Das Selbstfürsorge-Projekt
E-Book, Deutsch, 224 Seiten
ISBN: 978-3-641-26711-7
Verlag: Heyne
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)
Das Motivationsbuch für mehr Lebensfreude, Selbstliebe und Durchsetzungsvermögen. Mit liebevoll illustrierten Ausfüllbögen zur Selbsterforschung (im E-Book zugänglich über Download-Link).
Jayne Hardy litt schwer unter Depressionen und machte dabei die Erfahrung, wie unglaublich wichtig es für die körperliche und seelische Gesundheit ist, sich endlich einmal um sich selbst zu kümmern. Die Autorin gründete daraufhin The Blurt Foundation, ein Unternehmen, das sich der Hilfe für Menschen mit Depressionen widmet. Über ihre eigenen Erfahrungen mit dieser Krankheit und mit dem Thema Selbstfürsorge hat sie auf BBC und bei TEDxBrum gesprochen und schreibt u.a. für die »Huffington Post«, »Grazia« und »The Guardian«. Jayne Hardy lebt mit Tochter und Ehemann in Cornwall.
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1 Mit welchem Recht schreibe ich dieses Buch?
Als ich mich zum ersten Mal mit dem Konzept von Grenzen auseinandersetzte, war es, als öffnete sich mir ein Fenster zu einer Parallelwelt: einer Welt, in der ich mich viel selbstbestimmter fühlte, in der ich viel ruhiger war und in der ich viel weniger das Gefühl hatte, alle würden auf mir herumtrampeln. Es war eine Welt, in der ich mitbestimmen durfte, in der ich wahrgenommen wurde und in der ich mich nicht fürchtete, den Status quo zu hinterfragen. Ich fand mein Rückgrat wieder, stand aufrechter, fühlte mich besser und hatte keine Angst mehr, Raum einzunehmen. Allerdings erfüllte mich leise Panik, was all das für jemanden wie mich bedeutete, der sein ganzes Leben lang versucht hatte, es anderen recht zu machen. Wie zum Teufel war ich nur von meinem früheren Wesen zu diesem grenzen-losen Ich gelangt? Jenes Fenster in eine Parallelwelt mit magischerweise gesunden Grenzen öffnete sich während einer wirklich schwierigen Phase meines Lebens, und es brauchte noch sehr lange, bis ich mich innerlich so weit gefestigt fühlte, dass ich den Mut aufbrachte, tatsächlich die Grenzen zu errichten, die mich gesünder und glücklicher machten, ohne mir dabei unglaublich selbstsüchtig vorzukommen. Grenzen sind zwiespältig: Sie können Unerwünschtes aussperren und uns beschützen, sie können uns aber auch beengen und einsperren. Den aktuellen Verlauf unserer Grenzen zu hinterfragen geht uns oft gegen den Strich, es widerspricht inneren Einstellungen, die irgendjemand irgendwann einmal geprägt hat. So lange ich denken kann, wollte ich immer ein »braves Mädchen« sein. Das klang nach einem hohen Lob, wenn es von meinen Eltern oder Lehrern kam, und so entwickelte ich sehr feine Antennen dafür, was es bedeutete, »brav« zu sein. Ich tat, was man mir auftrug, machte keine »Schwierigkeiten«, vermied, andere zu enttäuschen oder von ihnen getadelt zu werden. Das bedeutete aber auch, dass ich mein Selbstwertgefühl daran knüpfte, ob ich nun auch wirklich das begehrte Lob einheimste. Es lag mir sehr viel daran, dass man mich auf eine ganz bestimmte Weise wahrnahm, und ich wünschte mir vor allen Dingen, »gemocht« zu werden. Niemand kann es jedem recht machen – und bei Gott, ich habe es versucht! Aber natürlich gab es immer wieder Leute, die mich nicht mochten, und dann ging ich jedes Wort, jeden Blick, jede Tat wieder und wieder im Geist durch, um endlich herauszufinden, was ich falsch gemacht hatte. Immer suchte ich den Fehler bei mir. Gleichzeitig unterdrückte ich die Frage, was ich dem anderen gegenüber