Fritsch Zwischen mir und mir
1. Auflage 2013
ISBN: 978-3-943876-22-2
Verlag: Periplaneta
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Sommerferien in der Psychiatrie
E-Book, Deutsch, 160 Seiten
Reihe: Edition Blickpunkt
ISBN: 978-3-943876-22-2
Verlag: Periplaneta
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Die sechzehnjährige Christin freut sich auf ihre Sommerferien. Doch nach einem kurzen Gespräch mit einer Psychologin ist plötzlich alles anders. Christin wird als manisch-depressiv diagnostiziert und statt Strandurlaub mit Freunden heißt es: Jugendpsychiatrie. In einer sehr persönlichen Erzählung wird der Lesende mit der Frage konfrontiert, wo Individualität aufhört und Krankheit anfängt. Und ob nicht hinter den meisten Persönlichkeitsstörungen eher ein Trauma steckt, das mit Pillen gar nicht therapierbar ist.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Kapitel 1:
Die Diagnose
„Ich war zehnmal in der Psychiatrie. Viermal in der Geschlossenen. Und das in neun Jahren. Eigentlich war ich meistens weg, als Christin klein war.“ Mama räusperte sich. „Jedes Mal andere Medikamente, jedes Mal andere Nebenwirkungen, dann Elektroschocks. Jahrelang hat nichts geholfen. Aber Christins neunter Geburtstag war der letzte, den sie mit mir in der Psychiatrie feiern musste. Seitdem habe ich die richtigen Medikamente und bin weitgehend stabil, nicht?“ Mama schaute mich an. Ich nickte, lächelte und schwieg. „Und jetzt? Jetzt macht Christin die gleichen Stimmungsschwankungen durch wie ich.“ Meine Mutter schob ihre Brille zurecht. „Erst wollte ich das nicht wahrhaben. Habe immer gehofft, dass ich ihr die Krankheit nicht vererbt habe. Aber die Gene sind einfach zu stark. Ich bin manisch-depressiv, mein Vater ist es, sein Vater war es und es gibt noch mindestens drei andere Fälle in unserer Familie.“ Die Psychotante, sie hieß Frau Kant, nickte. „Diese familiäre Vorbelastung ist tatsächlich nicht zu unterschätzen. Auch die Symptomatik nicht, die Sie geschildert haben. Es spricht leider wirklich alles dafür, dass Christin manisch-depressiv ist.“ Ich wischte mir durchs Gesicht. Was geschah hier? Diese Tante kannte mich gerade mal eine halbe Stunde und konnte sich schon ein Urteil über mich bilden? Und dann fing sie an, von Medikamenten zu sprechen und Mama hörte nicht auf, ihre beschissene Krankengeschichte zu erzählen. Dass sie schon mit zwölf Jahren depressive und manische Phasen hatte. Dass die Krankheit aber erst mit siebenundzwanzig festgestellt wurde, kurz vor meiner Geburt. Dass ihr viel erspart geblieben wäre, hätte man die Krankheit so früh entdeckt wie bei mir. Dass sie zeitweise mit ihrer Rolle als Mutter überfordert war, unfähig, sich richtig um ihre Kinder zu kümmern – wegen der Krankheit. Dass sie mit dreiunddreißig für drei Monate in die Geschlossene kam – wegen der Krankheit. Dass sie danach aus ihrem geliebten Beruf als Krankenschwester rausgemobbt wurde – wegen der Krankheit. Dass sie gezwungen war, eine Abfindung zu unterschreiben, mit Anfang dreißig in Frührente zu gehen – wegen der Krankheit. Dass ihre Freunde nichts mehr von ihr wissen wollten – wegen der Krankheit. Dass andere Kinder nicht mit ihren Kindern spielen durften – wegen der Krankheit. Dass sie – Die Psychotante wollte mit mir allein sprechen. Mama verließ nur sehr widerwillig den Raum, fragte mich mehrfach, ob das für mich auch in Ordnung sei. Frau Kant lächelte müde. „Wie geht es dir, wenn du von den Sachen hörst, die deine Mutter erlebt hat?