E-Book, Deutsch, 269 Seiten
Gelléri Stromern
Erste Auflage
ISBN: 978-3-945370-91-9
Verlag: Guggolz Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 269 Seiten
ISBN: 978-3-945370-91-9
Verlag: Guggolz Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Andor Endre Gelléri (1906-1945) galt schon zu Lebzeiten als Meister der kurzen Erzählform. 'Stromern' versammelt 31 Geschichten aus den 1920er- und 1930er-Jahren, in denen er sich den Ausgegrenzten, den Zu-kurz-Gekommenen und Durch-das Raster-Gefallenen zuwendet. Budapest ist geprägt von den Folgen der Weltwirtschaftskrise, und die Protagonisten der Erzählungen bekommen das am eigenen Leib zu spüren. Gelléri kannte die Lebenswirklichkeit seiner Figuren nur zu gut, er selbst arbeitete in unzähligen Berufen, musste für seine täglichen Mahlzeiten schuften - und brachte es doch immer wieder fertig, eine ganz einzigartige Literatur zu schaffen.
Die große Kunst Gelléris, die Timea Tankó farbenprächtig und mit ansteckender Verspieltheit übersetzt hat, besteht darin, jeder Figur ihr Schicksal zuzuerkennen. Sie mögen einander ähneln, die Färbergesellen und Weberlehrlinge, die Schuhmacher und Möbelpacker, die Arbeitssuchenden und Arbeitsverlierenden. Doch jeder Einzelne hat tiefe Wünsche, versucht, seinen Alltag mit Schönheit und Würde zu erleichtern. So wird immer auch sinnenfreudig gezecht, angebandelt, verehrt, gehasst, Trübsal geblasen, gefürchtet und geträumt. Gelléris existenziellen Erzählungen wohnt eine Lebenskraft inne, die sich von keinem Elend und keinem Schicksalsschlag zum Versiegen bringen lässt und die mit feinem Humor und ehrlichem Mitgefühl auf zauberische Weise selbst dem Tod die Stirn bieten. Das Streben nach Glück oder zumindest einem würdevollen Leben hat kein Verfallsdatum, es berührt und ergreift auch heute jeden, der davon liest.
Andor Endre Gelléri (1906-1945) wird als Sohn eines Schlossers und einer Kantinenfrau in Budapest geboren. Auf Wunsch seines Vaters verlässt er mit 15 Jahren das Gymnasium und absolviert eine Ausbildung an der Industriefachschule. Nebenher schreibt er erste Novellen, die bei Verlegern und Redakteuren auf großes Interesse stoßen. Leben kann er von seiner schriftstellerischen Arbeit jedoch nicht, und so beginnt er, die verschiedensten Lohnberufe anzunehmen. Mit dem Beginn des Zweiten Weltkrieges bricht die literarische Produktion Gelléris fast vollständig ab. Als Jude wird er in den Jahren von 1940 bis 1945 in verschiedene Arbeitslager deportiert und schreibt dort nur noch vereinzelt an Fragmenten zu einer Autobiografie. Er muss an einem der Todesmärsche in das KZ Mauthausen teilnehmen und stirbt wenige Tage nach der Befreiung des Lagers im Mai 1945 an einer Typhusinfektion. Neben seinem Roman 'Die Großwäscherei' hinterließ er einen unvollendeten autobiografischen Roman und schuf ein umfangreiches Werk an Kurzgeschichten, von denen 'Stromern' eine Auswahl bietet.
