Dick Ubik
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-10-402727-2
Verlag: S.Fischer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 224 Seiten
Reihe: Fischer Klassik Plus
ISBN: 978-3-10-402727-2
Verlag: S.Fischer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Philip K. Dick hat die Science-Fiction nicht erfunden, aber aus ihr eine Kunst gemacht. Mit prophetischem Blick und genialischer Phantasie sah er Szenarien voraus, in denen unsere Gegenwart zum Albtraum wird: »Blade Runner«, »Minority Report«, »Total Recall«, »Impostor«, »Paycheck«, »Der dunkle Schirm« - all diese Filme basieren auf seinen Büchern. 1928 in Chicago geboren, rettete er sich aus seiner psychotischen Jugend nach Berkeley. Er nahm so ziemlich alle Aufputschmittel und Drogen, die es gab, hatte Visionen und göttliche Erscheinungen, schrieb bis zu 60 Seiten am Tag und fühlte sich von FBI und KGB verfolgt. 1982 starb er wenige Wochen vor der Filmpremiere von »Blade Runner«.
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1
Freunde! Wir räumen – und verschleudern alle unsere geräuschlosen Elektro-UBIKS zu einem Spottpreis. Ja, wir werfen sie förmlich weg. Und denken Sie daran: Jeder unserer UBIKS ist nur nach Vorschrift verwendet worden.
Um drei Uhr dreißig in der Nacht des 5. Juni 1992 verschwand der Spitzentelepath des Sonnensystems von der Landkarte, die im Büro von Runciter Associates in New York City hing. Das brachte die Videophone zum Klingeln. Die Runciter-Gruppe hatte in den letzten zwei Monaten zu viele von Hollis’ Psis aus den Augen verloren; dieses ständige Verschwinden konnte man nicht länger hinnehmen.
»Mr. Runciter? Entschuldigen Sie bitte die Störung.« Der Techniker, der Nachtschicht hatte, hustete nervös, als der massige, ungepflegte Kopf von Glen Runciter auftauchte und den ganzen Bildschirm ausfüllte. »Wir haben eine Nachricht von einer unserer Inerten bekommen. Einen Augenblick.« Er hantierte aufgeregt an dem Gerät herum, das die eingehenden Nachrichten aufzeichnete. »Miss Dorn hat sie geschickt. Sie wissen ja, dass sie ihm bis Green River, Utah, gefolgt ist, wo …«
Verschlafen knirschte Runciter: »Ich kann nicht ständig im Kopf haben, welcher Inerte gerade hinter welchem Telepathen oder Präkog her ist.« Er strich sich mit der Hand seinen grauen Bürstenhaarschopf glatt. »Sparen Sie sich den Rest und sagen Sie mir nur, welcher von Hollis’ Leuten jetzt verschwunden ist.«
»S. Dole Melipone«, sagte der Techniker.
»Was? Melipone ist weg? Sie wollen mich wohl auf den Arm nehmen?«
»Nein, wirklich nicht. Edie Dorn und zwei weitere Inerte folgten ihm bis ins Motel ›Zur Fessel polymorpher Liebeserfahrung‹, einer unterirdischen Anlage mit sechzig Zimmern, wo man sich der Wünsche von Geschäftsleuten und ihrer Mädchen annimmt. Edie und ihre Kollegen glaubten zwar nicht, dass er aktiv sein würde, doch zur Sicherheit schickten wir einen von unseren eigenen Telepathen, Mr. G.G. Ashwood, hin, um ihn zu scannen. Ashwood stellte fest, dass Melipone ein Störschema im Kopf hat, und konnte daher nichts weiter tun. Er kehrte nach Topeka, Kansas, zurück, wo er im Augenblick eine neue mögliche Mitarbeiterin prüft.«
Runciter, der jetzt etwas munterer wurde, zündete sich eine Zigarette an. Dann saß er mit finsterem Blick da, das Kinn in die Hand gestützt, während der Rauch über den Bildschirm zog. »Sind Sie sicher, dass es Melipone war? Keiner scheint zu wissen, wie er eigentlich aussieht. Offenbar setzt er sich jeden Monat ein neues Gesicht auf. Wie steht es denn mit seinem Kraftfeld?«
