E-Book, Deutsch, 400 Seiten
Freund Die Kathedrale der Vögel
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-608-12479-8
Verlag: Klett-Cotta
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 400 Seiten
ISBN: 978-3-608-12479-8
Verlag: Klett-Cotta
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Wieland Freund, geboren 1969, wurde für seine fantastischen Romane, darunter Krakonos und Die unwahrscheinliche Reise des Jonas Nichts, mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Mit Rodrigo Raubein und Knirps, sein Knappe hat er ein Fragment Michael Endes vollendet. Zuletzt erschien in der Hobbit Presse sein Roman Dreizehnfurcht, der auf der Shortlist des Wetzlarer Phantastikpreises stand. Der Autor lebt in Berlin.
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Prolog
Enna auf Nyth
Der alte Smud starb im Morgengrauen, so friedlich, wie er sein Leben gelebt hatte. Über der Klippe ging gerade die Sonne auf, und Enna blieb so lange an seinem Bett sitzen, bis der erste Sonnenstrahl seinen Weg über das saftig grüne Gras bis in das Fenster von Smuds Hütte fand.
Enna hörte die Möwen schreien und unterhalb der Klippe das heranrollende Meer, und als sie an Smuds Bett trat und dem Toten ein letztes Mal über die eingefallenen Wagen strich, hörte sie, wie hinter ihr die Tür aufging. Mette kam herein. Den längsten Teil der Nacht hatten sie gemeinsam an Smuds Bett gewacht.
»Es ist vorbei, ja?«, fragte Mette.
Enna nickte. Jetzt war viel zu tun. Am besten lief Mette gleich zu den Nachbarn hinüber. Jemand sollte das Grab ausheben, und Enna und Mette mussten den Toten waschen. Es gab kaum Holz auf Nyth, also würden sie ihn in ein Laken nähen. Die paar Schafe, die Smud besessen hatte, würden sie unter den Nachbarn verteilen, und irgendwann würde sich vielleicht auch jemand finden, der die Hütte übernähme. Hede und This hatten einen großen, schlaksigen Sohn, der bald so weit wäre. Vielleicht fand er jenseits des Sunds eine Frau, die Nyth mochte, obwohl die Insel nicht mehr als ein grasbewachsener Felsen war, Heimat für weniger als dreißig Menschen, zehn Dutzend Schafe und die Vögel, von denen nicht einmal Munk wusste, wie viele es waren.
Nach Munk würde sie auch sehen müssen, dachte Enna. Aber ganz sicher wusste er es schon. Munk wusste immer, wenn es zu Ende ging. Mette und allen anderen war Munk unheimlich deshalb. Deshalb und wegen der Vögel.
Enna schlug die Decke zurück, unter der der alte Smud gestorben war. »Holst du mir Wasser?«, bat sie Mette.
Später lief Enna über einen der Schafpfade auf den Vogelfelsen zu. Der Wind war kühl, aber die Sonne schien warm und das Meer ringsum blitzte so blank und blau wie der Himmel.
Meist ahnte Enna, wo ihr Bruder steckte. Munk war unergründlich, aber seine Gewohnheiten waren es nicht. Vielleicht hatte er sogar die Nacht auf dem Vogelfelsen verbracht, im kalten Licht der Sterne, während unter ihm im steilen Fels die Lummen, Tölpel und Möwen schliefen.
Oft lag er bäuchlings am Rand der Klippe und sah in die schwindelerregende Tiefe hinab, bis hinunter zum schmalen, glattgewaschenen Strand, über den die Wellen schäumten. Manchmal landete dann eine vorwitzige Möwe auf seinem Kopf, und er ließ sie gewähren, als wäre er kein siebzehnjähriger Junge, sondern ein uralter, vom Wasser geformter Fels.
Enna strich sich durchs Haar und wischte sich die feuchten Hände an den Hüften ab. Dort saß Munk im Gras, die dünnen Arme auf den Knien, und sah reglos aufs offene Meer hinaus, gleich neben ihm die jungen Käuze, die in einer Höhle unterhalb der Grasnarbe geboren waren und seither so taten, als wäre Munk einer von ihnen. Sie würden verschwinden, sobald Enna näher kam, und dann würden sie sie misstrauisch aus dem Halbdunkel ihres Baus mustern, aus Augen, die so groß und rund und gelblich waren wie die sonderbaren Augen Munks.
