Elmiger Die Holländerinnen
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-446-28517-0
Verlag: Hanser, Carl
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 160 Seiten
ISBN: 978-3-446-28517-0
Verlag: Hanser, Carl
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Dorothee Elmiger, geboren 1985 in der Schweiz, lebt als freie Autorin und Übersetzerin in New York. Ihre Bücher 'Einladung an die Waghalsigen' (2010), 'Schlafgänger' (2014) und 'Aus der Zuckerfabrik' (2020) wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt, für die Bühne adaptiert und vielfach ausgezeichnet.
Autoren/Hrsg.
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I.
Man stellt sie vor als bedeutende Erzählerin, als eine der wichtigen Stimmen dieser Zeit, die mit ihrem frühen Zyklus erstmals für Aufsehen gesorgt und sich spätestens mit dem Versroman endgültig etabliert habe, und als man ihr dann ein Zeichen gibt, tritt sie ans Pult, einen Stoß Papier in der Hand, eine kleine Frau, kleiner jedenfalls als erwartet, sie berührt das Mikrofon mit den Fingern ihrer Linken und bedankt sich für die Einladung, sie schätze sich sehr glücklich, sagt sie, heute und in den kommenden Wochen hier sprechen zu dürfen. Ihr ursprünglicher Plan sei es gewesen, einiges über die Prämissen und Methoden ihrer Arbeit zu sagen, über die Texte und Positionen, an denen sie sich orientiere, die ihr Denken im Laufe der Jahre begleitet hätten, ergänzt von einigen wenigen biografischen Anmerkungen und zwei, drei Sätzen zu ihrem Verhältnis zu den richtungsweisenden Schulen und Traditionen, um anschließend dann in ihr Werk einzuführen. Aber obwohl sie genau dies in den vergangenen Jahrzehnten wiederholt getan habe und obwohl sie glaube, schreibend und sprechend durchaus eine kohärente poetische Theorie entwickelt zu haben, sei ihr nun jede einigermaßen klare Bestimmung ihrer Arbeit, jede sichere Feststellung ihr Schaffen betreffend unmöglich geworden. Tag für Tag, sagt sie, habe sie sich in den letzten Wochen vor ihren Laptop gesetzt und an diesem Vortrag gearbeitet, aber über Nacht sei ihr stets bedeutungslos geworden, was sie tags zuvor aufgeschrieben habe, und einer gespensterhaften Penelope gleich habe sie das am Vortag Gewobene immer wieder aufgetrennt. Stattdessen hätten sich ihr Bilder aufgedrängt, Hieroglyphen, unvermittelt wie Blitzlichter: Frauen mit Aschekreuzen auf der Stirn, ein Toter in der U-Bahn-Station, die Arme und Beine wie zufällig von sich geworfen, die Erinnerung an vier Reiterinnen mit verhüllten Gesichtern, die ihr im Februar vor zwei Jahren in einer abgesperrten Querstraße in New Orleans entgegengekommen seien. Auf ganz ähnliche Weise habe sich zuvor bereits ihr eigentliches Schreiben aufgelöst, eigenhändig habe sie es, wenn man so wolle, in immer kleinere Teile zerlegt: Der Text, jeder Versuch eines Textes habe sich fragmentiert, sei zunehmend formlos geworden.
Selbstverständlich, sagt sie, könne man dies nun im Licht der gegenwärtigen Verhältnisse betrachten, Verhältnisse, die fraglos und im vielfachen Sinne schlecht, ja tödlich seien, man könnte sagen, der Text selbst verweigere sich unter dem Eindruck des rapiden Sterbens, und wenn alles so rasant auf sein unwiderrufliches Ende zuschlittere, erübrige sich der sinnhafte Text, erübrige sich der Hinweis auf das Schöne, das Mögliche und so fort, aber dies sei in ihren Augen eine allzu simple Auffassung, die auch von einer gewissen Hybris zeuge. Sie selbst zumindest habe sich den Text in den Jahren, die sie schreibend verbracht habe, nie als , sondern vielmehr als Ausdruck einer irren, gellenden Lebendigkeit gedacht, einer Gegenwart, von der sie selbst ja ganz sei. Der Text als Notiz aus dem Chaos, dem Mahlstrom des Lebens — jahrelang habe Bruegels über ihrem Schreibtisch gehangen, und wie er, Bruegel der Ältere, habe sie sich für das Enzyklopädische, das Karnevaleske, die Gleichzeitigkeit der Dinge interessiert: hier die Kostümierten, die Spieler und Trinker, der Faschingsprinz mit dem gebratenen Ferkel am Spieß und dort die Leprösen mit ihren Glöckchen, ihren Krücken, ein Blinder mit ausgestochenen Augen, Nonnen im schwarzen Habit, am Boden zerbrochene Eier.
