E-Book, Deutsch, 704 Seiten
Kesey Seemannslied
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-7550-5060-5
Verlag: MÄRZ Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 704 Seiten
ISBN: 978-3-7550-5060-5
Verlag: MÄRZ Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ken Kesey, geboren 1935 in La Junta, Colorado, studierte ab 1959 an der Stanford University im kalifornischen Palo Alto Kreatives Schreiben. Nachdem er mit ?Einer flog über das Kuckucksnest? (dt. Erstausgabe 1972 bei MÄRZ) Welterfolg gelandet hatte, gründete Kesey eine Kommune bei San Francisco. Sie nannten sich Merry Pranksters. Mit einem alten Schulbus, den sie bunt bemalten und Further tauften, tourten sie quer durch Amerika. Bei den sogenannten Acid-Tests lud Ken Kesey die Öffentlichkeit ein, die bewusstseinserweiternden - und als zukunftsweisend gefeierten - Wirkungen von LSD selbst zu erleben. Begleitet von Musik und Farben wollten sie neue Formen der Wahrnehmung erkunden. Die Tour wurde zum Mythos, festgehalten in Tom Wolfes Buch ?The Electric Kool-Aid Acid Test?. In den 90ern zog sich Kesey auf seine Farm in Eugene, Oregon zurück. Dort arbeitete er an seinem letzten Roman ?Seemannslied?. Im November 2001 starb er. Milena Adam, geboren 1991 in Hamburg. Sie lebt und arbeitet als Lektorin, Übersetzerin und Dolmetscherin aus dem Französischen und Englischen in Berlin. Volker Weidermann, geboren 1969 in Darmstadt geboren, war Literaturkritiker bei der taz, der Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung und dem Spiege. Heute ist er Kulturkorrespondent bei der ZEIT. Weidermann war Gastgeber des ?Literarischen Quartetts? im ZDF. Zu seinen Buchveröffentlichungen gehören u. a. ?Das Buch der verbrannten Bücher? (2008), ?Ostende? (2014) und ?Träumer? (2017) und ?Mann vom Meer. Thomas Mann und die Liebe seines Lebens? (2023).
Weitere Infos & Material
Vorwort
Er hatte nur dieses eine kleine Ziel: die Welt auf den Kopf zu stellen. Und die natürliche Ordnung der Dinge umzukrempeln: Unser Alltag, unsere Gewöhnlichkeit, unsere Müdigkeit, unsere ständige Angst vor Katastrophen, unsere tägliche Anpassung an die Systeme des Normalen – das alles war der Gegner. Der musste besiegt werden. Nicht durch Kämpfe oder Kriege. Sondern durch leuchtende Vorbilder. Durch einen Blitz. Eine Busfahrt. Durch Romane. Durch ihn. Ken Kesey.
Er war Schriftsteller und Guru, er liebte es, neue Welten zu erkunden, vor allem innerlich, mithilfe von LSD und anderen, damals neuartigen Substanzen, er war ein Eroberer und ein Visionär, er hätte Sekten gründen und anführen können, wenn er dazu Lust gehabt hätte. Aber er wollte einfach leben, Neues ausprobieren, Spaß haben, Musik machen, schreiben, Menschen befreien, sich nicht langweilen. Nachdem Ken Kesey früh in einer Psychiatrie gearbeitet und das System der brutalen Ruhigstellung jedes von der Norm abweichenden Lebens erfahren hatte, schrieb er 1962 mit Einer flog über das Kuckucksnest einen Roman von revolutionärer Kraft, aus dem nicht nur einer der besten Hollywoodfilme aller Zeiten entstand, sondern der auch Leserinnen und Lesern auf der ganzen Welt Einblicke in das Innere eines Zwangssystems ermöglichte. Als hätte man einen grellen Scheinwerfer in eine abgedunkelte Ecke der Gesellschaft gerichtet. Um etwas zu ändern. Etwas Grundsätzliches. Menschen zu befreien. Oder sie wenigstens menschlich zu behandeln.