Weitere Infos & Material
DER WEBERGESELLE
Es war ein großer dunkler Raum. Schon seit Monaten stand er leer, diente nur den Spinnen als Wohnung. Einst hatten hier mit kräftigen Flammen die Feuer eines Schmieds gelodert. Und auf dem Amboss hatten sich der kleine und der große Hammer Paroli geboten. Eines Tages kam ein gedrungener jüdischer Mann vorbei. Er trug eine Brille auf der Nase. Auf dem Kopf eine kleine Melone. Er muss viel Geld gehabt haben, da er sofort eine Anzahlung machte. Dann kam ein Maurer in kunterbunter Hose; er brachte einen Eimer mit, darin Glättkelle, Glättholz und einen Maurerpinsel mit Ziegenbart. Er betrat den Raum, spuckte aus, drehte sich eine Zigarette und ging, wie ein Kundschafter in einer fremden Burg, an all den verstaubten Wänden entlang. Nachdem er seine Runde beendet hatte, klappte er die Leiter auseinander und stellte sich darauf. Wie ein Tänzer lief er, schaukelte mit der Leiter durch den Raum. Staubte die Wände ab. Dicken Regentropfen gleich fielen die Spinnen hinunter. Einige von ihnen erschlug der Maurer. Wenn er schon kein Glück haben würde, so sollte er zehnmal, zwanzigmal keines haben, seien sie doch verdammt, diese ganzen Webtierchen. Da sagte der Herr, der zur Tür hereingekommen war: »Sagen Sie nichts Schlechtes übers Weben.« »Warum?«, fragte der staubumhüllte Maurer. »Warum zum Teufel soll ich nichts Schlechtes darüber sagen?« Und er erschlug zwei weitere Spinnen. »Weil hier bald eine Weberei sein wird«, antwortete der Herr. »Na, dann sage ich kein schlechtes Wort mehr.« Als hätte er sich so bei dem Herrn entschuldigen wollen, verwandelte er den dreckigen Raum innerhalb von zwei Tagen, sodass man nun hätte denken können, die Wände seien aus gefrorener Milch. Er hatte die Wände in Weiß von jungfräulichem Schnee getüncht, und nun plagte sich eine Slowakin mit pockennarbigem Gesicht ächzend oben vor den Fenstern … Zeitungspapier, Lappen und ein Wassereimer waren ihre Waffen, außerdem noch eine kleine Spachtel, womit die Maler dies und das verkitten. Damit kratzte sie die Kalkspuren von den Fenstern. Dann kam der Mann mit der Lederjacke: der Elektriker. Der brachte Porzellanfassungen, Klemmnippel, Lüsterklemmen, Sicherungen, Glühbirnen, die wie Seifenblasen schillerten, und schlängelnde Kabel. Er ging gleich ins Nachbarhaus, tüftelte, steckte die Nase in den Transformator, bat den Herrn um Münzen für drei Anrufe, der sie sogleich aus der Tasche zog und ihm gab, fröhlich, großmütig. Zum Abend sah der seit Jahren im Dunkeln schlummernde Raum aus, als wären Sterne bei ihm eingezogen: Die Leuchten erstrahlten. Die Slowakin eilte heim in die Ziegelfabrik, aber der Maurer und der Elektriker schlossen für ein gemeinsames Gläschen am Abend Freundschaft. Natürlich zogen sie inmitten lebhafter Erklärungen in die Kneipe ein: Der eine berichtete, wie er das Schwarze in Weiß verwandelt, der andere, wie er Licht ins Dunkel gebracht habe … Wenn Meister ihre eigene Arbeit loben, denken sie sich nämlich ganz bis zur Schöpfung der Welt zurück. Am nächsten Tag öffnete sich wieder das Tor, und es kamen herein: zunächst zwei starke und prächtige braune Pferde. Der Wagen kippte nach links und nach rechts, als er den Gehweg erklomm, und auf dem Bock pendelte ein Kutscher mit Ganovenfratze hin und her. »Hü«, brüllte er. »Wohin kommt die Ware?« Daraufhin kam ein anderer, etwas älterer, doch genauso heiterer Herr heraus; er freute sich sehr, den Kutscher, den Wagen und die »Ware« zu sehen. »Hierher, mein Sohn, hierher meine gute Seele«, sagte er so warmherzig, als sei er tatsächlich mit diesem Kutscher verwandt. Da sprang der Kutscher vom Wagen und ergriff die Zügel der Pferde. »Zierdichnichso, Tóni«, herrschte er das eine an, »wirdsbald, Tercse, hü«, sagte er zum anderen und zerrte wie ein Dompteur an den Zügeln der Tiere, die langsam in Bewegung kamen. Was will man sagen? Hört man einen Kutscher reden, weiß man, was er als Kutscher taugt. Dieser fluchte so viel und bedachte dabei alle Heiligen, die je gelebt oder nicht einmal gelebt hatten, dass er wohl ein hervorragender Kutscher sein musste. Da gab der jüngere Herr ihm zum Schluss auch mehr Trinkgeld als üblich, denn so ein zorniger