E-Book, Deutsch, 180 Seiten
Grothus Peace
3. Auflage 2025
ISBN: 978-3-8192-3497-2
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 180 Seiten
ISBN: 978-3-8192-3497-2
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Eine alte Villa im Außenbezirk einer Großstadt. Hier treffen während eines heißen Dürresommers zehn Menschen aufeinander. Alle mit ihren persönlichen Geheimnissen und inneren Konflikten: Boomer in der Klimakrise, Eltern in gescheiterten Beziehungen, Coming of Age-Teenager, eine sehr alte Dame und eine Migrantin der 2. Generation. Das geschichtsträchtige Haus wird Schauplatz menschlicher Momentaufnahmen, ungelöster Körperbildstörungen, Social Media-Fluchten und sich leise aber unaufhaltsam bahnbrechender Gefühlserbschaft. Durch ein aufgedecktes Geheimnis spannt PEACE einen Bogen vom historischen Nationalsozialismus zur Gegenwart. Am Schnittpunkt zwischen Vergangenheit und Zukunft findet die Suche nach Gemeinschaft, Selbstakzeptanz und persönlicher Wahrheit statt.
Autoren/Hrsg.
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Jakob
Jakob hatte eine Vorliebe für Unberechenbares. Als er mit acht Jahren beim Gamen herausfand, dass seine Aktionen die virtuelle Welt gar nicht wirklich veränderten, sondern nur skriptgesteuerte Ereignisse auslösten, verlor er jedes Interesse an Computerspielen. Für seine Mitschüler machte ihn das zum Sonderling.
Möglicherweise lag es auch an der alten Bibliothek seiner Oma, einem verstaubten Raum mit schweren, bodenlangen Vorhängen und wandfüllenden Regalen aus geschnitztem Holz. Dort hatte er, kaum dass er lesen konnte, ein ganzes Bord nur mit Kinderbüchern entdeckt - allesamt aus dem letzten Jahrhundert.
Jakob fand Bücher wesentlich überraschender als Computerspiele. Sie machten ihm nicht vor, er hätte einen Einfluss auf die Geschichten. Es war sogar umgekehrt: Die Geschichten hatten Einfluss auf ihn. Die Bücher in der Bibliothek seiner Großmutter erschienen ihm wie Botschaften aus der Vergangenheit. Ihr Papier war nicht mehr weiß, die Ecken abgestoßen und die Einbände zerschlissen. Sie gehörten in eine Zeit vor seinem eigenen Leben. Manchmal überlegte Jakob, ob man vor der Geburt eigentlich tot ist. Oder kann man erst tot sein, wenn man gelebt hat?
Er fand keine Antwort darauf, aber die Bücher aus Omas Bibliothek machten ihn ungemein neugierig. Welche Person hatte wohl dieses Eselsohr als Lesezeichen in die Seite geknickt? Wo hatte dieses geheimnisvolle Kind – vielleicht waren es ja auch mehrere - aus der vergangenen Zeit gesessen und dieselben Seiten umgeblättert wie er?
Für Jakob waren nicht nur die Geschichten in den Büchern spannend. Auch die Geschichte der Bücher selbst hätte er zu gern gekannt. Durch welche Hände waren sie gewandert?Wurden sie einmal jemandem zum Geburtstag oder zu Weihnachten geschenkt? Hatten sie immer in diesem Regal gestanden, oder waren sie weitergereicht, worden? Jakob fühlte sich mit den früheren, für ihn nur noch geisterhaften Lesern seiner Bücher verbunden. Schließlich hatten sie alle mit heißen Gesichtern und klopfenden Herzen dieselben Abenteuer erlebt. Dies war übrigens - abgesehen von seiner Oma - das einzige Gefühl von Zugehörigkeit, das Jakob kannte, was ihm aber nichts ausmachte, denn es war ihm gar nicht bewusst.
