E-Book, Deutsch, 488 Seiten
Geisel / Bittermann Die Gleichschaltung der Erinnerung
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-86287-236-7
Verlag: Fuego
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
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E-Book, Deutsch, 488 Seiten
ISBN: 978-3-86287-236-7
Verlag: Fuego
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Eike Geisel, am 1. Juni 1945 in Stuttgart geboren, lebte als freier Autor, Kurator, Filmemacher und Übersetzer in Berlin. Er starb am 6. August 1997.
Autoren/Hrsg.
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Jenseits des Vorurteils
Rückblick
»Tout comprendre c’est tout pardonner«
(altes Sprichwort)
»Wenn ein Deutscher nicht versteht,
verzeiht er das einem Ausländer nie.«
(revidierte Fassung)
I.
Der gängige Begriff des Vorurteils ist selbst eines. 1961 schrieb Horkheimer: »Seit dem Ende des Krieges war in Deutschland viel vom Vorurteil die Rede. In anderen Ländern lange vorher. Wenn die Herabsetzung der Menschen wegen ihrer nationalen Herkunft, der Religion oder Hautfarbe erforscht und angegangen wurde, geschah es unter dem Titel des Vorurteils auch dann, wenn nicht bloß Apathie und soziale Benachteiligung, sondern der auf schwächere Gruppen gerichtete Haß, die organisierte Verfolgung, entfesselte Mordlust das Thema war. Der Euphemismus, der Gebrauch des harmlosen Wortes verdankt sich der Scheu, das Furchtbare zu nennen, ähnlich wie man gewaltsame Tötung durch gesellschaftliche Ordnungskräfte gleichsam beschwichtigend als Hinrichtung bezeichnet. Schließlich meint ein so gebrauchtes Wort nichts anderes mehr als die krasse Wirklichkeit, deren Bild es mildern sollte. Die unheimliche Bedeutung schlägt auf es zurück.«
Horkheimers Bemerkungen »Über das Vorurteil« erschien damals in der (vom 20. Mai 1961) wenige Tage vor der endgültigen Rehabilitierung des ehemaligen Nazi-Beamten und nachmaligen bundesrepublikanischen Staatssekretärs Globke und wenige Tage bevor der Bundestag mit einer einzigen Gegenstimme ein Gesetz verabschiedete, wonach Richtern und Staatsanwälten der Umstand verziehen wurde, daß sie bis 1945 Mitglieder einer kriminellen Vereinigung gewesen waren, wenn sie sich auf eigenen Wunsch zum Pensionär befördern ließen.
Gut zwei Jahrzehnte später waren sich die Bürger der Bundesrepublik dann untereinander als Deutsche so nahegekommen, daß das Projekt der umfassenden Ehrenrettung der eigenen Vergangenheit in Angriff genommen werden konnte, ein Unternehmen, welches schließlich mit der in Bitburg und Belsen offiziell beglaubigten Lüge von der Austauschbarkeit der Opfer mit den Tätern seinen logischen Abschluß fand. Dieser innenpolitische Wandel durch Annäherung, dessen Geburtsstunde mit dem Selbstmord des politischen Protests und einigen wirklichen Toten zusammenfiel, wird gegenwärtig zwar täppisch, aber um nichts weniger erfolgreich fortgesetzt als unter dem früheren Kanzler, dem die Kritiker des jetzigen nachtrauern wie manche Alte dem Führer.