»Wir haben Joe Chip gebeten, sich darum zu kümmern und die Ausschläge im Umfeld des Motels ›Zur Fessel polymorpher Liebeserfahrung‹ zu messen. Chip meldete, dass die Höchstwerte 68,2 blr-Einheiten telepathischer Aura erreichten, was unter allen uns bekannten Telepathen nur Melipone vermag. Also steckten wir dort für Melipone ein Markierungsfähnchen auf die Landkarte. Aber nun ist er – ist es – verschwunden.«
»Haben Sie mal auf dem Fußboden nachgesehen? Haben Sie hinter der Karte gesucht?«
»Es ist elektronisch verschwunden. Den Menschen, für den es stand, gibt es nicht mehr. Zumindest nicht auf der Erde. Und auch nicht, soweit wir feststellen können, in einer der Kolonien.«
Runciter sagte: »Ich werde meine verstorbene Frau befragen.«
»Es ist mitten in der Nacht. Die Moratorien sind alle geschlossen.«
»Nicht die in der Schweiz«, erwiderte Runciter mit einem verzerrten Lächeln, als ob ihm eine widerwärtige Flüssigkeit in den alten Hals geraten wäre. »Guten Abend.« Er schaltete ab.
Als Besitzer und Leiter des Moratoriums »Unsere lieben Anverwandten« nahm Herbert Schönheit von Vogelsang selbstverständlich immer früher als seine Angestellten die Arbeit auf. In diesem Augenblick, als das kühle, hallende Gebäude gerade erwachte, stand eine verwirrt aussehende Gestalt mit nahezu undurchsichtigen Brillengläsern, in einer scheckigen Pelzjacke und gelben, spitz zulaufenden Schuhen, wartend am Empfangstresen, eine Kontrollmarke in der Hand. Offenbar wollte der Mann einem Verwandten einen Feiertagsbesuch abstatten. Auferstehungstag – der Tag, an dem die Halblebenden öffentlich geehrt wurden – stand kurz bevor; der Ansturm würde bald beginnen.
»Guten Morgen«, wandte sich Herbert mit leutseligem Lächeln an ihn. »Kann ich die Nummer sehen?«
»Es handelt sich um eine ältere Dame«, sagte der Kunde. »Etwa achtzig, sehr klein und ziemlich verschrumpelt. Meine Großmutter.«
»Ich bin gleich wieder da.« Herbert ging zu den Kaltpackungsregalen hinüber, um die Nummer 3054039-B herauszusuchen.
Als er das Fach ausfindig gemacht hatte, prüfte er die beiliegenden Unterlagen. Danach verblieben nur noch vierzehn Tage im Halbleben. Nicht sehr viel, dachte er, während er den transportablen Protophasen-Verstärker in die durchsichtige Plastikumhüllung des Sarges drückte, einstellte und lauschte, auf welcher Frequenz sich die Gehirntätigkeit anzeigte.
Eine schwache Stimme kam aus dem Lautsprecher: »… und dann verstauchte Tillie sich den Knöchel und wir dachten, das würde niemals heilen. Sie führte sich ganz verrückt auf, wollte damit herumlaufen …«
Zufrieden zog Herbert den Verstärker wieder heraus und beauftragte einen seiner Angestellten, die Nummer 3054039-B in das Besuchszimmer zu bringen, wo die Verbindung zwischen dem Gast und der alten Dame hergestellt werden würde.
»Sie haben sie überprüft, nicht wahr?«, fragte der Kunde, während er die fälligen Poscreds bezahlte.
»Höchstpersönlich«, antwortete Herbert. »Sie funktioniert tadellos.« Er drückte auf einige Sensoren und trat dann zurück. »Einen frohen Auferstehungstag wünsche ich.«
»Danke.« Der Kunde nahm dem Sarg gegenüber Platz, dessen Kaltpackungshülle dampfte. Er steckte sich eine Hörkapsel ins Ohr und sprach mit fester Stimme in das Mikrophon. »Flora, kannst du mich hören? Ich kann dich bereits hören, glaube ich. Flora?«
Wenn ich einmal sterbe, sagte sich Herbert Schönheit von Vogelsang, werde ich meine Erben testamentarisch bitten, mich jedes Jahr einmal wieder ins Leben zurückzurufen. Auf diese Weise kann ich das Schicksal der Menschheit mitverfolgen. Allerdings würde das für die Erben ziemlich hohe Unterhaltskosten bedeuten – er wusste, wovon er sprach. Früher oder später würden sie rebellieren, seinen Körper aus der Kaltpackung nehmen und – Gott behüte – begraben.
