Buch, Deutsch, 172 Seiten, PB, Format (B × H): 140 mm x 220 mm, Gewicht: 256 g
Buch, Deutsch, 172 Seiten, PB, Format (B × H): 140 mm x 220 mm, Gewicht: 256 g
ISBN: 978-3-902647-09-2
Verlag: edition riedenburg e.U.
[Klappentext] Wir wussten ja überhaupt nichts von der übrigen Welt oder was außerhalb von Litauen los war, oder ob es überhaupt noch was anderes als Litauen gab. Jahreszahlen, Monate, Tage oder ein Zeitgefühl gab es für uns nicht. Wir waren halt keine Menschen mehr, nur noch Wolfskinder, die sich im Kreis drehten oder umherliefen. Manchmal sagte ich zu meiner Mutter: „Mutti, was soll bloß aus uns werden. Ich kann nicht lesen, nicht schreiben, nicht rechnen und nicht mehr richtig Deutsch sprechen.“ - „Ich weiß es auch nicht, wie das mal enden soll. Wären wir doch bloß alle krepiert, dann brauchten wir das nicht mehr miterleben.“ Weinend gingen wir oftmals durch die Gegend und waren am Ende, aber wir rafften uns immer wieder auf. *** [Hintergründe: Wolfskinder] Wolfskinder - Wie hungrige Wölfe schlugen sich nach den Wirren des Zweiten Weltkrieges deutsche Kinder durch Polen und Litauen, um sich selbst am Leben zu erhalten oder mit ihren Bettelzügen das Nötigste für ihre Familien zu finden. Von einer behüteten Kindheit war nichts zu spüren. Elend und Angst prägten die Entwicklung der Kinder. Am Ende des Zweiten Weltkriegs, nach der Einnahme Ostpreußens durch sowjetische Truppen 1945, fanden Kinder oft ihre Familien nicht mehr wieder oder Mutter und Vater waren verhungert, vertrieben oder ermordet worden. Sie waren auf sich allein gestellt. Die historische Forschung geht von etwa 25.000 solcher Kinder aus, die allein oder in kleinen Gruppen durchs Land zogen. Etwa 5.000 von ihnen gelang die Flucht nach Litauen. Dort wurden sie meist von den Litauern für einige Zeit mit versorgt. Doch nur kleine Kinder, die sich ihrem neuen Leben rasch anpassten, Litauisch lernten und ihren deutschen Hintergrund vergaßen, blieben dauerhaft in den Familien. Alle anderen wurden, nachdem man sie eine Zeitlang aufgenommen, aber auch als billige Arbeitskräfte eingesetzt hatte, weiter geschickt. Dies geschah vor allem aus der eigenen Not und der Angst heraus, von sowjetischem Militär gestellt zu werden. Dann drohte nämlich die Deportation der eigenen Familie. Viele Wolfskinder sind auf ihren Wanderungen ums Leben gekommen – verhungert, entkräftet, erschlagen. Andere blieben in Litauen, bauten sich dort ein Leben auf. Wieder andere – etwa 200 – siedelten nach Deutschland um. Oftmals mit dem Lebensmotto: ‚Sei froh, dass du lebst; vergiss, was war; schau nach vorn!’ Nur vorsichtig suchen sie nun nach den Spuren ihrer Identität. Das Zurückblicken aber ist es, was dieser ‚vergessenen Generation’ (Sabine Bode), die zwischen allen Fronten stand, helfen könnte. Das hat auch die Autorin, Frau Dorn, erkannt, wenn sie schreibt, sie habe sich mit diesem Buch alles ‚runtergeschrieben’. Heike Wolter (Lektorat) *** Mit einem Kommentar von PD Dr. Winfrid Halder Direktor der Stiftung Gerhart-Hauptmann-Haus, Deutsch-osteuropäisches Forum, Düsseldorf *** Die Fortsetzung dieses Buches, "Das Wolfskind auf der Flucht", ist im August 2010 ebenfalls im Verlag edition riedenburg erschienen (ISBN 978-3902647306): Dem Krieg entronnen bleibt sie auch in der DDR fremd und nutzt 1953 die Chance zur Flucht in die Bundesrepublik. Doch auch im „goldenen Westen“ ist das Leben als Flüchtling äußerst beschwerlich. Durch ihre zupackende Art gelingt es Ursula allen Schwierigkeiten zum Trotz, sich nach vielen harten Jahren eine glückliche Existenz aufzubauen. Das Wolfskind „Ulla“ kommt als junge Frau endlich wirklich in dem von ihr ersehnten Leben an.