Ken Kesey kam 1935 in Colorado auf die Welt und wuchs in Oregon auf dem Lande auf. Er studierte in Stanford Kreatives Schreiben und führte aber vor allem ein kreatives Leben. Er hat nur drei Romane geschrieben, zwei Jahre nach dem Kuckucksnest noch Manchmal ein großes Verlangen, dann lebte er vor allem, machte Musik zusammen mit dem Merry Pranksters, schrieb Essays, Kinderbücher, Reportagen, feierte, arbeitete auf seiner Farm, führte spontane Theaterstücke auf und fuhr hauptsächlich mit seinem Bus umher. Jenem Bus, Furthur, den er selbst sein größtes Kunstwerk nannte, mit dem er, zusammen mit den Grateful Dead, mit Neal Cassady am Steuer, 1964 von der amerikanischen Westküste nach New York gefahren war, um dort das Erscheinen seines zweiten Romans zu feiern. Der Reporter Tom Wolfe war mit an Bord und schrieb seinen legendären Reportageroman darüber, in dessen Mittelpunkt Ken Kesey stand: Der Electric Kool-Aid Acid Test. Spätestens seit dem Erscheinen dieses Buches war Kesey eine lebende Legende. Und fügte seinem Werk viele, viele Jahre später nur noch diesen einen Roman hinzu, Seemannslied. Der jetzt endlich, endlich – mehr als dreißig Jahre nach seinem Erscheinen – auf Deutsch vorliegt. So lange hat er vor sich hin gelebt, nun, nicht gerade im Verborgenen, wir konnten ihn ja auf Englisch lesen, aber für uns deutsche Leser eben doch nicht direkt greifbar. Wie herrlich, dass er jetzt da ist und ein bisschen ist es auch so, als sei nun genau der richtige Moment, denn er spielt ja in unserem Jahrzehnt, in unserem Heute, das Ken Kesey gar nicht kennen konnte, da er im November 2001 gestorben ist und die Bezirke des Sichtbaren erst einmal verlassen hat. Aber er schaute ja stets über den Horizont hinaus, über seine eigene, enge, kleine Zeit. Hinüber zu uns, in unsere Gegenwart, in der die Zerstörung der Umwelt so weit fortgeschritten ist wie es auch Ken Kesey in dunklen Visionen nicht vorhersehen konnte. Und wir uns in ein Kuinak des Geistes zurückziehen. Zum letzten, verzweifelten aber gut gelaunten Gefecht, optimistisch, siegesgewiss, wider alle Wahrscheinlichkeiten. Wir haben ihn, wir haben Ken Kesey, wir haben seinen Geist an unserer Seite.
Ich habe ihn im Sommer 1998 einmal besuchen dürfen. Er lebte am Rande der Cascade Mountains, in der Nähe von Eugene, Oregon. Irgendjemand hatte mir seine Telefonnummer gegeben, ich rief ihn an und er meinte nur, klar könne ich vorbeikommen: »Beim Känguru-Schild rechts rein, wir wohnen in einem Stall.« Die Fahrt dorthin war schon ein kleines Abenteuer gewesen, ich lebte damals für ein paar Monate in Eugene, einer mittelgroßen Universitätsstadt im Norden von Oregon, die nicht zuletzt durch Kesey und seine ferne Präsenz zu einer höchst angenehmen, lebens- und farbenfrohen, entspannten Hippietown geworden war. Er kam immer noch regelmäßig mit seinem bunten Bus und seinen Freunden zu einer Parade in die Stadt. Alle liebten ihn. Ich hatte mir einen sehr alten silbernen Oldsmobile mit roten Plüschsitzen gekauft, hatte irgendwie vergessen vorher zu tanken und dann eine »Abkürzung« über eine menschenleere Holzfällerstraße durch die Wälder genommen. Die Tankanzeige stand die ganze Zeit auf rot, ich verfluchte meine Sorglosigkeit und schaffte es aber irgendwie mit dem letzten Tropfen zu Keseys Stall.
Ich war so froh, endlich anzukommen. Er beachtete mich kaum, er hatte Freunde da, sie wollten Football schauen und Whisky trinken. Ich tat einfach, was alle taten, schaute zu, trank gemächlich und war still. Kesey sah aus wie ein alter Bär mit wenig weißen Haaren. Beim Footballschauen sprach er gar nicht, später wenig. Er zeigte mir seine Welt. Und auch wenn er, in Folge eines leichten Schlaganfalls, nicht mehr ganz bei Kräften zu sein schien, war er eine eindrucksvolle Erscheinung. Ich hätte mich ihm gern und sofort und vorbehaltlos angeschlossen. Wohin auch immer er mich geführt hätte. Kesey hat Tom Wolfe, damals auf der Reise, von einem Erlebnis in Mexiko erzählt, er hatte etwas Acid genommen und das I Ging »geworfen«, also befragt. Er trat vor die Tür und ein Sommergewitter ging herunter. Und er erinnerte sich: »Ich hob die Arme, und ein Blitz zuckte auf, und mit einem Mal hatte ich eine zweite Haut – aus Blitzen, aus Elektrizität, es war wie ein Anzug aus Strom, und da wusste ich, dass es in uns steckt, Superhelden zu sein, und dass wir Superhelden werden können. Superhelden oder gar nichts.«
Der Anzug aus Strom ist ihm geblieben, auch wenn er selbst ein bisschen müde geworden war. Der große Stall, in dem er mit seiner Frau lebte, war umgeben von Feldern und einem kleinen Wäldchen. Dorthin führte er mich als erstes. Mit einem großen Messer schnitt er uns einen Pfad durch wildes Brombeergestrüpp, er murmelte, die seien erst vor hundert Jahre hier eingeschleppt worden und wenn es vor 500 Jahren hier schon Brombeeren gegeben hätte, wäre Amerika nie von Europäern besiedelt worden. Dann stehen wir vor einem grau-bunten Gerippe aus Stahl, ganz umwachsen von Brombeeren und anderen Pflanzen, fast schon selbst zu Natur geworden. Der alte Bus, Furthur, der Erste. Hier hat er ihn abgestellt. Nie wieder wird der fahren. Endstation Wildnis.