Sein Lieblingsplatz war der Boden vor Omas Bücherwand. Dort lehnte er sich im Schneidersitz gegen ein Sofakissen aus verschlissenem Brokat und ließ sich in die Welten von Erich Kästner, Ottfried Preußler, Enid Blyton, Astrid Lindgren und Max Kruse hineinziehen. Nachdem er Karl Mays „Old Shurehand“ gelesen hatte, begann er, sich fortan so lautlos zu bewegen wie Winnetou, was bei seiner ohnehin schon etwas schwerhörigen Oma immer wieder kleine Schreckensschreie zur Folge hatte.
Den zündenden Funken erhielt er aber von Robert Arthurs „Drei Fragezeichen“. Das war es! Er wollte Detektiv werden und Geheimnisse entdecken.
Jakob war in gewisser Weise sehr direkt. Wenn er etwas machen wollte, dann machte er es. Umgehend. Und so begann er ohne lange Vorbereitungen damit, Leute zu beobachten. Zunächst von seinem Fenster aus.
Es war ein aufregendes Gefühl, eine ahnungslose Person, die sich gänzlich unbeobachtet meint, genau zu betrachten. Wie ein echter Detektiv – oder eben so, wie er sich die Tätigkeit eines echten Detektivs vorstellte – registrierte Jakob alle Einzelheiten. Zum Beispiel, welchen Mantel Frau Creilfeld von schräg gegenüber trug, und was für Rückschlüsse er daraus ziehen konnte. Seine Beobachtungen notierte er in ausgeklügelten Excel-Tabellen, die es ihm ermöglichten, Korrelationen auszurechnen. Der graue Mantel von Frau Creilfeld korrelierte eindeutig mit ihren Friedhofsbesuchen. Zum Einkaufen zog sie einen blauen Mantel an.
Als ihm sein Posten am Fenster keine neuen Erkenntnisse mehr eintrug, schlich er auf der Straße wahllos irgendwelchen Nachbarn oder Passanten hinterher. Einfach nur, um zu üben, möglichst lange nicht aufzufallen. Schauten sich die Leute unsicher um, verschwand er um die nächste Ecke und analysierte später zuhause, warum er aufgefallen und wie das zukünftig zu vermeiden war.
Man hätte es Ausspionieren nennen können, aber das würde Jakobs Ambitionen nicht gerecht. Er hatte keinerlei Absicht, irgendetwas, was er über eine Person herausfand, gegen sie zu verwenden. Es war viel mehr seine Lust an Geheimnissen, an Rückschlüssen, an der magischen Möglichkeit, die Handlungen bestimmter Personen auf Basis seiner Daten vorauszusagen. Vor allem aber spornte ihn seine tiefe Überzeugung an, dass Menschen nicht wirklich so langweilig waren, wie es den Anschein hatte.
Seine Mitschüler zum Beispiel fanden ihn, Jakob, langweilig, das wusste er. Hauptsächlich, weil er keine Lust hatte, online zu zocken. Und weil er lieber lesen wollte, anstatt sich zum Abhängen zu verabreden. Er war auch nicht sonderlich sportlich – noch nicht.
Aber Jakob fand sich selbst sowas von gar nicht langweilig, dass es sich seiner Ansicht nach nur um einen Irrtum handeln konnte, wenn Menschen andere Menschen als uninteressant empfanden.
Seine ersten geplanten Expeditionen führten ihn in die direkte Nachbarschaft. Er wohnte bei seiner Oma in einem großen, sehr alten Haus in einer Eichenallee. Die riesigen Bäume waren vor langer Zeit, beim Bau der Häuser gepflanzt worden. Die Allee war eine der letzten Straßen mit blankgefahrenem, welligem Kopfsteinpflaster und Jakob liebte es, an stillen Nachmittagen das wiederhallende Wummern der Reifen zu hören, wenn ab und zu ein Auto vorbeifuhr.