empfand, ob ich ihn überhaupt leiden konnte oder nicht. Selbst was die Putzfrau des Nachbarn über mich dachte, konnte mich ewig beschäftigen. Und so mutierte ich zum Chamäleon. Ich legte mir Rollen zurecht, in die ich in bestimmten Situationen hineinschlüpfte wie in Kleidung für verschiedene Anlässe. Diese Rollen waren stets auf diejenigen zugeschnitten, mit denen ich gerade zu tun hatte. Diese Schauspielerei führte dabei auch dazu, dass ich mich nirgendwo zugehörig fühlte. Das Dasein als Chamäleon ist verwirrend, weil man sich nie klarmacht, wer man wirklich ist, was man mag und was man denkt. Ein Chamäleon passt sich einfach an: Wenn meine Kumpels eine Band mochten, dann kaufte ich mir ihre Platten und schwärmte davon – selbst, wenn mir die Musik eigentlich nichts sagte. In meinem Bemühen, allen alles zu sein, gab ich mich selbst auf. Meine Identität ging mir komplett verloren. Ich versuchte, das zu werden, was andere von mir wollten und brauchten. Rückgrat? Fehlanzeige. Es war eine fürchterliche Art zu leben. Ich ließ mir keinerlei Raum für Fehler oder die Orientierungslosigkeit, die sich beispielsweise während der Adoleszenz ganz natürlich einstellt. In jener Phase wurstelt man sich einfach durchs Leben – aber das ertrug ich nicht. Endlos konnte ich über Dinge nachgrübeln, die ich gesagt oder nicht gesagt hatte, über Dinge, die vor Ewigkeiten passiert waren. Ich fühlte mich für alles Mögliche schuldig – selbst für Sachen, mit denen ich überhaupt nichts zu tun hatte. Schuldgefühle wurden zu meinem Generalbass, und ich tat alles, um sie zu vermeiden. In meinen Augen war ich für Dinge verantwortlich, mit denen ich absolut nichts zu schaffen hatte. Einerseits ließ ich andere Menschen frei über mein Leben bestimmen, andererseits überschätzte ich meine Bedeutung für das Leben anderer maßlos. Ich hatte mich in einem Entschuldigungs-Paradoxon verheddert. »Entschuldigung« wurde zu meinem meistbenutzten Wort. Du hast mich angerempelt? Sorry, dass ich dir im Weg stand. Ich sagte etwas, das dir nicht gefiel? Tut mir echt leid, ich meinte das nicht so. Ich tat etwas, das du missbilligst? Entschuldige vielmals, es kommt nie wieder vor. Sorry, ich muss aufs Klo. Tut mir leid, dass du einen Umweg fahren musst, damit ich zur Toilette gehen kann. Entschuldigung, aber ich muss echt … Sorry, Sorry, Sorry. Als ich Anfang zwanzig war, spitzte sich die ganze Sache zu und meine ewigen Entschuldigungen wurden zu einem unheilvollen »Entschuldigung, dass es mich gibt«. Ich weiß also aus eigener Erfahrung, dass der Versuch, sich total zu verbiegen, es auf Teufel komm raus allen recht zu machen und Verantwortung für Sachen zu übernehmen, für die man überhaupt nichts kann, geradewegs in den Abgrund führt. Wer Ja sagt, obwohl er Nein meint, staut unweigerlich Aggressionen auf. Die Schotten, hinter denen ich meinen Zorn zurückhielt, wurden immer dann undicht, wenn ich mit meinen Freunden etwas trinken ging. Meine Schüchternheit führte dazu, dass ich zu viel trank, um mich wohler zu fühlen – doch regelmäßig brachen dabei alle Dämme und ich wurde zu einer wütenden, angriffslustigen und verletzenden Besoffenen. Wer Ja sagt, obwohl er Nein meint, staut unweigerlich Aggressionen auf. Am nächsten Tag quälten mich dann ein teuflischer Kater und die Erinnerung an all die Dinge, die ich möglicherweise gesagt oder getan hatte. All das gab meiner ohnehin schon starken Neigung zu Introspektion und Entschuldigungen weitere Nahrung. Ich begann, mich zu verabscheuen, entschuldigte mich für alles und jedes