Kutscher brachte es fertig, einem das Geld wieder vor die Füße zu werfen, wenn es ihm nicht reichte, mit den Worten: Soll Sie doch der … Nur schwer kamen die Pferde rückwärts durch den Toreingang: Das Brüllen des Kutschers donnerte über den Hof, aber drinnen, in dem großen Raum, stand bereits ein Tischler mit rotem Schnauzbart, in fleckiger grüner Schürze, seine Säge hing an der Wand, der Hobel lag sanftmütig auf der Bank, überall waren glänzende Nägel verstreut, und die Zange machte ein mürrisches Gesicht. Dieser Tischler begutachtete die »Ware« mit Sachverstand. Er trat gegen die Balken, aus denen Webstühle werden sollten, als wollte er auf diese Art erfahren, woher sie kamen, wessen Hände sie zurechtgesägt hatten, ob es vielleicht gerade die seines seligen Meisters Rikárd Tunyák gewesen waren. Dann sprach er es auch aus: »Außer mir konnte so etwas nur mein seliger Meister machen.« Die beiden Herren nickten und sagten nicht, was sie dachten: Nun mach dich ans Werk, guter Tischler. Jeder Augenblick ist ein bisschen Geld, aber das hat schon seine Ordnung: Dünn fließt das Geld weg, um in goldenen Wellen zurückzuströmen. Sollte der Tischler ruhig erst einmal schnuppern … Doch dann klatschte er in die Hände und sagte: »Also …« Er spuckte in die eine Hand und rieb die Spucke so sanft und voller Freude in der anderen Handfläche breit, als sei er eine Dame, die mit ihrer zarten Hand Samt betastete. Dann nahm er den Stift hinterm Ohr hervor und kritzelte etwas auf einen Zettel. Er legte die Stirn in so viele Falten wie er nur konnte: Als hätten diese die Multiplikationen, Divisionen und Kalkulationen durchgeführt. Schließlich gab er ihnen den Zettel, auf dem stand, was er vom Holzhändler benötigte. Er wolle es nicht selbst besorgen, sagte er, nicht, dass die Herren am Ende noch dachten, er bekomme vom Händler eine Beteiligung. Gehen Sie lieber selbst, aber eines sage ich Ihnen: Bringen Sie trockenes Holz, denn bei Váci ist zwar alles billig, dafür haut er aber jeden übers Ohr … er sagt von jedem Brett: Dieses ist erstklassig und das dort auch, und mischt eine Menge Zweitklassiges dazwischen. Schließlich ging der Tischler selbst zum Holzhändler, in der Gegend hatte er noch nie etwas getrunken, aber auf dem Rückweg hatte er bereits genug Bares, um in der Kneipe der alten Mári vorbeizuschauen. Dann kamen noch Glaser, Schlosser und Monteur: Letzterer kümmerte sich um den netten Sägemehlofen, der ebenfalls hier einzog; ein kleiner Mann kam vorbei, der stets viel im Sack auf dem Rücken trug, dessen Trinkgeld trotzdem immer knapp ausfiel; es kam der Kohlenmann, und schon wurde es in dem kalten Raum warm, als versteckte sich trotz des beginnenden Winters die Sonne unter dem Betonboden und heizte die Wände, wärmte die Menschen von dort aus. Tage vergingen: Es kam der Postbote, er fragte neugierig, ob die Weberei Japán hier zu finden sei. Ein neuer Kunde bedeutet zwei Münzen mehr fürs neue Jahr, dachte er sich. Und als Antwort erhielt er, dass die Weberei Japán sehr wohl hier zu finden sei und er ihnen viele Aufträge, erfreuliche Briefe und Geld bringen solle. Das versprach der Postbote gern, er salutierte und ging. In dem Brief, den er gebracht hatte, schrieb ein Webergeselle: »Werter Herr Fischer, wenn ich in der Woche sechzig auf die Hand bekomme und das Fahrtgeld dazu, bis ich eine Unterkunft in der Gegend finde, dann komme ich morgen.« Der jüngere Herr fragte: »Sechzig Pengo, ist das nicht ein bisschen viel?« »Es ist nicht gerade wenig«, erwiderte der Ältere, »aber es lohnt sich.« Der Webergeselle kam tatsächlich am nächsten Tag. Er nahm den Hut vom Kopf, sah sich um und sagte: »Herr Fischer, hier ist es aber schön warm.« Da sagte der Ältere: »Warm ist es.« Der Jüngere sagte: »Sie sind also gekommen.« »Bin ich … Wie ich sehe, gibt es hier ganz anständige Jacquards … Soll ich mit dem Einzug beginnen, ist es in Ordnung mit den sechzig?« »Beginnen Sie ruhig«, sagte der Jüngere. »Und kann ich auch mit dem Fahrtgeld rechnen?« Die beiden Herren sahen ihn an. ›Na‹, dachte sich der Webergeselle, ›der Blick der Herren ist so gut wie eine Unterschrift.‹ Und er steckte den gemeinsamen Blick der beiden in die Tasche, als...