»Begräbnisse sind etwas Barbarisches«, murmelte Herbert. »Überreste der primitiven Anfänge unserer Kultur.«
»Das stimmt«, pflichtete ihm seine Sekretärin an der Schreibmaschine bei.
Im Besuchszimmer unterhielten sich jetzt mehrere Kunden, in angemessener Entfernung voneinander, entrückt dem jeweiligen Sarg gegenübersitzend, mit ihren halblebenden Verwandten. Es war ein friedvoller Anblick – diese treuen Seelen, die regelmäßig kamen, um den Angehörigen ihre Ehre zu erweisen. Sie brachten Neuigkeiten mit, Nachrichten, was immer sich draußen in der Welt ereignet hatte. Sie munterten die betrübten Halblebenden für die kurze Zeit ihrer Gehirnaktivität auf. Und – sie zahlten an Herbert Schönheit von Vogelsang. So ein Moratorium war ein einträgliches Geschäft.
»Mein Vater scheint ein bisschen schwächlich.« Ein junger Mann sprach Herbert an. »Vielleicht hätten Sie einen Moment Zeit, ihn kurz durchzuprüfen. Das wäre wirklich sehr freundlich.«
»Natürlich«, sagte Herbert und folgte dem Kunden zu seinem Angehörigen. Die Daten für diesen Halblebenden wiesen nur noch ein paar Tage aus – was die nachlassende Gehirntätigkeit erklärte. Und doch … Herbert drehte den Protophasen-Verstärker so hoch es ging, und die Stimme des Halblebenden kam jetzt ein wenig stärker aus dem Kopfhörer. Er ist ziemlich am Ende, dachte Herbert. Es schien ihm verständlich, dass der Sohn die Unterlagen nicht zu sehen wünschte, nicht wahrhaben wollte, dass der Kontakt mit seinem Vater allmählich zu Ende ging. Deshalb sagte Herbert nichts. Er entfernte sich und überließ den Sohn dem Gespräch mit seinem Vater. Weshalb sollte er ihn darauf aufmerksam machen, dass er wahrscheinlich zum letzten Mal hier war? Er würde es ja doch früh genug selbst merken.
In diesem Moment fuhr ein Lastwagen an der Plattform auf der Rückseite des Moratoriums vor und zwei Männer in blassblauer Uniform sprangen herunter. »Atlas Interplan Transport und Lagerung«, las Herbert und dachte: Bringen sicher einen gerade verstorbenen Halblebenden oder transportieren einen ab, der seinen letzten Atemzug getan hat. Gemächlich schlenderte er zu der Rampe, um die Tätigkeit zu überwachen. Doch da wurde er von seiner Sekretärin zurückgerufen. »Herr Schönheit von Vogelsang, tut mir leid, dass ich Sie stören muss, aber ein Kunde bittet um Ihre Hilfe bei der Wiederbelebung eines Angehörigen.« Ihre Stimme bekam eine eigenartige Färbung, als sie hinzufügte: »Der Kunde ist Mr. Glen Runciter, der eigens aus der Nordamerikanischen Konföderation hierhergekommen ist.«
Ein hochgewachsener älterer Mann mit großen Händen kam schnellen Schrittes auf Herbert zu. Er trug einen mehrfarbigen Dacron-Waschanzug, eine gestrickte Schärpe und eine soßenfarbene Musselinkrawatte. Seinen massiven Kopf, der dem eines Katers ähnelte, reckte er vor, während er aus leicht hervorstehenden, runden, warmen Augen blickte. Sein Gesicht hatte einen geschäftsmäßigen Begrüßungsausdruck angenommen, eine wache...




