E-Book, Deutsch, Band 1, 380 Seiten
Reihe: Wiener Psychoanalyse-Krimis
Kneifl Der Wolf auf meiner Couch
1. Auflage 2024
ISBN: 978-3-7099-8445-1
Verlag: Haymon Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ein Wien-Krimi
E-Book, Deutsch, Band 1, 380 Seiten
Reihe: Wiener Psychoanalyse-Krimis
ISBN: 978-3-7099-8445-1
Verlag: Haymon Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Edith Kneifll ist die Grande Dame der österreichischen Krimiszene und prägt diese seit Jahrzehnten entscheidend mit. Zuletzt zeigte sie uns mit ihren Urlaubskrimis, dass man nicht einmal unterm Sonnenschirm vor Mord und Totschlag sicher ist, nun schlägt sie düsterere Töne an. Selbst vom Fach, lässt sie tief in die Köpfe ihrer Protagonist*innen blicken.
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TEIL I
November
Heftige Böen machten der kleinen Maschine schwer zu schaffen. Ich klammerte mich an die Lehnen meines Sitzes, schloss die Augen und malte mir den Aufprall des Fliegers neben der Landebahn und die darauffolgende Explosion aus.
Der Wiener Flughafen war vergrößert worden. Durch nicht enden wollende Gänge gelangte ich zum Ausgang.
Der persische Taxifahrer schien mich für einen Touristen zu halten.
Ich war nach wie vor sehr nervös. Um mich abzulenken, plauderte ich mit ihm über das verheerende Novemberwetter.
Er versuchte, mich zu beruhigen.
„Angeblich wird es nur noch morgen kalt und stürmisch sein, danach soll es wärmer werden. Sie hätten lieber im Frühjahr kommen sollen. Im Frühling ist Wien am schönsten.“
Dann wechselte der alte Mann das Thema, erzählte mir von seiner Flucht vor dem brutalen Schah-Regime im Jahre 1974.
Ich besitze die Fähigkeit, gut zuhören zu können. Und aufmerksame Zuhörer sind eben ideale Opfer für Leute, die sich ihr persönliches Elend von der Seele reden wollen.
Als wir uns der Stadt näherten und der Verkehr dichter wurde, begann er sich über die Unfreundlichkeit der Wiener zu beklagen. Automatisch pflichtete ich ihm bei.
Mich überfiel eine gewisse Schwere. Ich fühlte mich erdrückt und niedergeschlagen angesichts der zahlreichen Neubauten und Kräne, die vor uns in den dunklen Himmel ragten.
„Rund um den neuen Hauptbahnhof wird viel gebaut“, informierte mich mein Fahrer und versicherte mir, dass die Wohnungen hier ein Vermögen kosteten und daher nur für die Slim-Fit-Generation erschwinglich wären.
Erst als wir die Prinz-Eugen-Straße hinunterfuhren und die Statue des Rotarmisten am Schwarzenbergplatz in Sicht kam, erkannte ich die Stadt, in der ich geboren und aufgewachsen war, wieder.
Kolossale Gebäude aus weißem Stein mit riesigen Portalen und goldenen Türbeschlägen, imposante Stiegenaufgänge, protzige Denkmäler, Najadenbrunnen und neoklassizistische Paläste. Was für eine schwülstige Architektur! Ich bildete mir ein, helle Knabenstimmen zu hören, und sah vor meinen Augen weiße Pferde im Dreivierteltakt tanzen.
Ich war fünfundzwanzig Jahre lang weg gewesen, und von dem neuen Hauptbahnhof abgesehen, schien sich nicht viel verändert zu haben, obwohl sich alles anders anfühlte.
* * *
Um sechs Uhr früh erwachte ich in einem Hotelzimmer. Das Licht der Straßenbeleuchtung sickerte durch die Vorhänge. Durch das gekippte Fenster drang Verkehrslärm von der stark befahrenen Landesgerichtsstraße.
Ich hatte Kopfschmerzen. Der Schmerz meldete sich zuerst hinter meiner rechten Augenhöhle. Er verstärkte sich, strahlte bald über die ganze Stirn aus. Ich massierte mir sanft die Schläfen. Es half nichts. Das monotone Pochen ließ nicht nach. Vielleicht lag es an den beiden Beruhigungstabletten, die ich vor dem Flug genommen hatte?
