E-Book, Deutsch, 315 Seiten
Geiger Nach Vollmond
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-347-75441-6
Verlag: tredition
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ligurische Zeiten
E-Book, Deutsch, 315 Seiten
ISBN: 978-3-347-75441-6
Verlag: tredition
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Das Buch NACH VOLLMOND - LIGURISCHE ZEITEN hat Ruth-Esther Geiger über Jahre in dem italienischen Ferienhaus ihrer Familie geschrieben. Hier beobachtet, träumt, sinniert und schreibt sie seit gut 40 Jahren. Wenn sie in Italien ist, fallen ihr so viele Szenen und Bilder ein, dass sie sie am laufenden Meter festhält, später in Hamburg sichtet und einige davon verarbeitet. Und dabei wandert sie immer die Gegenwart verknüpft mit ihrer Vergangenheit ab. Auch der ihrer Kindheit und Jugend in Berlin. Ruth-Esther Geiger arbeitete immer selbstständig: als Journalistin für Radio, Zeitschriften und Fernsehen und als Buchautorin. Seit 2007 als Dozentin für amerikanische Studenten, als Coach für Menschen in Lebensumbrüchen und in der Berufsorientierung. Nebenbei hat sie weiter eigene Bücher und immer auch (auto)biografische Texte in Sammelbänden veröffentlicht. Erst jetzt im Alter findet sie den Ton für ihr eigenes Memoir-Schreiben. Die Autorin kommt aus einer Großfamilie, ist in einem Haus in Berlin-Wannsee mit prägender Großmutter, Hausfrau-Mutter, Psychiater-Vater und vier Geschwistern großgeworden. Das Familienleben ein nicht unproblematisches Fadengewirr, aus dem viele Geschichten gesponnen sind. Auch in das Ligurische Zeiten - Buch wirkt es ein. Wegen jugendlicher Rebellion gegen das konservative Elternhaus kam sie ins Internat nach Timmendorfer Strand, legte kurz noch ihr Abitur in Berlin ab um dann in Hamburg zu leben, zu studieren und die wilden 70er Jahre zu verbringen: linke Politik, Selbstbefreiung, Frauenbewegung mit Kampf gegen den Paragraphen 218, freie Liebe und Pazifismus. Seit den 80er Jahren engagierte Journalistin für Literatur, Frauenemanzipation, Justizfälle und Lebensgeschichten. Später Mutter einer Tochter und noch später unkonventionelle Großmutter von drei Enkelsöhnen: Fabio, Giovanni und Linus Paolo. Auch sie kommen im VOLLMOND-Buch vor. Heute als biographisch orientierte Coach arbeitend, lebt sie in einem Hamburger Wohnprojekt für aktive Menschen 60plus mit ihrem neuen Lebensgefährten. Jeder in seiner eigenen Wohnung, versteht sich.
Weitere Infos & Material
Ewige Pionierin
Heute Nacht hat meine Mutter sehr viel gehustet. Im Sommer ist das nicht ungefährlich. "Ja, ich habe auch schon eine Woche lang so blöde Halsschmerzen“, sagt sie. „Ich gurgele nachher mal, das hilft bestimmt!“
„Was hast du denn für Gurgelzeug mit? Seit wann gurgelst du denn so etwa“, frage ich möglichst beiläufig.
„So eine Woche schon. Das ging in Köln los. Hab‘ mich wohl bei Kurt angesteckt, der hatte ’ne Grippe von der Dienstreise aus Russland mitgebracht. Ich nehme mein Vademecum.“
Ich beschloss, mit meiner sehr zart gewordenen Mutter zur deutschen Ärztin nach Imperia zu fahren, die ich sowieso schon lange kennen lernen wollte. Der Husten musste lieber bekämpft werden, ehe er zur Bronchitis wurde. Eine Woche Halsschmerzen ohne Linderung kam mir übermäßig lang vor, auch wenn man keine Hypochonder ist. „Na gut“, kam es aus dem Badezimmer, „wenn du sie mal kennen lernen willst. Ich habe ja meine Versicherungskarte dabei.“
Meine beiden Eltern haben Berufe gehabt, die mit dem Körper zu tun hatten. Sie war vor der Heirat Krankenschwester gewesen, er bis zu seinem frühen Tod Arzt. Auch mein Vater, dachte ich, als ich meine Mutter mit nacktem Oberkörper im Zimmer der deutschen Ärztin auf der Untersuchungsliege sitzen sah, hat sich um seinen Körper einen Schnurz, wie er sagen würde, gekümmert und lässig mit Medikamenten an sich selbst herumexperimentiert. Lieber das, als sich Kollegen auszusetzen. Er war nie als Patient in einem Krankenhaus. Sein Vater sei unter dem Messer gestorben, bei einer simplen Gallenoperation.
