E-Book, Deutsch, 262 Seiten
Hofer Ja sagen
1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-7562-6577-0
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Eine Familie zwischen Autismus und Trauma
E-Book, Deutsch, 262 Seiten
ISBN: 978-3-7562-6577-0
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
"Tragen und getragen werden" hiess das erste Buch, in dem Ursula Hofer beschrieb, wie sie die Magersucht ihrer 11-jährigen Tochter, deren Selbstverletzungen und Suizidversuche - aber auch den allmählichen Sieg über die Krankheit und die Rückkehr in ein Leben ausserhalb von Kliniken und betreuten Wohnangeboten erlebte. Doch acht Jahre später beginnt das nächste Abenteuer: Inzwischen ist klar, dass Andrina "Aspergerin" ist, also eine autistische Spektrums-Störung hat. Was das bedeutet und wie Mutter, Tochter und der Rest dieser sympathischen Familie mit der Diagnose leben, das beschreibt die Autorin in gewohnt ergreifender Art in Tagebuchform: Mal bedrückend, mal beglückend, jedenfalls nie selbstverständlich: Von der Berufsausbildung Andrinas, über ihre sportlichen Höchstleistungen, über ihre Traumatisierung durch falsche Behandlungen in den Kliniken und deren Auswirkungen auf ihr Leben. Immer deutlicher stellt sich heraus, dass auch die Autorin Autistin ist, die endlich eine Antwort auf die Frage findet, warum ihr Leben immer sehr anstrengend und von Erschöpfungsdepressionen geprägt war.
Ursula Hofer ist eine 63-jährige Frau, verheiratet, Mutter von vier erwachsenen Kindern und Grosi von sechs Enkelinnen. Nach Stationen im Südtirol, im Zürcher Weinland und in Bern lebt sie mit ihrem Mann seit vier Jahren in der Ostschweiz.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
3. Andrinas Autismus kommt immer
deutlicher zum Vorschein DONNERSTAG, DEN 3. MÄRZ 2014
Andrinas Zusammenbruch hat Auswirkungen auf ihr Training. Sie hat sich für eine Weile vom Gruppentraining zurückgezogen und den Trainer über ihr Burnout und auch über ihr autistisches Wesen informiert. Seine Antwort kam postwendend. Ihre Begabung stellte er nicht in Frage, aber die Auswirkungen des Autismus auf die Wettkämpfe und ihre Läuferkarriere bezeichnete er als einschneidend. Er schrieb: «Um weiterzukommen, musst du auch im Ausland an Wettkämpfen teilnehmen können, so zum Beispiel an der Cross-Europameisterschaft in Portugal, für die du dich bereits qualifiziert hast. Ist es vielleicht besser, wenn du zuerst die Lehre beendest und bis dann den Trainingsumfang verkleinerst? Du findest nachher sicher den Anschluss wieder. Am wichtigsten ist aber, dass du die Freude am Laufen nicht verlierst!» David, Andrina und ich haben diskutiert, wie es weitergehen soll. Für Andrina ist es klar, dass sie entweder so weitertrainiert wie bisher oder ganz aufhört. Es gibt für sie nur schwarz oder weiss. Sie wird sich eine neue Trainerin oder Trainer suchen, weil sie den Vorstellungen ihres bisherigen nicht mehr genügen kann. Es schmerzt Andrina zutiefst, dass sie nicht «einfach» an Wettkämpfe gehen kann wie andere, dass ihr der Autismus einen Strich durch die Sport- Karriere macht. MITTWOCH, DEN 19. MÄRZ 2014
