E-Book, Deutsch, 320 Seiten
Heilmann / Schön NEUSTAAT
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-96092-700-6
Verlag: FinanzBuch Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Politik und Staat müssen sich ändern. 64 Abgeordnete & Experten fangen bei sich selbst an – mit 103 Vorschlägen
E-Book, Deutsch, 320 Seiten
ISBN: 978-3-96092-700-6
Verlag: FinanzBuch Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Thomas Heilmann ist seit 30 Jahren erfolgreicher Internetunternehmer. Von 2012 bis 2016 war er Senator für Justiz und Verbraucherschutz des Landes Berlin, seit 2017 ist er Mitglied des Deutschen Bundestages. Er gehört zu Berlins bekanntesten Serien-Unternehmern, (u.a. Xing, MyToys, Scholz&Friends und Facebook). Im Bundestag arbeitet er in der Digital- und Sozialpolitik. Nadine Schön ist seit 2009 Mitglied des Deutschen Bundestages und seit 2014 stellvertretende Vorsitzende der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, zuständig für die Bereiche Familie, Senioren, Frauen und Jugend sowie Digitale Agenda. Während ihres Studiums absolvierte sie eine journalistische Ausbildung als Stipendiatin der Konrad-Adenauer-Stiftung.
Autoren/Hrsg.
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KAPITEL 1
Die Komplexitätsfalle
Wir sind zu bürokratisch, zu starr und zu langsam
DIE WELT VERÄNDERT SICH IN TOSENDEM TEMPO: Auch befreundete Staaten werden egoistischer, EU und Nato sind angeschlagen, China entwickelt sich bei wachsender Bedeutung zu einer digitalen Diktatur, immer mehr Autokraten betreiben Machtpolitik. Google, Facebook und Amazon versuchen, Staaten und Banken als einflussreichste Akteure der Welt abzulösen. Der Klimawandel führt schon jetzt zu erheblichen Verteilungskämpfen, verschärft die kriegerischen Auseinandersetzungen und die Migration. Die Digitalisierung beschleunigt und verstärkt den Wandel. Corona hat uns von hundert auf null in den Krisenmodus versetzt.
In diesem Umfeld stoßen Deutschlands staatliche Institutionen schon länger an ihre Grenzen. Für die großen Herausforderungen der Zeit sind sie zu bürokratisch, zu komplex, zu langsam. Was in der Krise möglich war, ist längst nicht der Normalfall. Die Gesellschaft reagiert mit Polarisierung und Populismus. Darum wollen wir Politiker umdenken und die Verwaltung auf einen neuen Kurs bringen. Denn ohne einen funktionierenden Staat und ohne ein positives Leitbild werden wir unseren Wohlstand, unsere Werte, unsere Art zu leben nicht erhalten können.
Wir, die Autoren dieses Buches, sind Bundestagsabgeordnete, haben uns seit Anfang 2019 mit vielen Verwaltungsexperten zusammengesetzt, analysiert und diskutiert, was sich ändern muss. Wir versuchen einen Anfang. Einen Anfang für einen Neustaat.
Witze über Beamte gehören zu den absoluten Klassikern des deutschen Humorrepertoires. Doch wahrscheinlich sind sie Ausdruck einer dramatischen Unterschätzung – denn täten die Beamten und die in diesem Buch natürlich genauso gemeinten Tarifbeschäftigten tatsächlich nichts, bräche alles zusammen. Die Verwaltung ist der Muskel des politischen Körpers: Ist er stark, ist unser Staat leistungsfähig. Ist er es nicht, kann unser Wille noch so groß, unsere Absicht noch so klar sein, wir werden nicht stemmen können, was wir uns vornehmen. Gute Gesetzgebung geht ohne eine effektive Umsetzung ins Leere. Politischer Wille ohne eine leistungsfähige Verwaltung löst sich in Wohlgefallen auf.