»Munk?«
Die Käuze brachten sich in Sicherheit. Der Wind wühlte in Munks rabenschwarzem, fedrigem Haar. Er wendete den Kopf und sah zu ihr auf. Er war blass und in seinen Augen sah sie den Schrecken. Munk hatte den alten Smud gerngehabt. Er war ihm oft zur Hand gegangen.
Enna hockte sich neben ihn und zusammen sahen sie hinaus aufs grenzenlose Meer. »Es war sehr friedlich, weißt du«, sagte sie nach einer Weile.
Munk nickte bloß. Er machte selten viele Worte.
»Hast du ihn gesehen?«, fragte Enna. »Heute Nacht?«
Er nickte wieder. »Kurz bevor die Sonne aufging«, sagte er. »In den schwarzen Felsen.«
Munk träumte, seit er ein kleiner Junge war, von diesen Felsen.
»Und?«, fragte Enna.
»Er sah gut aus.« Munks Blicke folgten einem Tölpel. Für einen Augenblick stand der Vogel beinahe reglos im Wind. Dann verschluckte ihn die Klippe. »Nicht so wie zuletzt, weißt du?«
»Ja.« Enna schlang die Arme um die Knie. Jetzt saß sie da wie Munk. »So ist er mir auch vorgekommen, als es zu Ende ging.«
Sie hatte so oft versucht, sich die schwarzen Felsen vorzustellen, von denen Munk träumte. Die Felsen und den flachen Strand, der sich von den Felsen bis zur Wasserlinie erstreckte. Über die Jahre hatte sie Munk alle möglichen Einzelheiten seiner Traumwelt abgepresst, von den bizarren Formen der Felsen bis hin zu den flachen Tümpeln, in denen das warme Wasser stand. Und doch hatte nur er, nicht sie ihre toten Eltern dort gesehen. Es war sein erster Felsentraum gewesen.
Damals war Munk noch schreiend aufgewacht. Mittlerweile träumte er ruhig und still von den Toten. Heute jedoch war etwas anders. Es kam Enna vor, als verberge er etwas vor ihr.
»War da noch was, Munk?«, fragte sie. »Hast du in deinem Traum noch etwas anderes gesehen?«
Er schüttelte den Kopf, schnell und ungewohnt heftig. Dann streckte er die Hand nach einer neugierigen Möwe aus und strich ihr mit der Fingerspitze sanft über das weiche Brustgefieder. Die Möwe ließ es wie selbstverständlich geschehen.
An der Küste nannten sie Munk den Vogeljungen – Delwir, der Händler, der alle paar Wochen aus Porth übersetzte und Geschichten mitnahm und brachte, hatte ihn oft in einer Wolke aus Möwen gesehen oder unten am Wasser mit einem Strandläufer im Schoß. Wenn der Händler das nächste Mal kam, würde Enna ihm sagen, dass auf Nyth jetzt eine Hütte leer stand. Delwir würde es weitererzählen.
»Wir begraben ihn am Mittag«, sagte sie zu Munk. Er trauerte um Smud. Bestimmt war er deshalb noch verschlossener als sonst.
Als die Sonne an ihrem höchsten Punkt im Süden stand, versammelte sich ganz Nyth auf dem Friedhof mit Blick auf den Sund. Der Wind war aufgefrischt und blies vom offenen Meer, er griff nach Ennas Haar und den Kleidern der Beerdigungsgäste, und das Laken, in das sie den Toten eingenäht hatten, flatterte, als würde sich der alte Smud noch regen.
Wie es auf Nyth Brauch war, hatten sie den Toten auf die Tür seiner Hütte gelegt. Vier der Männer trugen ihn zur frisch ausgehobenen Grube. Enna und Mette gingen gleich hinter den Trägern, und Mette trug einen runden Stein, auf den sie Smud geschrieben hatte.