David und ich sind unterwegs nach Montpellier. Wir werden Marco besuchen. Damit Andrina nicht zu lange allein sein muss, kommt Naemi zu ihr. Wir freuen uns auf diesen Kurzurlaub und darauf, unseren Sohn zu sehen. Als wir nach einer mehrstündigen Zugfahrt in Montpellier ankommen, begeben wir uns zuerst ins Hotel und machen uns nachher zum abgemach ten Treffpunkt mit Marco auf. Er führt uns in ein gemütliches Lokal, und dort geniessen wir die erste französische Mahlzeit. Da ich mitten in einer Ernährungsumstellung bin, sollte ich nicht zu viele Kohlenhydrate zu mir nehmen, vor allem am Abend. Bei der französischen Cuisine klappt das problemlos. Als der Dessert serviert wird, schielt Marco auf meinen Teller. «Mami, das darfst du nicht essen, oder?», fragt er mich. «Da hast du recht, aber den Schlagrahm behalte ich, der ist erlaubt.» Ein wenig enttäuscht lädt er meinen Kuchen auf seinen Teller. Marco erzählt von seinem Alltag, der Ausbildung und von seinen Versuchen, Französisch zu verstehen. «Sie redet halt mega schnäll!» DONNERSTAG, DEN 20. MÄRZ 2014
Am nächsten Tag zeigt er uns sein Zimmer. Zu dritt füllen wir es ziemlich aus. Es kommt mir vor wie eine Koje auf einem Schiff. Jeder Zentimeter ist ausgenützt, damit das Notwendigste Platz findet. Auf der einen Seite das Bett, auf der anderen ein Schreibtisch, getrennt durch einen schmalen Gang. Die Küche ist geeignet, einen Tee heiss zu machen; der Kühlschrank winzig. Wie Marco mit seiner Grösse im Mikrobadezimmer duschen kann, ist mir ein Rätsel. «Mir gefällt es und ich habe alles, was ich brauche!», sagt er. SONNTAG, DEN 23. MÄRZ 2014
Schon ist unser Urlaub vorbei. Donnerstag und Freitag musste Marco an die Universität, aber am Samstag verabredeten wir uns für einen Ausflug ans Meer. Das sei nicht weit, mit dem Fahrrad gut zu erreichen, meinte er. Überall stehen in Montpellier mietbare Räder herum. Also kein Problem. Marco besitzt ein eigenes, welches er auf einem Flohmarkt erstanden hat. Die Fahrt zum Meer führte an Lagunen mit Flamingos und alten knorrigen Bäumen entlang, durch Touristendörfer – und dann standen wir am Meer. Auch wenn es sehr kalt war, wollte David unbedingt baden gehen. Marco und ich verzichteten. Hatte ich beim Abschied Tränen in Marcos Augen gesehen? Ich war auch traurig, dass wir uns nun lange nicht mehr sehen würden. Auf dem Heimweg schrieb ich im Zug an meinem Buch. David schlief. Als wir zuhause ankamen, begrüssten uns Naemi und Andrina mit lustigen Cakepops. Die Zeit bei Marco hatte gutgetan. Weg von Zuhause, Neues sehen und ein wenig am Leben des Sohnes teilnehmen. MITTWOCH DEN 14. APRIL 2014
Andrinas Zusammenbruch im Februar hat bei uns ein Umdenken gefordert. Das Thema Asperger nimmt immer mehr Raum ein. Im Internet und in den Büchern werden gewisse Züge geschildert, die ich auch bei Andrina erkenne. Sie mag Rituale, Routinen, Regelmässigkeiten! Geschieht etwas überraschend, so bringt es sie aus dem Gleichgewicht und sie gerät in Anspannung. Sie wird unruhig, tigert in der Wohnung herum, krümmt sich plötzlich zusammen und ihr Gesicht verzerrt sich zu einer Grimasse. Manchmal schreit sie laut oder wirft etwas durch die Gegend, um Spannung abzubauen. Die Abende, an denen sie zuhause und nicht im Training ist, verlaufen immer nach dem gleichen Schema: Abendessen, Pyjama anziehen, Soko oder Quizsendung anschauen und schlafen gehen. Ein Medikament hilft ihr, schnell einzuschlafen. Oder eine andere Aussage: Autisten sind ehrlich. Das ist Andrina auch. Sie lügt nicht, hat auch als Kind nicht gelogen. Auch ihr Gerechtigkeitsdenken ist ausgeprägt. Wie hat sie gelitten, wenn jemand ungerecht behandelt wurde. «Aber ich wusste nicht, wie ich mich verhalten oder was ich machen sollte», sagte sie mir einmal. Denke ich an die ersten drei, vier Jahre von Andrinas Kindheit, fällt mir in ihrem Verhalten nichts Besonderes auf. Sie entwickelte sich ähnlich wie ihre grossen Geschwister, Martina, Naemi und Marco. Sie war ein richtiger Wonneproppen. Jeden Tag freute ich mich darauf, wenn nach dem Schlafen aus