Wie dem auch sei, sagt sie, nun, da sich ihr Schaffen in einem Prozess der Auflösung befinde — ein Prozess, der unter Umständen doch folgerichtig sei und den sie vielleicht nur deshalb nicht hinnehmen könne, weil er für sie ein berufliches, ein finanzielles Problem bedeute —, nun, da sie also diese Auflösung erfahre, könne sie, das liege auf der Hand, auch keine Theorie ihres Schaffens mehr vorlegen, sondern höchstens, so habe sie zunächst geglaubt, eine Theorie der Auflösung, des Abbrechens, des Auseinanderfallens, aber dieser Vorgang folge in Wahrheit keinen Regeln, er habe kein System, es handle sich um ein geradezu bartlebyisches und widersetze sich folglich, dies habe sie in den vergangenen Wochen vor ihrem Laptop feststellen müssen, auch der Theorie.
Trotzdem, sagt sie, wäre es ihr falsch erschienen, ihre Zusage im letzten Augenblick doch noch zu widerrufen, den Kopf, wie es heiße, und sich ausgerechnet jetzt, in diesem auszuschweigen, auch wenn sie immer wieder versucht gewesen sei, genau dies zu tun. Stattdessen habe sie sich schließlich vor wenigen Tagen, und ganz gegen ihre eigenen Grundsätze, dazu entschlossen, über ihren letzten, nie zu Ende gebrachten Text zu sprechen — ein Wust an Notizen, Fragmenten, die Relikte einer Reise, die sie nun zum ersten Mal in die Hände nehmen und ins Licht halten wolle.
Im Januar vor drei Jahren, sagt sie, habe sie der Anruf eines Theatermachers erreicht, dessen Name ihr zwar ein Begriff gewesen, dem sie aber bis dahin selbst nie begegnet sei. In Interviews und Gesprächen habe er sich oft auf Arendt bezogen, auf Arendt, auf Adorno und einige französische Soziologen, deren Werk sie selbst stets nur gestreift habe. Er baue an einer großen , habe er oft erklärt, es gehe ihm um nichts weniger als einen neuen, einen hypnotischen Realismus, wie ihn eben nur das Theater, dieser Ort der ständigen Doppelung, schaffen könne, wo Wirklichkeit und Fiktion, wie es ein bekannter deutscher Dramatiker so treffend beschrieben habe, aufeinanderträfen und in einer »heiligen Kollision« ihre Fassung verlören. Er sitze gerade an den Vorbereitungen zu einem neuen Stück, habe der Theatermacher damals im Januar am Telefon gesagt, es handle sich um die , ein schwieriger, tragischer Stoff, den er sich zurzeit als eine Art vorstelle, als Referenz auch auf Herzog auf Coppola, und sie selbst sei in diesem Moment mit eingeschalteten Warnblinklichtern an den Straßenrand gefahren, um ihn besser hören zu können. Was ihm vorschwebe, sei eine groß angelegte Recherche, so sei er fortgefahren, eine Recherche, die nur in der Wiederholung, der Nachbildung der Ereignisse geschehen könne, ja, es gehe, wie stets am Theater, darum, die Dinge zu erfahren Er habe ihre ja ihr ganzes Mythen-Projekt über die Jahre hinweg mit Interesse verfolgt, habe er erklärt, und wolle sie deshalb als Autorin für sein Vorhaben gewinnen, vorausgesetzt, sie könne reisen und sei bereit, zehn oder vierzehn Tage vor Ort zu verbringen, , wo man das benötigte im Kollektiv erarbeiten wolle. Sie verstehe, habe sie gesagt, obwohl sie ihm aufgrund der schlechten Verbindung nur mit Mühe habe folgen können, sie habe sich Bedenkzeit ausbedungen und auf der Rückseite eines Tankstellenbons einige Namen und Stichwörter notiert, die ihr nun, drei Jahre später, ganz und gar chiffrenhaft erschienen. Als sie kurze Zeit später wieder losgefahren sei, habe es heftig geschneit, und weit vor ihr, zu ihrer Linken, habe sich dann ganz plötzlich die gewaltige weiße Salzhalde des Kalireviers Werra erhoben.
Als sie an jenem Abend in das Haus am Frankfurter Stadtrand, das sie zu jener Zeit bewohnt habe, zurückgekehrt sei und ihr dunkles Arbeitszimmer betreten habe, sei es ihr für einen Moment so vorgekommen, als gehörten die vom orangen Licht der Straßenlaterne beleuchteten Bücher, die Zeitschriftenstapel und leeren Wassergläser auf einmal einer weit zurückliegenden Vergangenheit an — als würde sie die Requisiten, das Schreibgerät einer anderen, einer irgendwie betrachten. Sie habe damals, sagt sie, an einer Geschichte des Auges gesessen, die lange Zeit den Arbeitstitel getragen habe. Nachts, über den Arbeitstisch im Frankfurter Häuschen gebeugt, habe sie Texte zu den halluzinatorischen Bildern und Visionen der Seherinnen, den Schauungen der Muttergottes, den studiert: Es sei von Gestalten mit hellen Mänteln, mit quasi fluoreszierenden Umhängen die Rede gewesen, der Erlöser sei auf einer weißen Stute vorübergeritten, die Jungfrau habe sich im April 1970 in einem Wohnzimmer in Queens gezeigt, sie habe zwischen einem Ahorn und einer Schierlingstanne gestanden,...