und hasste mein Leben. Denn auch mein Job machte mir null Spaß – und auch das war eine Folge fehlender Grenzen. Als sich meine Jugend dem Ende zuneigte, sollte ich mich entscheiden, was ich später einmal tun wollte. Aber ich hatte keinen Schimmer, was mir gefallen könnte. Als Kind wollte ich Tierärztin werden – bis ich herausfand, dass man als Tierärztin operieren muss und nicht nur immer mit süßen Tierchen kuschelt. Danach befand ich, es könnte okay sein, als Lehrerin zu arbeiten, aber dafür hätte ich mich an einer Uni einschreiben müssen, und dagegen hatte mein damaliger Freund etwas. Er meinte, ich dürfe nicht einfach in die ferne Stadt abschwirren. Also ließ ich auch diese Pläne sausen, einfach so. Danach hatte ich gar keinen Plan mehr. Damals gab es noch kein Internet, und ich hatte schlicht keinen Schimmer, welche Optionen es sonst noch gegeben hätte. Die Karriereberater in der Schule empfahlen, entweder zu studieren, und sei es nur der Erfahrung wegen, oder zum Militär zu gehen. In meiner typischen grenzen-losen Art überließ ich die Entscheidung schließlich meinem Tutor. Ich blieb meinem Verhaltensmuster also absolut treu. Ich fragte ihn, was ich tun solle, und er meinte, mit meinen Mathenoten solle ich es doch mal mit Buchhaltung versuchen. Und das tat ich dann. Doch ach, die Buchhalterei war nichts für mich. (Überraschend, was?) Gleichzeitig hatte ich aber keinen Schimmer, was mir gefallen könnte. Ich kündigte und ging an die Uni, aber auch dort stolperte ich über meine nicht existenten Grenzen. Ich ging an den meisten Abenden weg, selbst wenn ich eigentlich gar nicht wollte, einfach, weil das alle taten. Dann trank ich zu viel und gab zu viel Geld aus. Ich lief einfach den anderen hinterher. Mir fehlte Struktur, mein Studium interessierte mich nicht besonders, ich ließ mich treiben. Und ich spürte, wie es mit meiner geistigen Gesundheit bergab ging. In den Osterferien fuhr ich nach Hause und kehrte danach nur noch an die Uni zurück, um meine Sachen zu holen. All diese (und weitere) Episoden mitfühlend zu betrachten, fällt mir schwer. Leider gibt es keinen Knopf zum Zurückspulen, keinen Flux-Generator, und es macht mich traurig, wie ich damals andere Menschen über mein Leben bestimmen ließ. Ich wollte es nach wie vor allen recht machen und versteckte meine Qualen hinter einem Lächeln. Doch ich fühlte mich zunehmend abgeschottet und enttäuscht vom Leben. Ich hatte das Gefühl, wie ein Halm im Wind hin und her zu schwanken, vor und zurück, und niemals reichte das, was ich tat oder war. Ich wusste weder, wer ich war, noch, was ich wollte, sondern fühlte mich lediglich von den Wünschen, Träumen und Leidenschaften anderer Menschen hin und her getrieben. Alles geriet zunehmend außer Kontrolle und wurde stressig. Und schon bald erhob die Depression ihr böses Haupt und schlug mich nieder. Ich stürzte vollends ab, landete hart und schämte mich zutiefst dafür. Das Leben war nur noch eine Qual. Ich brachte es nicht mehr fertig, meine lächelnde Maske aufzuziehen, und schottete mich von der Welt ab. Allein fühlte ich mich wohler als in Gesellschaft anderer Menschen, denen ich es ja doch nur recht zu machen versuchte. Zugleich empfand ich das Alleinsein als ziemlich grässlich, weil ich mich selbst kein bisschen leiden konnte. Selbsthass ist extrem unbehaglich, weil es von ihm keine Pause gibt. Man steckt vierundzwanzig Stunden am Tag in seiner Haut, ohne Unterlass. Depression ist eine grausame Krankheit, weil dein Ich dabei mit sich selbst im Krieg liegt. Dein Körper,...