Wirtschaft ist Gesellschaft, Band 1
E-Book, Deutsch, 112 Seiten
ISBN: 978-3-451-82712-9
Verlag: Verlag Herder
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)
Autoren/Hrsg.
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1.
Soziale Marktwirtschaft: Wirtschaftsordnung als deutsche Legende
Soziale Marktwirtschaft als Versöhnungsidee
Mal wieder ein Buch, so wird der eilige Beobachter denken, das sich in Erinnerungen an gute, aber vergangene Zeit ergeht und das die Hoffnung zu vermitteln versucht, dass es wieder so werden könnte. Ein Buch, das einer längst überkommenen deutschen Besonderheit nachtrauert und aussichtsloserweise eine Renaissance der Sozialen Marktwirtschaft in Zeiten versucht, in denen alles ganz anders zu werden scheint, die historische Dimension des globalen Wandels unserer Wirtschaftsweise von nahezu jedem betont wird. Jetzt, wo so viel so schnell und gleichzeitig zu tun ist, da soll mit der Sozialen Marktwirtschaft der Blick auf ein historisches Konzept, das in Deutschland entwickelt und nur dort praktische Bedeutung erlangte, gerichtet und damit mehr über Ordnungspolitik als Prozesspolitik gesprochen werden. Zugleich wird der Blick auf die dafür grundierende Ordnungsökonomik gelenkt, die in der Wirtschaftstheorie ein ebenso abseitiges – deutsches – Dasein fristet. Das lässt für viele Langweiliges erwarten. Motiviert doch jede deutsche Legende, Affäre, Sonderlösung dazu, in stimmigen, aber blutleeren Bildern das Prinzipielle immer wieder neu zu betrachten und neu zu begründen. »Deutsch sein heißt, eine Sache um ihrer selbst willen so gründlich zu betreiben, bis alle schlechte Laune haben.«1 Das trifft auf viele Beiträge zur Sozialen Marktwirtschaft zu, indem entweder jede Abweichung und jede Ergänzung zum Verrat übersteigert oder der Begriff selbst zum ultimativen Argument in der Auseinandersetzung wird. Nun wäre es leichtsinnig, dagegen das Versprechen zu setzen, in und mit diesem Buch für gute Laune sorgen zu wollen. Aber die Gründlichkeit der Argumentation soll sich nicht auf die Textexegese beziehen, sondern sowohl darauf, was diese deutsche Idee einer Wirtschaftsordnung erklärt und prägt, als auch darauf, was die Herausforderungen unserer Zeit an Fragen aufwerfen und an Neuformulierungen verlangen. Die Soziale Marktwirtschaft als deutsche Wirtschaftsordnung hat mit Ludwig Erhard einen Inspirator, einen Ideengeber, dessen Rolle jedenfalls in der öffentlichen Wahrnehmung weitgehend unbestritten ist. Ihm kommt trotz aller Relativierung2 und Kritik3 in der Erinnerungskultur unseres Landes der Status einer Ikone zu, seine programmatische Schrift »Wohlstand für alle« erlebte immer wieder neue Auflagen.4 Historischer Ausgangspunkt war die Währungsreform 1948, mit der bereits vor der Gründung der Bundesrepublik ein unverzichtbarer Schritt zur Stabilisierung des Geldes und damit des Vertrauens in die neuen Institutionen der Demokratie gemacht worden war – quasi als Import der Alliierten. Das Lob der Sozialen Marktwirtschaft war dadurch stets eng mit der Würdigung der Deutschen Mark verbunden; beides begründete die deutsche Legende. Der Gründungsmythos der Bundesrepublik Deutschland ist die Deutsche Mark.5 Die Erzählung dazu stand unter dem vermittelnden Begriff der Sozialen Marktwirtschaft, die vertrauenswürdige Personifizierung bot – trotz historischer Brüche in seiner Biografie – der Wirtschaftsminister Ludwig Erhard. Das ging erstaunlich lange gut. Seitdem hatte die Soziale Marktwirtschaft in der (deutschen) öffentlichen Debatte stets dann Aufmerksamkeit erhalten und in der medialen Darstellung immer dann Raum, wenn es gesamtwirtschaftlich eher schlecht stand oder wenn große Herausforderungen zu bewältigen waren, mithin Orientierung in besonderer Weise verlangt war und diese aus dem Tun sowie Unterlassen im Tagesgeschäft weder ableitbar noch erkennbar war. Wenn in besonderem Maße Orientierung verlangt ist, und zwar in einer die Lebensbedingungen umfassenden und tiefgehenden Weise, dann jetzt. Denn der Ausstieg aus dem fossilen Zeitalter bedeutet ja nichts anderes als das Ende der energietechnischen Grundlagen der in den vergangenen zwei Jahrhunderten – zunächst im transatlantischen Westen, dann in den Schwellenländern – erfahrenen Industrialisierung. Der vollständige Umstieg auf eine nichtfossile Energieversorgung benennt die historische Größe der Aufgabe, von der keiner weiß, wie sie gelingen kann, aber alle hoffen, dass sie gelingen wird. Das mag den gegenwärtig großen Zuspruch zur Sozialen Marktwirtschaft erklären.6 Es geht heute um die Frage, wie das Wirtschaften aller Akteure – private Haushalte, Unternehmen, Staat, Zivilgesellschaft – unter den Bedingungen transnationaler Strukturen so organisiert werden kann, dass die Koordination dieser einzelnen