Mein Vater war mit 56 Jahren, zum ersten Mal seit seiner eigenen Geburt nach einem ‚Herzschlag‘, wie es hieß, im Krankenhaus gewesen, und das nur noch in der Pathologie.
Meine Mutter sitzt jetzt wie ein Vögelchen mit den Flügelenden im Schoß vor der rundlichen Ärztin mit dem freundlichen Lachen, die ihren Schlund beguckt und ihren Hals befühlt. Der Schlund ist sehr stark gerötet. Als ihr die Brust abgehört wird, atmet sie fast schüchtern. Brav lässt sie sich wie ein junges Mädchen aus anderen Zeiten die Antibiotika verschreiben, niemand merkt, dass sie selbst einmal Krankenschwester war. Obwohl sie dann, wieder angezogen, erzählt, dass sie in Berlin Diakonie-Schwester war. Sie kommt darauf, weil die Ärztin durch ihre Herkunft aus Berlin und ihren von dort vertrauten Humor, ihre ungekünstelte Art, ihr Vertrauen erweckt hat. Ihr Mann sei auch Arzt gewesen, sagt Rose jetzt fast nebenbei. Ich merke, dass dies ein Versuch ist, als Kollegengattin vielleicht gratis behandelt zu werden, wie es früher üblich war. Aber die Ärztin reagiert nicht darauf, und Mutter muss doch die 100 Euro zunächst selbst bezahlen, da ihre Krankenkasse erst im Nachhinein den Großteil der Rechnung begleicht. Die Frau Doktor ist angetan von der alten Dame, das merke ich sofort, sie nimmt jetzt alle Daten und Medikamente im Computer auf, weil sie hört, dass die Familie ein Haus oberhalb eines der alten Dörfer in der Gegend hat, die sie gut kennt. Wahrscheinlich wird die alte Berlinerin aus Wannsee noch öfter kommen.
Während der Datenaufnahme, die die beiden spielend ohne mich bewerkstelligen und dabei Hinweise auf Berlin damals und heute austauschen und dann bald auch – wie immer – über das preußische Damenstift geredet wird, in dem meine Mutter jetzt lebt, sinniere ich darüber, warum das Körperliche, nicht nur das Kranke, in einer Familie, deren Mutter eine solch körperliche, sinnliche Frau, eine Ex-Krankenschwester war, so wenig eine Rolle gespielt hat. Es stimmt nicht, denke ich, es hat eine große Rolle gespielt, aber es wurde negiert oder gering geschätzt.
Es musste Drogen geben, Depressionen, Verwirrungen, Abtreibungen, frühen Kindstod, Promiskuität und Herzschlag, Altersdemenz und angedeutete Manien, vielleicht weil es abgedrängt und niedergehalten oder auch niedergemacht wurde. All das Körperliche, das Sinnliche, das Erotische, aber auch das seelisch Ungeordnete, das psychisch Randständige, das in der Literatur für meinen Vater so interessant, im Leben aber so bedrohlich war, musste verdrängt werden. Und das in einem Haus, in dem der Vater nicht nur Neurologe, sondern auch Psychiater war.
Mit Macht brach sich das Seelische und Psychische durch die Körper und die psychischen Leiden Bahn. Und gleichzeitig war da eine fast verrückte Kraft, dem Scheiternden Form zu geben, der Einsamkeit einen individuellen Ausdruck, im Niedergang etwas neu Definiertes zu suchen. Diese Kraft zum Neuanfang, zum ganz anders machen, zum noch einmal anders von vorn, haben alle fünf Kinder, die teilweise längst wieder Eltern geworden sind, von ihren Eltern und Großeltern erhalten. Am meisten von ihrer Mutter allerdings, der ewigen Pionierin, denke ich vor mich hin, während meine Mutter sich ankleidet. Diese Kraft habe ich von der süßen Verdrängerin geerbt, der Frau, die „Is doch piepe, ganz egal, wurscht“ genauso gern sagt, wie „Ist das nicht wun-der-bar?!“
„Natürlich habe ich gut geschlafen – dafür lege ich mich hin!“ Oder „Ich bin doch nicht aus Zucker!“ sind auch solche Worte meiner Mutter. Ihr Leitspruch ist der von Erich Kästner, was ich erst sehr spät erfahren habe, ich weiß gar nicht, ob unsere Mutter die Herkunft kennt: Es gibt nichts Gutes, außer man tut es! Aber auch etwas Anderes, im Alter immer deutlicher zusammengefasst: „Ich bin eben für Harmonie.“
Das hieß, denke ich, während ich ihr den Reißverschluss des langen orangefarbenen Leinenkleides, das sie sich von mir für den Stadtgang geborgt hat, zuziehe: Streit ist mir zuwider, ich beiße die Zähne zusammen, bis das Gewitter sich verzogen hat und ich endlich wieder mit der Sonne strahlen kann. Ich ziehe vielleicht vorübergehend ein bisschen den Kopf ein – und versuche, besonders liebenswert zu dem zu sein, der gerade das schlechte Wetter macht und die schlechte Laune, die ich eigentlich hasse, verbreitet.
