»Mein Stiefvater ist tot, und es ist nicht länger die Sache meiner Familie, über mich zu entscheiden.«
Schweigen.
»Wir«, sagt Lennox und betont dieses »wir«, »wir tun hier etwas Falsches, wenn wir Ihrer Familie einen Mann wie Ray aufhalsen. Vergessen Sie’s. Jetzt noch Ihren leiblichen Vater kennenzulernen, bringt nur unnötige Probleme.«
Lennox enttäuscht mich, nein, er macht mich wütend. Um welche Art von Problemen kann es sich denn handeln? Wie kann Ray, ein honorabler Geschäftsmann, der in einem alten Seemannshaus an der Themse Rassehunde züchtet und mit Curry handelt, überhaupt jemandem zum Problem werden? Oder ist er vielleicht gestrauchelt, sitzt er im Gefängnis, ist er gerade seinen guten Ruf losgeworden?
Lennox schaut auf die Uhr. Mit einem Blick auf mich springt er auf und weist mit ausgestrecktem Arm auf das Motto der an der Wand angebrachten...