ihrem Zimmer Laute drangen. Öffnete ich die Tür, sass sie meistens im Bettchen, hielt ihr »Nuggelibäbi« im Arm und strahlte mich an. Da die anderen den Kindergarten und die Schule besuchten, hatte unser Tagesablauf eine klare Struktur. Das Aufstehen, die Mahlzeiten und das Schlafengehen liefen fast immer gleich ab. Da fügte sich auch Andrinas Tagesrhythmus bestens ein, und Unvorhergesehenes gab es kaum. Andrina war ein lebenslustiges, fröhliches Mädchen. Sie steckte viel mit den Geschwistern zusammen. Auch mit Kindern im gleichen Alter spielte sie phantasievoll und intensiv. Aber am liebsten bei uns zu Hause. Wenn sie zu den Nachbarskindern gehen wollte, die 50 Meter entfernt wohnten, musste ich sie regelmässig begleiten. Das war mir peinlich. Den Kindergarten konnte sie zusammen mit fünf Nachbarskindern besuchen. Am ersten Tag stolzierte sie inmitten der Schar voraus, wir Mütter hintendrein. Bald schon musste ich sie nicht mehr begleiten, weil sie von ihren Freundinnen abgeholt wurde. Mit ihrem ersten Freund teilte sie die grosse Liebe für Plüschtiere. Stundenlang konnten sie zusammenspielen und in einer ganz eigenen Welt leben. Brachte seine Mutter ihn zu uns, musste sie den Lieferwagen nehmen, um genügend Platz für den Kuscheltier-Transport zu haben! Als Andrina in die erste Klasse kam, schien anfangs auch alles in Ordnung. Klar kam es hie und da vor, dass sie müde war oder am Morgen die Unterhose nicht passen wollte. Aber das waren alles bekannte Phänomene. Auch Martina hatte ihre liebe Mühe mit der Kleidung gehabt, und Marco lief eine Weile nur mit Trainerhosen herum. Letzthin hat mir Andrina erzählt, dass sie sehr froh gewesen sei, dass ihre beste Freundin sich gut mit dem Schulalltag auskannte. »Ich hatte keine Ahnung, was das Läuten der Schulglocke bedeutete oder wann ich das Schulhaus nach der Pause wieder betreten sollte. Sie hat es mir erklärt und das erleichterte mich sehr.« Ein komisches Erlebnis geschah in der zweiten Klasse. Die Lehrerin schickte die Kinder los, um Schnecken zu sammeln, die in einem Terrarium untergebracht wurden. Andrina war begeistert. Als das Thema abgeschlossen war, brachten eine Freundin und sie die Schnecken samt ihrem Zuhause zu uns, um sie weiter zu beobachten. Irgendwann war die Faszination verschwunden, die Schnecken davongekrochen und das Terrarium sollte ins Schulhaus zurückgebracht werden. Mit nichts konnte ich Andrina davon überzeugen, es allein zurückzubringen. Nicht einmal mitkommen wollte sie! So klemmte ich mir das Teil unter den Arm und brachte es zur Lehrerin. Ich war zutiefst verunsichert, ob ich richtig gehandelt hatte. Hätte ich hart bleiben müssen? Hatte ich Andrina zu viel abgenommen? Das Beispiel mit dem Terrarium steht für viele Situationen, in denen David oder ich etwas für Andrina übernahmen, das andere Kinder ohne Probleme selbst machen konnten. Nach solchen Erlebnissen quälte ich mich mit den Gedanken, warum unsere Tochter so kompliziert war und warum sie nicht wie alle anderen funktionieren konnte. Jetzt, mit meinem zwar noch bruchstückhaften Wissen über Autismus, denke ich, dass wir instinktiv richtig gehandelt hatten. Es war Andrina einfach nicht möglich gewesen, solche Sachen zu erledigen, weil sie nicht wusste, wie man das macht, was sie sagen sollte, was die Lehrerin antworten würde und so weiter. Und diese Unsicherheiten bauten sich zu einer unüberwindbaren Mauer auf. Hie und da kam meine Mutter vorbei und nahm Andrina mit nach Dietikon. Einmal machten wir ab, dass sie nach drei Tagen mit dem Zug nach Winterthur kommen und ich Andrina dort...