Ich selbst kenne diese Haltung sehr gut, sie ist tief in mich hinein versenkt und träufelt sich wie Gift in Wiederholungssituationen in meine Venen.
Eins fällt mir hier sinnierend wieder ein, beim Autofahren an der Riviera-Küste entlang, nachdem wir in der Apotheke vor der Siesta gerade noch das Antibiotikum erhalten haben: Du bist untreu, meine schöne Mutter, bei aller Harmoniesucht untreu denen gegenüber, denen du eben noch alles recht machen wolltest, untreu denen gegenüber, die sich gerade sicher und geliebt bei dir fühlen, weil du sie so annimmst, wie sie sind, untreu nämlich, wenn ein anderer, dir wichtigerer Mensch auftaucht. Dann ist dieser dran, dann wird er sich bald als derjenige fühlen, der ganz so, wie er ist, von dir akzeptiert und überschwänglich angenommen wird. Der andere ist dann schnell vergessen, schlagartig unwichtig. Es scheint daher zu kommen, dass du es eben nur den anderen, nicht dir selbst recht machen willst. Es nicht anders gelernt hast. Nicht anders glaubst, geliebt zu werden. Und das gibst du bis heute weiter, das irritiert nun auch schon unsere Kinder an dir. Wann warst und bist du eigentlich wirklich aufgehoben und du selbst?
Wann warst du du selbst? Darüber werde ich wohl noch beim Tod meiner Mutter grübeln.
Ich muss sie noch zu ihrem Testament animieren, so wohl sie sich gerade fühlt, gerade hier in Italien, beschließe ich. Da haben wir Ruhe. Sie schiebt es immer wieder vor sich her, dabei will sie es. Ich habe selbst mein eigenes Testament in diesem Urlaub geschrieben, ich will es meinem Mann zuschicken, ehe wir Frauen die zweitägige Autofahrt nach Hause antreten. Mein Wille geschehe, geht es mir durch den Kopf. Wenigstens beim Testament!
Mein Wille geschehe. Von einem Onkel in mein Poesiealbum die Verse geschrieben: Ich will, das Wort ist mächtig, spricht‘s einer ernst und still – Die Sterne reißt‘s vom Himmel, das eine Wort: Ich will! Ganz leise gesprochen, aber innerlich laut – beim Schreiben, das ich von klein auf deshalb in der verrückten, lauten, lebendigen Großfamilie so brauchte und liebte. Dann gehörte ich mir. Es war der einzig mögliche Rückzug und der Ort meines stillen Eigensinns. Alles erschuf ich hier selbst, nichts war verbraucht und besetzt, alles voller Verheißung! Später erfuhr ich, dass dieser Großonkel Nazi war und auch im Inneren blieb. Seine Tochter ist es bis heute und sitzt für ihre Überzeugung sogar im Gefängnis.
„Weißt du, man wird doch jedes Jahr weniger“, sagt meine Mutter, als wir durch Riva Ligure, einen kleinen Ort ganz nah am Meer fahren. „Wenn ich denke, dass ich hier noch vor einem Jahr mit der Brasilianerin Samba getanzt habe, sie halbnackt und ich in Hosen. Wie die mich einfach mit sich riss bei diesem Straßenfest am Meer! Und heute gehe ich mit diesem Stock.“
Das war nicht vorigen Sommer, sondern vor zwei Jahren, ich war dabei, ja, ich weiß. „Das war schon klasse! Aber es war vor...