“ „Scheiße.“ Ich starrte an die Uhr über der Topfpalme. „Ich will nicht, dass mein Leben genau so wird wie ihres. Aber es wird doch eh alles so kommen.“ „Ich verstehe, dass ihre Krankengeschichte dir Angst macht. Aber wenn du jetzt schon die richtigen Medikamente bekommst und die richtige Therapie, dann muss dein Leben nicht so werden.“ „Was denn bitte für Medikamente?“ „Das kann ich ambulant leider nicht entscheiden.“ „Was heißt das?“ „Dass du um eine stationäre Behandlung nicht herumkommen wirst. Die Stimmungsschwankungen, die du beschreibst, sind sehr stark. Und wir müssen da dringend eingreifen, bevor alles noch viel schlimmer wird. Ich werde nachher gleich auf einer Station anrufen und versuchen, so schnell wie möglich einen Platz für dich zu bekommen.“ „Das geht nicht. Ich habe Sommerferien. Ich fahre nächste Woche mit meinen Freunden in den Urlaub. Die Zugkarten sind schon gekauft.“ „Das ist ja eine schöne Idee, aber deine Gesundheit geht vor. Du bist zurzeit sehr durcheinander, Christin, und das wird immer schlimmer werden, wenn wir nicht schnellstens etwas dagegen unternehmen. Dich in deinem Zustand allein mit deinen Freunden wegfahren zu lassen … Nein. Das ist viel zu gefährlich.“ Gefährlich. Was? Ich? „Es ist nun mal eine psychische Krankheit. Eine schwere psychische Krankheit. Und du brauchst Hilfe. Dringend Hilfe.“ Und dann sagte sie noch: „So schlimm ist das in der Kinder- und Jugendpsychiatrie auch gar nicht. Ist ein bisschen wie Ferienlager.“ Dreißig Minuten und mein ganzes Leben zerstört. Psychiatrie! Ich lief aus dem Zimmer, wollte nur weg. Draußen stand meine Mutter. Als sie mich sah, rief sie mir etwas zu, ich hörte nicht hin, sondern rannte los. Die Haare vorm Gesicht, Kapuze auf, Blick nach unten. Ich bin gefährlich – haut alle ab! Zuhause verkroch ich mich in meinem Zimmer. Das hier war ein schlechter Film. Ich war unfreiwillig in die Hauptrolle gerutscht – in die der sechzehnjährigen Manisch-Depressiven. „ICH GEH DA NICHT HIN! DAS KÖNNEN DIE VERGESSEN!“ Ich lachte hysterisch, heulte, schlug gegen die Wand. „DAS MACH ICH NICHT! Nein!“ Ich ließ mich auf meinen Computerstuhl fallen. Biss mir in die Hand, um mich zu beruhigen. urlaub wird wohl nix. ich muss in die klapper. 8 wochen… Ich tippte wütend auf die Tasten. Meine Mutter kam zu mir. Setzte sich auf den Fußboden. Ihr blauer Kajal war verlaufen. Sie wischte an ihren Augen herum. Meine Mutter sagte etwas zu mir. Es rauschte an mir vorbei. Unreal. Genau wie diese ganze Situation. Das hier war ein Spiel, eine Verschwörung gegen mich. Ich war ,Game Over’, musste direkt ins Gefängnis. Psychiatrie, Knast – zwei Namen für die gleiche Scheiße. Das Telefon klingelte. Ich steckte es unter die Bettdecke. Es hörte nicht auf, also nahm ich es doch. Ein lauter Schluchzer, zu mehr war ich nicht im Stande. „Chris? Hallo – bist du dran?“ Sina, meine beste Freundin. Ich lachte geistesgestört, wie ich ja war. „Hey Chris? Chris? Was ist denn los?