Zielgruppe
Für alle an Zeitgeschichte interessierten Personen dringend empfohlen! Sehr gut als Klassenlektüre (ab 16 Jahre) geeignet im Rahmen der Besprechung der Nachkriegsgeschichte
Weitere Infos & Material
Prolog
Neunzehnhundertzweiundneunzig 9
Hintergründe: Wolfskinder
Eine Einführung von Heike Wolter (Lektorat) 13
Ich war ein Wolfskind aus Königsberg 17
Woher ich komme 19
Kinderwelt in Königsberg? 21
Kleine Fluchten 23
Im Krieg 25
Leben im Dunkel 28
Bleiben oder gehen? 31
Die Russen kommen 33
Wie Viehzeug getrieben 35
Ins Ungewisse 37
Auf dem Treck 41
Zurück nach Königsberg 46
Vogelfrei 48
Wo ist Oma? 51
Überleben 52
Betteltouren 55
Die Geschichte mit dem Hund 60
Hungerwinter 1946 63
Nur weg von hier 65
Nach Hause 69
Mit Mutter von Königsberg nach Kaunas 72
Raus aufs Land 75
Nimm dich in Acht! 77
Zwischen Sehnsucht, Angst und Trauer 81
Einsiedelei 83
Immer nur weiter 85
Über Litauen 89
Ein kleines Menschenkind 91
Tägliches Drama 93
Herberge gegen Arbeitskraft 95
Ein wenig Sonne 98
Ewig im Kreis? 101
Womit haben wir das nur verdient? 104
Endlich eine Bleibe 109
So was wie Alltag 111
Wiedersehen und Abschied 115
‚Du Germansky?’ 119
Russland, Polen oder Deutschland? 122
In der Heimat? In der Fremde? 132
Lager Siebenborn 134
Gerade das Allernötigste 136
Ein Neuanfang 140
Suchdienst München:
‚Herbert Wedigkeit sucht seine Eltern.’ 143
Epilog – Was danach geschah. 149
Die Last der Erinnerung
Ein Kommentar von PD Dr. Winfrid Halder 153
Nun wurde es draußen auch immer kälter, und wir dachten, wenn wir uns jetzt in Gegenden um Königsberg rummachen, dass wir da vielleicht auf den Feldern von bearbeiteten Äckern was Essbares finden würden. Wir zogen los mit gutem Glauben, wurden aber bitter enttäuscht, denn vor uns waren schon Hunderte da, die auch glaubten, was zu finden. Es war wie leergefegt. Also der Kampf ums letzte Überleben war angesagt. Mein Bruder Hans ging mal morgens los und kam am Abend nicht zu uns zurück. Meine Mutter war ganz aufgeregt. Wir konnten auch nichts machen, weil wir ja nicht wussten, in welche Richtung von der Stadt er gegangen war, und so warteten wir die ganze Nacht in der dunklen Stube ab. Gegen Morgen hörten wir schwere Schritte und ein klägliches Gewimmere. Gleich an der Stimme wussten wir, dass es unser Bruder war. Unsere Mutter lief zu ihm, und sie sah, dass er die ganzen Knie kaputt und blutig hatte. Auch im Gesicht war er blutverschmiert. Er war auf dem Verschiebebahnhof betteln gewesen, und da hatten russische Soldaten ihn zusammengeschlagen. Als er wieder zu sich gekommen war, hat er sich über Gleise stolpernd auf den Weg zu uns gemacht mit furchtbaren Schmerzen an Knien und Gesicht. Der kleine Kerl war mit seinen noch nicht neun Jahren sehr tapfer.
Ich hatte mich auch einige Straßen weiter mal mit einer Russenfrau angefreundet. Das war eine Soldatin in hohem Rang. Die hatte dort eine kleine Wohnung mit anderen Soldaten. Es war am Steindamm. Da es bei uns ja nur eine Wasserstelle am Polizeirevier gab, holte ich auch mal für sie zwei Eimer Wasser und das alle paar Tage. Es war ein Fußweg von über einer halben Stunde. Meine Russischkenntnisse wurden daraus auch immer besser. Ich sprach schon ganz gut, und wir mussten uns damit auch überall behaupten, um durchzukommen in dem harten Alltagsleben. Irgendwann war ich wieder einmal bei dieser Frau und sah auf ihrem Bett die Uniform von ihr liegen, da guckte so halb aus ihrer oberen Jackentasche ein Rubelschein raus. Ich dachte, das musst du haben, egal wie, um auf dem Schwarzmarkt ein Stück Brot für uns alle zu kaufen. Sie war im anderen Zimmer, und ich packte die Gelegenheit beim Schopf, nahm den Schein, ging dann noch zu ihr rein und fragte, ob ich nun noch Wasser holen sollte. Sie sagte Ja, und ich nahm die Eimer und zog freudig los. Ich lief erst zu meiner Mutter, übergab ihr das Geld und holte das Wasser. Wieder zurückgekommen, übergab ich das Wasser, die Russenfrau gab mir ein Stück Brot wie immer, und ich lief nach Hause. Das ist eben Not, und die hält vor nichts zurück.