E-Book, Deutsch, 496 Seiten
Reihe: Ullstein eBooks
Eyssen Gefährlicher Lavendel
17001. Auflage 2017
ISBN: 978-3-8437-1517-1
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Der dritte Fall für Leon Ritter
E-Book, Deutsch, 496 Seiten
Reihe: Ullstein eBooks
ISBN: 978-3-8437-1517-1
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Remy Eyssen, geboren 1955 in Frankfurt am Main, arbeitete als Redakteur u.a. bei der Münchner Abendzeitung. Anfang der Neunzigerjahre entstanden seine ersten Drehbücher. Bis heute folgten zahlreiche TV-Serien und Filme für alle großen deutschen Fernsehsender im Genre Krimi und Thriller. Mit seiner Krimireihe um den Gerichtsmediziner Leon Ritter begeistert er seine Leserinnen und Leser immer wieder aufs Neue und landet regelmäßig auf der Bestsellerliste.
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2. KAPITEL
»Was wissen die schon wieder, das wir nicht wissen, merde!«, Thierry Zerna knallte die Zeitung auf den Tisch. Der Chef der Gendarmerie Nationale sah lauernd in die Runde seiner Mitarbeiter. Betretenes Schweigen. Im engen Besprechungsraum war es heiß und stickig.
»Die Typen vom Var-Matin, die saugen sich so einen Scheiß aus den Fingern«, sagte Lieutenant Masclau. »Das bedeutet gar nichts.«
»Gar nichts? Ich bin heute Morgen um Viertel nach sieben vom Staatsanwalt angerufen worden. Der wollte den Namen der Geliebten von mir hören.« Zerna war sauer. Wenn es darum ging, die Lorbeeren zu kassieren, standen Kripo und Staatsanwaltschaft in Toulon immer in der ersten Reihe. Aber kaum gab es irgendein Problem bei den Ermittlungen, dann wurde die Gendarmerie Nationale dafür verantwortlich gemacht.
»Wir haben bereits mit allen in Frage kommenden Personen gesprochen«, sagte Lieutenant Begot. »Die Aussagen liegen Ihnen vor in den Anhängen 16, 25 und …«
»Ja, ja, ja«, unterbrach Zerna und winkte ärgerlich ab, »hab ich gelesen.«
Pascal Begot war ein unerträglicher Klugscheißer, der für drei Monate bei der Gendarmerie in Le Lavandou mitarbeitete. Ein Neffe des Kripochefs in Toulon, der Polizeiarbeit und polizeiliche Strukturen im »ländlichen Bereich« kennenlernen sollte, wie es in dem Schreiben an Zerna hieß. Im Klartext: Pascal Begot sollte sich ein paar schöne Wochen in Le Lavandou machen, bevor er von seinem Onkel auf eine prestigeträchtige Stelle bei der Kripo gesetzt wurde. Ein Punkt, der Commandant Zerna ganz besonders schmerzte, denn er spekulierte seit Jahren auf einen Job bei der Kriminalpolizei in Toulon, bisher vergeblich.
»Ein Tipp aus der Praxis, Lieutenant: Es gibt immer irgendwo irgendjemanden, mit dem man noch nicht gesprochen hat.« Zerna lächelte mit falscher Liebenswürdigkeit und sah seine Stellvertreterin Capitaine Isabelle Morell an, die neben ihm saß. Isabelle war eine attraktive Person. Ein Stückchen größer als Zerna, was der Polizeichef aber nicht als Hindernis ansah, im Gegenteil. Isabelle war dunkelhaarig und strahlte mit ihrem schmalen Gesicht und den hohen Wangenknochen eine gewisse Exotik aus. Und sie war geschieden. Aber dummerweise war sie an Zerna nicht im Geringsten interessiert.
Isabelle hatte längst bemerkt, wie bei Zerna die kleine Ader an der linken Schläfe anschwoll. Ein sicheres Zeichen dafür, dass einer seiner berüchtigten Wutanfälle bevorstand.
»Ich habe den Artikel auch gelesen, Patron. Reine Spekulation, wenn Sie mich fragen«, sagte sie.