„Ich habe nichts gegen Beamte, Sie tun ja nichts.“
Unter der Last neuer Herausforderungen und der Komplexität der eigenen Strukturen fängt die Muskulatur unseres Staates jedoch an zu krampfen. Die Folge sind langwierige Prozesse, unzufriedene Bürger und gescheiterte Projekte. Kennen Sie ein öffentliches Großprojekt, das in den letzten Jahren pünktlich und ohne Kostensteigerungen abgeschlossen wurde? BER und Stuttgart 21 sind nur zwei von unzähligen Symptomen. Auch während der Corona-Krise konnte der Öffentliche Dienst die Unzulänglichkeiten des Systems nur mit größtem Einsatz ausgleichen. Das Robert Koch-Institut blieb bei der Zählung der Infektionszahlen trotzdem hinter einer amerikanischen Privat-Universität zurück.
Dem Staat droht die Handlungsunfähigkeit. Sogar der Vorsitzende des Beamtenbundes, Ulrich Silberbach, sieht am Himmel dunkle Wolken aufziehen und bezieht sich dabei auf eine Bürgerbefragung des Deutschen Beamtenbundes und Forsa:
Wie sehr die Bürger den Staat mit Ineffizienz und alltäglichem Versagen assoziieren, zeigen Satiremagazine wie extra3, das mit seiner Reihe „Realer Irrsinn“ ein buntes Kaleidoskop der Absurditäten bietet. Die Videos werden mitunter millionenfach geklickt. Da gibt es etwa einen Storch aus Ochsenwerder, dem das Bezirksamt die Nutzung seines Storchennests untersagte, weil kein Bauantrag gestellt wurde. Oder einen Mann in Baden-Württemberg, den eine Verordnung des Bauamtes dazu verpflichtete, einen Spielplatz auf seinem Grundstück zu errichten – weil er in seinem Haus eine dritte Wohnung einbauen ließ. Der Spielplatz blieb unangerührt, waren doch alle Bewohner des Hauses erwachsen; haftungsrechtliche Regularien untersagten zudem externen Kindern die Nutzung.
Wenn Sie dieses Buch lesen, werden Sie schon bald merken: Anders als Satiresendungen wollen wir uns nicht über die Verwaltung lustig machen. Wir müssen aber anerkennen: Fernsehformate wie „Realer Irrsinn“ sprechen einem großen Teil der Bevölkerung aus der Seele. Es ist eindeutig, dass der Staat sowohl von außen als auch von innen, bei Bürgern wie Beamten, ein Bild der Überforderung abgibt – und diese Überforderung ist ein objektives Problem, dessen Handlungsbedarf wir aktuell noch unterschätzen. Denn gescheiterte Großprojekte wie der BER, groteske Geschichten von Spielplätzen, für Kinder, die es nicht gibt, und Bauanträge für Storchennester – das sind alles nur Spitzen des Eisbergs.
Wir sitzen in der Komplexitätsfalle
Die öffentliche Verwaltung funktioniert schon heute nicht mehr gut genug, und im nächsten Kapitel zeigen wir, warum sich die Bedingungen sogar noch dramatisch verschärfen werden (mehr dazu ? Schicksalsfragen). Doch sehen wir uns zuerst einige Beispiele an. So stellen wir etwa fest, dass Berlin besonders von behördlichen Fehlleistungen betroffen ist, die Wartezeiten für Anmeldungen aller Art steigen hier seit Jahren immer wieder auf mehrere Monate. In Itzehoe sollen laut Termin- und Ablaufplan für die Erweiterung des Hauptzollamts von der Anerkennung des Bedarfs im Dezember 2014 bis zum Abschluss der Baumaßnahme im Januar 2025 mehr als zehn Jahre verstreichen – zehn Jahre für ein Büro- und Lagergebäude, und das auch nur, wenn alles glattgeht. Dabei ist das Projekt völlig unumstritten, der Naturschutz nicht betroffen, sind die Baubedingungen unproblematisch. Es dauert so lange, weil unsere Abläufe und unsere Schnittstellen so komplex gestaltet sind.
2.922
BER Count Up
Am Tag der Veröffentlichung dieses Buches wird der BER seit dem letzten gescheiterten Eröffnungstermin weitere 2.922 Tage im Verzug sein, also etwa 8 Jahre.
5,1 Mrd. Euro Mehrkosten hat der Flughafenbau bisher verursacht – von 1,983 Mrd. Euro auf knapp 7,1 Mrd. Euro.