Akteure im Sinne der gewünschten Transformation stattfindet, dass Zuständigkeiten, Kompetenzen und Verantwortlichkeiten sowohl konsistent als auch deckungsgleich sind, dass die Steuerung im Zeitablauf die Innovationspotenziale hebt und die dadurch sich neu definierenden Anpassungsleistungen moderiert. Es geht um die zeitgemäße Ordnung der Wirtschaft. Der Begriff der Wirtschaftsordnung ist von hoher Abstraktheit, nicht anders als der Begriff der Verfassungsordnung. Die Verfassung ordnet im Generellen, damit wir uns im Alltäglichen weitgehend konfliktfrei bewegen können. Die Verfassung definiert Prinzipien und Rechtsgrundsätze, die dafür maßgeblich sein sollen und die Rechtssystematik des Landes prägen; Freiheit des Einzelnen, Volkssouveränität, Wahlrechtsgleichheit, Gewaltenteilung und Repräsentativität, Rechtsstaatlichkeit sowie uneingeschränkte Wirksamkeit der universellen, mehrheitsresistenten Menschenrechte. Nicht anders gilt das für die Ordnung der Wirtschaft, indem sie in der Verfassungsordnung Strukturen schafft, um dem Alltag einen Rahmen zu geben und Entlastung zu gewähren. Wie die Verfassung so bedarf die Wirtschaftsordnung der zeitgemäßen Deutung und gegebenenfalls der Anpassung. Wirtschaftliche Ordnung und politische Ordnung müssen den gleichen Grundsätzen folgen, wobei das Menschenbild dafür zentral ist. Eine der Demokratie gemäße Wirtschaftsordnung ist nach unserem kulturellen Verständnis eine, die auf folgenden Prinzipien beruht: (1) Grundsatz der Freiheit und Selbstverantwortung auf der Basis geschützten Eigentums, (2) Grundsatz der Subsidiarität für staatliches Handeln, (3) Grundsatz der Solidarität in der Mitverantwortung, (4) Primat des Rechts, (5) Wirksamkeit der universellen, mehrheitsresistenten Menschenrechte. Der Sinn der Politik – so hat Hannah Arendt es formuliert – ist die Sicherung der Freiheit. Eine Wirtschaftsordnung in der Demokratie hat dem genauso zu entsprechen, ohne das Gemeinsame der Gesellschaft aus dem Auge zu verlieren. Eine Wirtschaftsordnung in der Demokratie ist – wegen der Dynamik eines entscheidungsoffenen Systems – zwingend eine laufende Gestaltungsaufgabe, um die grundsätzlichen Orientierungen mit den Bedingungen und Bedürfnissen der Gegenwart zu verbinden. Wenn dies kontinuierlich gelingt, dann erlangt eine spezifische Lösung hohes Ansehen. So verhält es sich mit der Sozialen Marktwirtschaft. Dabei wird deutlich, dass die Soziale Marktwirtschaft stets mehrere Gesichter aufweist; manche Betrachter begnügen sich mit dem Begriff und den zugeordneten Ideen sowie Erwartungen, Interessierte mit theoretischem Anspruch suchen nach der systematischen sowie konsistenten Beschreibung des Regelwerkes, und handlungsorientierte Personen fragen nach der Praxis der Wirtschaftspolitik als Reflex der Wirtschaftsordnung. In der Wirklichkeit der Politik zeigen sich die Prozesse aus Versuch und Irrtum angesichts sich wandelnder Herausforderungen, damit auch als Geschichte von Fortschritt und Krisen. Das macht den Blick zurück so attraktiv. Dabei wird deutlich, dass für die Soziale Marktwirtschaft gilt, was für die Demokratie eher zweifelhaft diskutiert wird: Es ist eine deutsche Affäre, und zwar wegen ihrer versöhnenden Kraft.7 Denn das Verhältnis der Deutschen zur liberalen Wirtschaftsweise, das durch die Erfahrungen der Zwischenkriegszeit – durch Hyperinflation und Weltwirtschaftskrise – zerrüttet worden war, ist mit diesem Konzept versöhnt worden, es greift in seiner Wirkung weit über den engeren Sachzusammenhang der Wirtschaftspolitik hinaus, in dem Fragen der Bildung (duale Berufsausbildung, Tradition der technisch orientierten Hochschulbildung) und des sozialen Ausgleichs (Tarifautonomie, Sozialpartnerschaft, Sozialversicherung) besonders beantwortet oder zuvor entwickelte deutsche Lösungen integriert wurden. Versöhnend wirkte auch die schnelle Einbindung Deutschlands in die Weltwirtschaft aufgrund dieser wirtschaftsordnungspolitischen Grundlage. Vom Wirtschaftswunder bis zur Agenda 2010
Die Soziale Marktwirtschaft erlangte durch ihre für die Menschen im Lebensstandard und der Kaufkraft der Währung sehr schnellen und so nicht erwarteten greifbaren Erfolge nach dem tiefen ökonomischen, politischen und moralischen Bankrott des Jahres 1945 eine hohe Strahlkraft. Auch im Ausland – in Frankreich gab es mit den »Trente Glorieuses« eine im Ergebnis, aber nicht in den Ursachen (staatliche Industrie- und Infrastrukturpolitik) vergleichbare Erholung – wurde diese mit Erstaunen gewürdigt. Der Economist interessierte sich bereits 1952 für die starke Erholung Deutschlands als Phönix aus der Asche: »First, there was the currency reform, and the accompanying restoration of freedom to the price system. … The currency reform, could not have been succeeded without...