In einer großen hallenartigen Garage neben dem Stall steht der Nachfolger, herrlich grell-bunt, mit kleinem goldenen Gaukler als Kühlerfigur, einem »High Pride«-Slogan daneben. Eine Erscheinung. »Der Bus barg gewaltige Möglichkeiten, wenn es darum ging, die normale Ordnung der Dinge auf den Kopf zu stellen«, schrieb Tom Wolfe. Und Kesey sagte: »Wir hatten die Euphorie an Bord.« Jetzt schläft das alte Gefährt hier. Wir steigen ein, ich auf dem Beifahrersitz. Wie sehr bin ich bereit loszufahren, über Land, Richtung New York oder Kuinak. Kesey am Steuer, der Anlasser räuspert sich, räuspert sich und schweigt. Wir steigen aus, ein paar Freunde werden von drüben aus dem Wohnstall gerufen, Motorhaube auf, fachkundiges Rumschrauben, Horchen, Schrauben. Kesey und ich wieder rein, Schlüssel drehen, Hoffnung, Räuspern, Stille. So geht das ein paar Mal hin und her. Mit zähem Willen hofft Kesey auf Belebung des bunten Kunstwerks. Leider vergeblich.
Wir gehen dann hinaus in die Sonne. Er holt seinen Traktor raus, der startet problemlos, er zieht einen Anhänger hinter sich her, auf dem eine große Blechwanne voll Wasser steht. Er bittet mich, hinten draufzuspringen, gibt mir einen Eimer in die Hand und wir fahren eine lange Reihe von Apfelbäumen entlang, ich schöpfe mit dem Eimer Wasser aus der Wanne und gieße die Bäume. Dann halten wir vor einem selbstgemalten Schild vor einem kleinen Erdloch, »Beware, Whoozle!« steht darauf. Kesey ist abgestiegen, winkt mich zu sich ans Erdloch und sagt, wir wollen doch jetzt mal schauen, ob Whoozle zu Hause ist. Wer das sei? »Ein Erdgeist, freundlich, friedlich, etwas scheu«, erklärt er mir. Er beugt sich hinab, ruft ins Loch hinein: »Whoozle! Whoozle, wir haben Besuch! Bitte melde dich!« Dann legt Kesey den Kopf schief, hält das Ohr ans Loch, lauscht und strahlt. »Er ist da! Er lacht! Er hat gute Laune!« Er winkt mich ran, das müsse ich unbedingt selber hören. Ich lege mein Ohr an die Höhle du ich höre ganz deutlich ein Rufen aus der Tiefe der Erde, ein Lachen, ein Räuspern, ein Husten. Was will mir Whoozle sagen? Wahrscheinlich nur, dass dort unten etwas ist. Dass wir auf einem Geheimnis gehen, eigentlich immer. Dass wir die Ohren offen halten sollen und die Augen und die Nase und alle Sine, die wir haben. »Der Bullshit der Welt hat zu einer Verstopfung unserer Großhirnrinde geführt«, lässt Tom Wolfe seinen Ken Kesey sagen. Es kommt darauf an, diese Verstopfung zu lösen. Uns zu befreien. Dafür waren Kesey viele Mittel recht. LSD vor allem, Gemeinschaft mit guten, hellen, positiven Leuten, Verbot von jeder Negativität, jeder Nörgelei, Moserei, Routine, Skepsis, Ablehnung. Stattdessen: Offenheit, Neugier, laute Musik. Erdgeister rufen, Whisky trinken, Paraden planen. Natürlich habe ich ihn auch nach weiteren Romanen gefragt, zukünftigen...