Auch Ennas und Munks Eltern hatten damals einen solchen Stein bekommen. Munk hatte ihn am Strand ausgegraben und Enna hatte ihre Namen draufgeschrieben. Manchmal, wenn es sehr viel geregnet hatte, kam sie mit Pinsel und Pechfarbe her, um die Buchstaben auszubessern. Dann erzählte sie den Eltern flüsternd, dass ihr Kuckuckskind gedieh, dass er den halben Sommer eine verunglückte Lumme gesund gepflegt hatte und fleißig mit den Schafen half, auch wenn das mit den Schafen gar nicht stimmte, weil Munk meist seiner eigenen Wege ging.
Enna sah sich um, ob er endlich zum Trauerzug aufgeschlossen hatte, aber Munk hing noch immer ein Stück zurück. Er war mal wieder zu spät am Vogelfelsen aufgebrochen. Ständig vergaß er die Zeit.
An Stricken ließen die Männer Smuds Überreste ins Grab hinab. Niemand sprach, aber es weinte auch keiner: Smud hatte ein langes Leben gehabt. Er war ein Teil der Insel gewesen und würde es bleiben. Gras zu Gras. Fels zu Fels. Der Wind strich über alle und alles.
Schließlich trat Mette vor und setzte den Stein. Dann nahm sie eine Handvoll Erde und streute sie ins Grab. Es gab keinen Priester auf Nyth und der aus Porth kam nie herüber. Wer wollte und konnte, murmelte selber ein Gebet. Mette bewegte stumm die Lippen.
Enna warf die zweite Handvoll Erde. Dann trat einer nach dem anderen ans Grab, bis nur noch Munk fehlte. Er bückte sich nach dem Aushub und wog die Erde in der Hand. Dann streckte er den Arm aus und ließ die Brocken in die Grube regnen. Nur sah er gar nicht in das Grab hinab. Stattdessen wanderte sein Blick über die Insel, bis er plötzlich an Enna hing.
Enna erschrak. So hatte Munk sie noch nie angesehen. Es war ein abgrundtiefer Blick. »Amen«, sagte sie schnell, damit der Moment vorüberging.
Warum war er so verdammt anders als sonst? Am liebsten hätte sie ihn in ihre kleine Hütte gezerrt und zur Rede gestellt. Manchmal machte sie seine Rätselhaftigkeit wütend.
»Schaut mal! Schaut doch!« Hede hatte laut gerufen. Sie zeigte aufs Meer.
Alle Augen gingen zum Sund. Da kam ein einmastiges Boot mit gesprenkeltem Segel. Unwillkürlich zog Enna Munk zu sich herüber. »Wer ist das? Kann jemand was erkennen?«
Smuds Grab stand noch offen, doch die Beerdigung war vorbei. Ganz Nyth hastete über den Friedhof, zur Klippe über dem Sund. Hede hatte ihre Röcke gerafft und lief allen voran. Munk schien zu zögern, aber Enna nahm ihn an der Hand.
Ein Boot. Ein Boot mit einem Segel. Kein Boot aus Nyth und der Händler ließ sich herüberrudern. Delwir konnte es nicht sein.
Bald standen sie alle an der Klippe, so wie eben an Smuds Grab. Das Boot kam zügig näher, das gesprenkelte Segel bauschte sich. Enna erkannte die ersten Gestalten.
»Das sind Greifenkrieger!«, rief Hede.
Munk, dachte Enna, hatte noch nie einen Greifenkrieger gesehen. Sie drückte seine Hand. Es war nicht bloß Aufregung und Sorge. Plötzlich hatte sie Angst. Noch nie waren Greifenkrieger nach Nyth gekommen. Sie kamen ja kaum jemals bis Porth. Hier im äußersten Westen war der Greif kaum mehr als eine Legende. Niemand auf Nyth hatte ihn, seine Burg oder die Stadt, über der sie thronte, je gesehen. Die Burg konnte ebenso gut ein Märchenschloss sein und der Greif ein Märchenkönig.
Und doch war da dieses Boot. Jetzt erkannte auch Enna die gefiederten Helme und die langen Federmäntel. Sie zählte die Männer und kam auf fünf. Einer im Bug, drei in der...