Die Wiederkehr des Kollektivbewußtseins waren jedoch Grenzen gesetzt; nach außen unüberwindbar standen ihm die Resultate seiner früheren Veranstaltungen entgegen, und so mußte es sich ersatzweise mit der Wiedervereinigung mit der deutschen Geschichte begnügen. Im Verlauf dieser wechselseitigen Annäherung fand gewissermaßen eine bundesweite Familienzusammenführung statt, welche wiederum den einzelnen Angehörigen neuen Lebensmut einflößte. Wo vordem die Generationen zutiefst entzweit waren, da verstanden nun die Jungen die Alten; wo sich der Geschlechterkampf unter der Parole »Frau sein, das ist das Grundrisiko« mühsam dahinschleppte, da wurde mit der Entdeckung eines geschlechtsübergreifenden Grundrisikos, nämlich deutsch zu sein, die Frauenbewegung noch einmal gerettet, und vom Tarifpartner zum Gefolgschaftsmitglied war es ohnehin nur ein kleiner Schritt. Selbst die Friedensbewegung drohte wie die Alternativszene an innerer Auszehrung und an zänkischen Querelen einzugehen, als schließlich ein staatliches Sanierungsprogramm in Gestalt von zahlreichen gemeinschaftsstiftenden Gedenktagen dem darniederliegenden Patienten wieder auf die Beine half. Als erfolgreichster Arzt am Krankenbett der Volksgemeinschaft hat sich in jüngster Zeit der Bundespräsident erwiesen, dessen Reden über das neue Nationalgefühl Kinder wie Greise, Männer wie Frauen, Linke wie Rechte in eine gedämpfte Entzückung geraten lassen, wie man sie aus der Gruppentherapie kennt. Nach der Rede Weizsäckers zum 8. Mai gab es in der Bundesrepublik weder die alten Parteien, noch die neuen Betroffenen, sondern nur noch die ganz neuen Ergriffenen. Sogar die DKP war davon hingerissen, daß der Bundespräsident neben den Soldaten der deutschen Armee auch die umgebrachten Kommunisten unter die Opfer rechnete, und schickte Weizsäcker ein Glückwunschtelegramm. Und Habermas, der es einmal besser wußte, bescheinigte der Ansprache des Bundespräsidenten, in der nicht von der Wahrheit, sondern von der Wahrhaftigkeit die Rede war, sie sei eine »der wenigen politischen Äußerungen ..., die der Herausforderung zwölf plus vierzig Jahren« gerecht geworden sei. Weil die Botschaft manches brachte, wurde vielen etwas gebracht: den Mitläufern, daß sie damals in gutem Glauben und mit den besten Absichten auf eine verbrecherische Clique hereingefallen seien, in deren Händen die Ausführung der Verbrechen gelegen habe, daß also der Völkermord nicht auch ein mordendes Volk zur Voraussetzung gehabt habe; den Friedensfreunden und den Heimatbewegten, daß Friedenssehnsucht und Heimatliebe identisch und damit der Pazifismus eine nationale, der Revanchismus andererseits eine philanthropische Sache sei; den Frauen, sie hätten durch »ihr Leiden, ihre Entsagung und ihre stille Kraft in den dunkelsten Jahren das Licht der Humanität vor dem Erlöschen bewahrt«. Diese nachträgliche Verleihung des Mutterkreuzes an alle deutsche Frauen hatte Kohl schon Jahre zuvor besorgt, ohne diese Geste mit verhunztem Rilke zu erläutern: »Meine Hochachtung unseren Müttern, die ein Leben lang ihre Pflicht getan haben, ohne zu protestieren«, sagte er 1982 in einem Interview mit . Nach Weizsäckers Rede zur 40-jährigen Wiederkehr des Kriegsendes wurden in Anlehnung an Tucholskys Diktum, daß Satire eine Grenze nach oben habe, daß sich ihr beispielsweise Buddha entzöge, die Höhenlinien der politischen Satire neu gezogen. Eine Kabarettistin bekannte im Fernsehen gerührt, in jene Regionen sei der Bundespräsident nun aufgestiegen.