Meine Flugangst war allerdings nicht der Grund, warum ich meine Heimatstadt über zwanzig Jahre lang nicht besucht hatte. Von Berlin aus hätte ich genauso gut mit dem Auto oder mit der Bahn öfter nach Wien fahren können.
Mein Zimmer hatte zwei große französische Fenster. Eines ging nach vorn auf die vierspurige Straße hinaus. Ich schob den Vorhang ein Stück beiseite und sah hinunter.
Menschenleere Straßen. Im Schein der Lampen malten sich die Kanten der Gehsteige deutlich von der Fahrbahn ab. Die Schatten der Hausdächer zitterten auf dem nassen Asphalt. Immer wieder blitzten Lichtstrahlen vorbeirasender Autos zwischen den Blättern der Bäume auf.
Ich ging zum anderen Fenster, schaute auf eine schmale düstere Gasse.
Hier waren die Männer der MA 48 bereits bei der Arbeit. Wortlos und ohne überflüssige Bewegungen entsorgten sie den Abfall der Stadt.
Der Parkettboden meines Zimmers war glattpoliert und erinnerte mich an die Böden in der Wohnung meiner Eltern.
Auf einmal schlug mir mein Puls bis zum Hals. Ich bekam kaum mehr Luft. Typische Vorzeichen einer Panikattacke.
Ich holte den Beutel für Erbrochenes, den ich im Flieger sicherheitshalber an mich genommen hatte, und atmete hinein. Zweimal. Dreimal. Viermal. Fünfmal. Sogleich fühlte ich mich besser.
Meine Muskeln entspannten sich, mein Brustkorb weitete sich. Ich schnäuzte mich in eine Serviette und öffnete beide Fenster.
Erleichtert sog ich die frische Luft ein und beschloss, auf das Hotelfrühstück zu verzichten. Unterwegs würde ich sicherlich irgendwo einen Kaffee bekommen. Appetit hatte ich ohnehin keinen.
Ich spazierte zum Parlament und dann den Ring entlang. Vor dem Palais, in dem ich meine Kindheit und Jugend verbracht hatte, verschnaufte ich kurz.
Die Wohnung hatte meinen Großeltern mütterlicherseits gehört. Mein Großvater war ein berühmter Arzt und überzeugter Nazi gewesen. Er hatte meinem Vater, also seinem Schwiegersohn, lange nach dem Krieg beruflich alle Wege geebnet.
Rasch ging ich weiter bis zur Oper. Der Anblick des altehrwürdigen Gebäudes, in dem ich mir als Student stundenlang die Beine in den Bauch gestanden hatte, rührte mich an. Meine Augen wurden feucht, als ich mich an die grandiose Tosca erinnerte, die ich als Achtzehnjähriger hier gehört hatte. Tja, Oper ist eben Gefühl pur!
Dieser Anfall von Sentimentalität ging vorüber, als ich die neuen Hotels und die Ringstraßengalerien erblickte. Anscheinend war die Wiener Innenstadt, die früher einem Freilichtmuseum geähnelt hatte, richtig elegant geworden. Die mondänen neuen Häuser passten perfekt zu dem alten imperialen Prunk.
Der äußere Schein war in Wien schon zu Zeiten der Monarchie sehr wichtig gewesen. Glänzende Fassaden, hinter denen sich das übliche psychische Elend verbarg. Was das betraf, kannte ich mich aus. Schließlich war ich in einer riesengroßen Altbauwohnung in einem der weniger grandiosen Ringstraßenpalais aufgewachsen.
Als ich das Hotel Imperial erreichte, beschloss ich, doch zu frühstücken. Mein Kreislauf spielte verrückt. Vielleicht war es keine so gute Idee gewesen, mich nüchtern auf den Weg zu machen?
War im Imperial eine Krawatte erforderlich? Ich war noch nie in diesem berühmten Hotel. Und ich trug prinzipiell keine Krawatten. Der schwarze Anzug, der graue Trenchcoat und der neue dunkelgraue Hut mit dem schwarzen Seidenband, den ich mir in einem Duty-Free-Shop am Berliner Flughafen besorgt hatte, mussten genügen.
Nach einem Blick auf die jungen, sehr sportlich gekleideten Gäste, die an der Rezeption herumalberten, entkam mir ein Lächeln. Offensichtlich hatten sich auch in Wien die Zeiten geändert.
Im Café entschied ich mich für einen Tisch beim Fenster und amüsierte mich über die neugierigen und neidischen Blicke der ersten Passanten, die geschäftig...