»Und die Blumen?«, Zerna zog sich die Zeitung heran, die auf dem Besprechungstisch lag. »Hier«, er tippte auf den Artikel und las vor, »… erinnert sich Blumenhändlerin Monique Jospin (36), dem verschwundenen Richter zur fraglichen Zeit einen Strauß Mimosen verkauft zu haben …« Zerna sah seine Stellvertreterin vorwurfsvoll an und hielt die offenen Hände vor sich wie Christus vor seinen Jüngern. »Und wir, wir stehen da wie die Trottel.«
Commandant Thierry Zerna befürchtete ständig, dass er nicht mit dem angemessenen Respekt behandelt wurde, nicht von seinem Team und schon gar nicht von den Beamten der Kriminalpolizei in Toulon. Das lag nicht nur daran, dass er knapp 1,72 Meter groß war, was er durch Cowboystiefel mit besonders hohen Absätzen zu kompensieren versuchte. Zerna hatte einen Minderwertigkeitskomplex, gegen den er mit ständig neuen Bodybuilding-Programmen ankämpfte. Dass Isabelle seine Annährungsversuche geflissentlich übersah, nahm er inzwischen als Schicksal hin. Aber warum sie sich statt für ihn für diesen Rechtsmediziner aus Deutschland entschieden hatte, blieb ihm ein Rätsel.
»Ich habe bereits mit Madame Jospin telefoniert«, sagte Isabelle beschwichtigend. »Richter Lambert hat öfter Blumen bei ihr gekauft. Und die waren jedes Mal für seine Frau. Ob er allerdings an dem fraglichen Tag Blumen gekauft hat, daran konnte sie sich nicht mehr erinnern.«
»Hier erzählt sie aber was ganz anderes.« Zerna tippte ungeduldig auf den Artikel.
»Sie sagt, die Leute von der Zeitung hätten ihr das in den Mund gelegt«, antwortete Isabelle. »Auf der anderen Seite«, sie warf einen Blick auf das Foto in der Zeitung, »Richter Lambert ist ein attraktiver Mann und im besten Alter.«
»Was wollen Sie damit sagen?«, fragte Zerna.
»Es würde mich nicht überraschen, wenn er tatsächlich eine Geliebte hätte.«
»Na, sehr gut, dann finden Sie das heraus.« Zerna sah seine Mitarbeiter herausfordernd an.
»Zwischen hier und Aix liegen mehr als 100 Kilometer«, meinte Masclau.
»Genau 121 Kilometer«, korrigierte Begot, dessen Uniform aussah, als hätte er sie gerade aus der Reinigung geholt.
»Voilà, dann legen Sie gleich mal los, Begot«, sagte Zerna zu dem Praktikanten, der ihn irritiert ansah.
»Aber wie soll ich …«, Begot blickte hilflos zu Isabelle.
»Lambert fährt einen weißen BMW X4. Das ist ein ziemlich auffälliges Auto«, sagte die stellvertretende Polizeichefin. »Vielleicht steht der Wagen ja öfter vor einem fremden Haus und ist jemandem aufgefallen. Vielleicht hat Lambert mal ein Ticket wegen Falschparkens bekommen. Oder für zu schnelles Fahren. Wenn ja, wo war das? Alles könnte ein Hinweis sein.«
»Aber vielleicht steht Lambert ja auch am Montag wieder in Toulon im Gericht«, sagte Zerna, der es nicht schätzte, wenn jemand anderer als er selbst Ideen entwickelte. »Vielleicht hatte er ja einfach nur die Schnauze voll von Job und Familie und hat sich eine kurze Auszeit gegönnt.« Zerna sah in die Runde. »Dann möchte ich nicht zu denen gehören, die seine Geliebte haben auffliegen lassen.«
»Und wenn es doch eine Entführung war?«, fragte Isabelle.
»Bringen Sie mir einen Hinweis, dass wir es mit einem Verbrechen zu tun haben«, sagte Zerna, »und ich setze die ganze Kavallerie in Gang. Aber bis dahin bleiben wir diskret und ermitteln im Hintergrund. Genau so, wie das Justizministerium es wünscht. Sonst noch was?«
»Die Leute vom Festkomitee wollten mit uns die neue Route für den Umzug besprechen«, sagte Masclau.