Nicht als Buddha, sondern als eine Art Baghwan wurde Wochen später der Bundespräsident von den Teilnehmern des evangelischen Kirchentags umjubelt, nachdem er erklärt hatte, als Bürger dieses Landes sei man zuerst Deutscher und dann ein Mensch. Bei dieser Eucharistiefeier des neuen Nationalismus fanden die politischen Bewegungsformen der letzten Jahre ihren vollendeten Ausdruck: die dort ihr neues Idol feierten waren nicht die fanatisierten Anhänger irgendeiner Bewegung oder himmelten einen grimassierenden Führer an, sondern sie bildeten eine gedopte Gemeinschaft; sie bedurften keines Agitators, sondern eines hypnotischen Weichmachers. Als Evangelist des Nationalgefühls fügte Weizsäcker den Zehn Geboten noch ein deutsches hinzu: »Mein Deutschsein ist also kein unentrinnbares Schicksal, sondern eine Aufgabe«.
Worin diese Aufgabe besteht, das machte der Hinweis des Bundespräsidenten auf den »naturgegebenen Sachverhalt, deutsch zu sein«, deutlich: wie zu jeder historischen Einigungsbewegung in Deutschland gehört auch zur neuen deutschen Identitätsfindung die Abgrenzung, die Einheit aufgrund des bestimmten Unterschieds, der ein naturgegebener sein soll. Folgt man dieser Logik, dann unterschieden sich beispielsweise Deutsche und Franzosen wie Affen und Känguruhs. Da aber jeder weiß, daß die Franzosen keine Känguruhs, sondern Menschen sind, ist offenbar der einzige naturgegebene Unterschied der zwischen einem Deutschen und einem Menschen. Jeder Patriotismus in Deutschland wäre ohne diese Unterscheidung vollkommen bedeutungslos geblieben, doch genau aus ihr bezog er seine barbarischen Qualitäten. Und deshalb hatten die Deutschen, die sich als solche fühlten, auch nie etwas davon, sondern die anderen hatten nur immer darunter zu leiden.
Vom Resultat her betrachtet hatte die große Sehnsucht nach Frieden, sauberer Luft und einem gesunden Körper nur den einen Zweck, sich zum neuen Nationalismus das rechte Gewissen zu machen. Die Bombe ist nicht weg, aber dafür ist die Einheit da; die Bevölkerung nimmt ab, aber dafür wird das Volk wiedergeboren; die Abgase fressen weiter am Wald, doch der Bürger wittert Morgenluft. Im Arsenal des diffusen Schreckens hat er neben der Bombe, der Vergiftung und der Verseuchung eine höchst konkrete Bedrohung ausgemacht: die Ausländer. In keiner Frage sind sich daher auch die Deutschen so einig wie in der Frage: »Zu viele Türken?«
Bereits vor fünf Jahren war offenkundig, daß diese Frage, mit welcher ein Leitartikel der überschrieben war, keinen Zweifel, sondern eine Feststellung ausdrückte, in der die Aufforderung »Türken raus« schon mitklang. Jener Leitartikel brachte stellvertretend einige Argumente des wiederkehrenden Fremdenhasses vor und las sich wie ins Deutsch eines Regierungssprechers übersetzte rechtsradikale Propaganda: »Auch eine noch so dynamisch eingestellte Gesellschaft erreicht eines Tages die Grenzen ihrer Integrationsfähigkeit. In Deutschland sind in den letzten Jahren Inseln fremder Lebensart, fremder Kulturen entstanden. Keiner weiß, was sie (die Türken) wirklich denken, fühlen und wollen. Für ein Land gibt es nicht nur Grenzen der Integrationsfähigkeit, es gibt auch Grenzen der Toleranz. Liberalität muß da ihre Grenzen haben, wo das Zusammenleben der Gesellschaft in Frage gestellt wird. Der Bogen wird überspannt, wenn in unserer Mitte immer mehr Menschen leben, die wir nicht verstehen, die uns nicht verstehen und die mit uns nicht wirklich zusammenleben wollen – oder können.«
So sähe, wenn es derartiges gäbe, das knapp skizzierte Selbstportrait des deutschen Volkscharakters aus. Man braucht keine Türken zum Beweis heranzuziehen für den Umstand beispielsweise, daß man in Deutschland...