QUELLE: TAGESSPIEGEL, 2019
Werfen wir einen Blick auf die Bundeswehr: Grundsätzlich sieht der Arbeitsschutz in Deutschland vor, dass die Gestaltung von Arbeitsstätten jeden Fruchtwasserschaden für Schwangere ausschließt. So weit, so richtig. Die Regel gilt allerdings so grundsätzlich und allgemein, dass sich die Beschaffer der Bundeswehr gezwungen sahen, sie auch auf den Innenraum des Kampfpanzers „Puma“ anzuwenden. Nun sind zwar die Bedingungen im Fahrzeug so angepasst, dass selbst hochschwangere Soldatinnen seelenruhig Panzer fahren können, doch die Entwicklungskosten haben sich um Millionenbeträge erhöht.
Staatliche Prozesse sind zu bürokratisch, zu komplex und zu langwierig organisiert, als dass sie mit der Dynamik der Welt noch Schritt halten könnten. Neue Anforderungen an Entscheidungen sind zu vielfältig geworden, als dass sie sich auf die gewohnte Weise unter einen Hut bringen ließen. 40 Prozent der Mitarbeiter im Öffentlichen Dienst geben an, dass bei ihrer Arbeit mindestens „oft“ Anforderungen an sie gestellt werden, die schwer miteinander zu vereinbaren sind. Schutz des ungeborenen Lebens und Effizienz eines Kampfpanzers beispielsweise. Dabei sollten wir fair sein: Die allermeisten Regelungen wurden einmal aus guter und richtiger Intention geboren. Der Schutz des ungeborenen Lebens ist nicht nur am Arbeitsplatz ein wichtiges Ziel. Werden die Anwendungen solcher Regularien aber fehlinterpretiert (wie beim „Puma“) und Spielräume nicht ausgenutzt, lassen sich die Dinge kaum mehr handhaben.
Staatliche Prozesse sind zu bürokratisch, zu komplex und zu langwierig organisiert, als dass sie mit der Dynamik der Welt noch Schritt halten könnten.
Die Arbeit unserer Verwaltungen erinnert an einen drohenden Burnout: Mit dem Berg neuer Anforderungen wachsen die Mühen und Frustrationen, sinken die Innovationen, verstärken sich die Erwartungen, häufen sich die Misserfolge, mindern Vorwürfe und Spott das Selbstbewusstsein. Der Staat steckt im Hamsterrad und droht sich abzustrampeln.
Gesellschaft im Behördendschungel
Puma-Panzer für Schwangere oder das Zollamt in Itzehoe – in solchen Geschichten manifestiert sich die Komplexitätsfalle besonders prägnant und unterhaltsam. Es gibt Millionen anderer Fälle, die nicht so spektakulär zu erzählen und jeder für sich auch nicht so teuer sind. In ihrer Masse betreffen sie aber weite Teile der Gesellschaft und können wichtige Teile unseres Gemeinwesens beschädigen. Ein viel beklagtes Thema ist die Bürokratie: Für Pflegeberufler ist der Verwaltungsaufwand subjektiv die größte Belastung im Arbeitsalltag. Ärzte geben an, die starke Regulierung und Fülle an Vorgaben seien ein wichtiger Grund für den Ärztemangel in Deutschland. Hochschullehrer verbringen heute rund 40 Prozent ihrer Arbeitszeit mit der akademischen Selbstverwaltung, in den 1970ern waren es noch weniger als 30 Prozent.
Unterdessen verändert die Digitalisierung im Turbogang die ganze Welt. Wer das unterschätzt, bleibt zurück. Das zeigt sich besonders eindrucksvoll im US-amerikanischen Zeitungsmarkt, der sich nur zaghaft digitalisieren mochte: Die Auflagen der großen Tageszeitungen sinken dramatisch, Anzeigenblätter erleben einen Umsatzrückgang von 80 Prozent, auf der Gewinnerseite stehen neue Plattformen, die erst nur Kleinanzeigen veröffentlichten und heute zentrale Handwerkszeuge für Vernetzung und Vertrieb sind. Auf dem Reisemarkt lässt sich Ähnliches beobachten: Plattformen wie Booking.com und Google profitieren. Die Corona-Krise mit ihren verheerenden Wirkungen auf den Reisebranche wird diesen...