“ Ich presste das Telefon fester an mein Ohr. Musste etwas sagen. Konnte nicht. „Ich wollte eigentlich wissen, wie das Gespräch mit dieser Psychiaterin war …“ Schweigen. „Chris? Was ist denn nur? Sag es doch einfach – so schlimm kann es ja nicht sein.“ „Ist es aber …“ „Ja? Was denn, Chris?“ Besorgt klang sie. Ein letzter Lacher, dann: „Ich muss in die Psychiatrie … Ich raff das alles nicht.“ „Ach scheiße … Warte, ich komm zu dir. Ich zieh mich nur schnell an. Warte!“ „Nein – nein, nein!“ Sie hatte schon aufgelegt. Scheiße! Sie durfte mich nicht so sehen! Nicht so, verdammt. Ich wischte mir die Tränen aus den Augen. Es war zwecklos. Immer wieder kamen neue. Ich steckte mir eine Zigarette in den trockenen Mund. Feuerzeug dran. Meine Hand zitterte. Asche fiel auf den Boden. Es klingelte. Ich zuckte zusammen. Schritte eilten zur Tür. Zwei Stimmen. Meine Mutter begrüßte Sina. Dann stand sie in meiner Tür. Sina. Sie lächelte unsicher. Ich drehte mich weg, warf meine Kippe aus dem Fenster. Sina nahm mich in den Arm. „Mensch Chris.“ Ich wandte mich von ihr ab. Lief im Zimmer hin und her. Hin und her. Sina lies sich auf das Sofa fallen. Schaute mir irritiert zu. „Du bist ziemlich durcheinander, was?“ Ich lief weiter durch den Raum. Sina stellte sich vor mich. „Du setzt dich jetzt aufs Bett und beruhigst dich erstmal.“ Ich gehorchte, schnappte meine gelbe Decke, zog sie mir bis zur Nase. Atmete ein paar Mal tief durch, starrte auf das Spiel Therapy auf meinem Bücherschrank und begann zu reden. Sina hörte sich alles in Ruhe an, mal runzelte sie die Stirn, mal lachte sie ungläubig. Ihre grünen Kulleraugen schauten mich nicht an. Ihre dunkelblonden Haare waren noch nass – sie hatte sich nicht mal Zeit zum Föhnen genommen. „Mensch, Chris, wenn das so ist, dann ist es eben so. Geh dahin und dann helfen sie dir. Und wenn du Tabletten bekommst … was soll’s? Hauptsache dir geht’s wieder gut.“ „Nein. Ich komme auch so klar. Außerdem will ich in den Urlaub.“ „Ja, das ist wirklich scheiße mit dem Urlaub. Aber du kannst doch noch dein ganzes Leben Urlaub machen. Danach. Wenn das alles so krass ist und das sogar eine Psychiaterin sagt, dann ist es wahrscheinlich das Beste, wenn du da hingehst.“ Ich biss mir auf die Lippe. „Und nach ein paar Wochen bist du doch wieder draußen. Und dann geht es dir besser.“ Sie lächelte. „Außerdem ist das doch eine interessante Erfahrung. Wer kann schon sagen, dass er seinen Sommer in der Psychiatrie verbracht hat?“ „Ich bin ja ein richtiger Glückspilz.“ Ich kaute genervt auf meinem inzwischen geschmacklosen Kaugummi herum. „Ach scheiße, was soll‘s. Ich werd schon hingehen.“ Eine Woche blieb mir zwischen Gespräch und Einweisung. Ich ging nicht mehr zur Schule. Verbrachte viel Zeit vor meinem PC, um einen Film für die bevorstehende Hochzeit meiner Schwester zusammenzuschneiden. Die Szenen hatte ich schon gedreht. Nichts Spektakuläres, Witze, erzählt von Familienmitgliedern. Aber dieses Projekt war mein Projekt. Ja, der Urlaub fiel flach, aber diesen Film würde ich fertigstellen, dieser Film war das Einzige, was mich noch reizte. Mein Plan für die Sommerferien. Trotz der Klapse. Deshalb versuchte ich so viel wie möglich zu schaffen, solange es noch ging. Ich saß vorm Computer, fluchte laut, wenn etwas nicht gleich funktionierte, und wenn etwas funktionierte, gratulierte ich mir ebenso laut selbst. Die Arbeit lenkte mich ab. Wenn...