Die Nachbarhäuser waren ebenfalls groß und alt. Genaugenommen war dies ein Villenviertel, nur dass die Villen ein wenig heruntergekommen waren. Ehrwürdige, energiefressende, schlecht isolierte und lange nicht modernisierte Gebäude, von denen viele zwei Weltkriege durchgestanden hatten. Die meisten seit Generationen in Familienbesitz. Die jetzigen Bewohner waren hauptsächlich in die Jahre gekommene Eigentümer, deren Kinder längst in lukrativeren Gegenden wohnten.
Für den Moment aber standen die Villen still wie bemooste Felsen und in vornehmer Zurückgezogenheit durch parkähnliche Vorgärten von der Straße getrennt. Bäume mit ausladenden Kronen auf akkurat gemähtem, wenn auch schmächtig wachsendem Rasen, gaben den riesigen Grundstücken eine Art erhabene aber schon verblassende Macht. Fast wirkten sie unbewohnt.
Keine Sicherheitskameras oder Lichtschranken hinderten Jakob daran, über schmiedeeiserne Zäune zu klettern und sich in den Gärten hinter Sträuchern zu verbergen. Abends, wenn das eine oder andere Parterrefenster erhellt war, wagte er es, intime Blicke in fremde Küchen und Wohnzimmer zu werfen.
Jakob erforschte einen ganzen Sommer lang versteckte Wege, die entlang von Mauern, durch Zäune, hinter Gebüschen und manchmal sogar über niedrige Dächer von Schuppen und Garagen führten.
Bald sah er ein, dass er wesentlich erfolgreicher sein würde, wenn er besser klettern könnte. Zum Beispiel gab es da auf Omas Grundstück zwei alte Walnussbäume, von denen aus er bestimmt einen perfekten Blick in die rückwärtigen Fenster der Nachbarvilla hätte.
Also begann Jakob zu trainieren. Er schaute sich zwanzig Youtube-Videos über Klettern, Freerunning und Calisthenics an und erstellte sich einen Trainingsplan.
Jeden Tag übte er Präzisionssprünge von der Sofalehne auf die Esszimmerstühle und das halb rennende, halb kletternde Erklimmen von Mauern. Im Garten stellte er Eimer, Hocker und später eine Schubkarre auf, um das Überspringen von Hindernissen zu trainieren. Er machte Klimmzüge an den geschnitzten Türrahmen und Situps auf dem abgetretenen Teppich in seinem Zimmer. Später fuhr er mit dem Fahrrad in die Stadt, um Treppen, Geländer und Betonblöcke zu finden. Er zog sich bei Stürzen üble Verletzungen zu, die aber zum Glück nie so schlimm waren, dass er sein Training längere Zeit unterbrechen musste.
Die Walnussbäume waren sehr bald seine leichtesten Übungen. Eine größere Herausforderung war das Fassadenklettern. Die alten Villen mit ihren Schnörkeln und Verzierungen boten reichlich Griffe und Tritte, aber das Problem war, dass er enorm schnell sein musste, um heimlich in die Fenster der oberen Etagen zu schauen – und dass es keine Sicherung gab.
Nun fragt man sich natürlich, ob denn keine Eltern oder wenigstens die Oma Einwände gegen dieses einerseits halsbrecherische, andererseits auch durchaus die Einrichtung strapazierende Training erhoben. Die Antwort ist so schlicht wie wahr: Nein.
Jakobs Mutter war über die Wochentage geschäftlich unterwegs und kam erst freitagabends erschöpft, und nicht übermäßig an Einzelheiten aus Jakobs Leben interessiert, nach Hause. Seinen Vater kannte Jakob nicht, der war schon vor seiner Geburt abhandengekommen. Allein die Oma war immer da, hielt sich aber fast nur noch unten in der Wohnküche oder in ihrem Schlafzimmer im Erdgeschoss auf. Das Treppensteigen fiel ihr schwer.
Sie sorgte dafür, dass er drei Mahlzeiten am Tag bekam und saubere Wäsche hatte. Jakobs Oma liebte ihren Enkel von Herzen, war aber hoffnungslos in der Welt...