»Bitte, Masclau, wir haben jetzt wirklich andere Probleme als den verdammten Blumenkorso«, blaffte Zerna.
Wenige Minuten später saß Isabelle in ihrem Büro. Es hatte sie einen Anruf bei der Gendarmerie Municipale gekostet, und sie wusste, dass sie bei der Idee mit den Strafzetteln nicht weiterkam. Nicolas Lambert schien nicht nur ein braver Familienvater, sondern auch ein vorbildlicher Verkehrsteilnehmer zu sein. Es gab nur einen einzigen Eintrag im Polizeicomputer: Der Richter hatte letztes Jahr vergessen, die obligatorische Versicherungsmarke hinter seine Windschutzscheibe zu kleben.
Es klopfte, und Moma stand schon in der Tür, bevor Isabelle »Entrez« gesagt hatte.
»Da will dich jemand sprechen. Hast du einen Moment?«, fragte er.
Lieutenant Mohammad Kadir, von allen Moma genannt, hatte algerische Eltern. Geboren war er allerdings in Marseille, und in seiner Seele war er französischer als die meisten Franzosen.
»Du weißt doch selber, was hier los ist«, sagte Isabelle.
Moma hielt die Tür nur einen Spaltbreit geöffnet und sah über seine Schulter, so als wollte er einen ungebetenen Gast zurückhalten.
»Madame Simon will dich sprechen, sie hat gesagt, es wäre dringend.«
»Ich weiß schon, der Blumenkorso«, seufzte Isabelle genervt. »Sag ihr, sie soll morgen früh vorbeikommen. So gegen neun Uhr.«
In diesem Moment drängte eine Frau an Moma vorbei, die sich ihre Sonnenbrille in die blonden Haare geschoben hatte. Josette Simon, Leiterin des Fremdenverkehrsamtes, war 34 Jahre alt und eine äußerst attraktive Erscheinung. Sie trug eine blassblaue Bluse, auf deren Brusttasche das Signet von Le Lavandou eingestickt war, die beiden Walfluken. Darüber hatte sie eine blaue Strickjacke gezogen. Der beigefarbene Rock und die Pumps zeigten den Geschmack einer Frau, die wusste, wie man sich elegant kleidete, ohne aufdringlich zu wirken.
»Verzeihen Sie bitte, wenn ich hier so hereinplatze, Capitaine Morell, aber ich würde Sie gerne sprechen.« Sie sah Isabelle an und machte eine kleine Bewegung mit den Augen in Richtung Moma. Ein kurzer Moment des Schweigens entstand, in dem die Besucherin ihren Mut zu verlieren schien. »Ich kann natürlich auch später … ich meine, wenn Sie jetzt keine Zeit …«
»Nein, bitte bleiben Sie«, Isabelle spürte sofort, dass es etwas gab, was die sonst so selbstbewusst auftretende Frau ernsthaft beunruhigte.
»Wollen Sie einen Kaffee, Madame Simon, ich brauche nämlich dringend einen.«
»Danke, gerne«, antwortete die Besucherin. »Sehr nett von Ihnen.«
»Könntest du uns bitte zwei Kaffee holen, Moma?«, sagte Isabelle.
»Versteh schon, geht klar.« Moma schloss die Tür und verschwand.
»Bitte«, sagte Isabelle und wies auf den Besucherstuhl. »Setzen Sie sich doch.«
»Es gibt da etwas, das ich Ihnen sagen möchte …« Madame Simon sah den Var-Matin auf Isabelles Schreibtisch liegen und zögerte. »Ich sehe, Sie haben die Zeitung schon gelesen.«
Isabelle beobachtete die Besucherin. Madame Simon hatte ihre Sonnenbrille abgenommen und hielt sie mit beiden Händen fest. Dabei wich sie Isabelles Blick aus.
»Hat es mit Monsieur Lambert zu tun?«, fragte Isabelle mit...