E-Book, Deutsch, 288 Seiten, ePub
Küng Wir kennen uns doch kaum
1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-0369-9648-6
Verlag: Kein & Aber
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 288 Seiten, ePub
ISBN: 978-3-0369-9648-6
Verlag: Kein & Aber
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Max Küng, geboren 1969 in Maisprach bei Basel, ist seit 1999 Reporter und Kolumnist beim Magazin des Tages-Anzeigers. Neben diversen Veröffentlichungen erschienen zuletzt seine Kolumnensammlung Die Rettung der Dinge und seine Romane Wenn du dein Haus verlässt, beginnt das Unglück und Fremde Freunde. Wir kennen uns doch kaum ist sein Romandebüt. Max Küng lebt in Zürich.
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Kapitel 1
Wir sehen: einen Mann. Er hat eben seine Wohnung verlassen, mit dem Schlüssel abgeschlossen, einmal, zweimal, zur Sicherheit die Falle heruntergedrückt. Nun geht er die Treppe hinunter. Die Wohnung befindet sich im ersten Stock eines Hauses aus der Jahrhundertwende. Ein ziemlich unscheinbares Haus, wie es viele gibt in diesem Teil der Stadt, mit zwei Wohnungen auf jeder der fünf Etagen, Zweizimmerwohnungen, Dreizimmerwohnungen, Größere kaum. Ein Neuanstrich innert den nächsten paar Jahren wäre keine schlechte Idee. Vor dem Haus steht ein Baum, eine Birke, dürr wie ein finnisches Model. Das Haus liegt an einer ruhigen Seitenstraße, benannt nach einer Burg, die heute nur noch eine Ruine ist, zerfallenes Gemäuer, Steine, Löcher, überwachsen, überwuchert, irgendwo, ein Dutzend Kilometer vor der Stadt auf dem Land. Es ist noch nicht lange her, da feierte der Mann seinen 30. Geburtstag. Er feierte ihn so, wie man einen 30. Geburtstag feiert: in einer Bar, mit seinen fünf besten Freunden, von denen sich zwei auf dem Heimweg mehr als einmal übergeben mussten. Der Mann trägt die Haare kurz, er war, ohne zu lange zu überlegen, in ein T-Shirt mit einem ironischen Aufdruck auf der Brust geschlüpft. Es ist ein grünes T-Shirt, das er bei Urban Outfitters gekauft hatte, der weiße Aufdruck zeigt die Strichzeichnung eines für amerikanische Verhältnisse kleinen Wohnmobils, und über dem Van steht «MINI VAN» und darunter «MEGA FUN»: Ironie war die Ritterrüstung der Zeit. Des Weiteren trägt der junge Mann eine schlabbrige hellbraune Hose im Military-Look von H&M, hellbraune Turnschuhe von K-Swiss mit fünf Streifen auf der Seite und eine Faserpelzjacke von Prada, die er herabgesetzt gekauft hatte. Sie war zwar immer noch um ein Mehrfaches teurer gewesen als eine normale Faserpelzjacke, wie sie Förster trugen, von Helly Hansen beispielsweise, aber eine Faserpelzjacke von Prada, erstanden im Ausverkauf, das war ein Kleidungsstück mit einer Botschaft, und die Botschaft war: Der Typ, der es trägt, der ist einfach ziemlich cool. Nun ja, das fand er damals, als er das Teil kaufte, und er fand es, als er es eben angezogen hatte, und er findet es auch jetzt noch, als er im Hausflur steht. Hätte der Mann sich im Spiegel betrachtet, so ganz in Braun gekleidet, er hätte nichts dagegen sagen können, hätte jemand bemerkt, er sehe aus, als habe er sich in einem mächtigen Hundehaufen gewälzt.
Im Treppenhaus ist das Licht gedämpft. Es könnte heller sein, aber die Fenster sind schon lange nicht mehr richtig geputzt worden. Der Mann ist von Beruf Journalist, er schreibt für eine Zeitung, die alle nur «das Käseblatt» nennen. Auch der Mann selbst nennt die Zeitung bloß «das Käseblatt». Das hat damit zu tun, dass das Käseblatt ein richtiges Käseblatt ist. Die letzte Geschichte, die der Mann für das Käseblatt geschrieben hatte, bestand aus hundert Worten über einen Küchenbrand, den die Feuerwehr schnell unter Kontrolle gebracht hatte: Jemand wollte im Ofen sein Abendessen aufwärmen, er schaltete ihn ein und verließ die Küche, doch statt des Ofens hatte er den Herd eingeschaltet, auf dem der Wasserkocher stand. Als der Mann zurückkehrte, brannte der Wasserkocher und Teile der Küche. Es gab kaum Sachschaden, schon gar keine Verletzten, von Toten ganz zu schweigen. Bloß die Straßenbahnen konnten vor dem Haus für kurze Zeit nicht verkehren, denn die Feuerwehr musste die Schläuche über die Gleise verlegen, wegen des Hydranten. Es geschah nicht viel in der Stadt, in der der junge Mann lebte. Vor einem Jahr hatte er ein Fixum erhalten, 2000 im Monat, davon bezahlt er die Zweizimmerwohnung sowie ein winziges Büro, das er in einer alten Wurstfabrik gemietet hat. Hier und dort verdient er dann und wann etwas dazu, mal mehr, mal weniger, mal auch nichts. Oft vergisst er, Rechnungen zu schreiben. Noch öfter vergisst er, Rechnungen zu bezahlen. Er kennt den Weg zum Betreibungs- und Konkursamt, und der Mann am Schalter dort kennt den jungen Mann mit den K-Swiss-Turnschuhen mittlerweile auch, begrüßt ihn freundlich mit Namen, wenn er am letztmöglichen Tag erscheint, um eine Rechnung bar zu begleichen, die um vieles höher ist, als sie sein müsste, wegen all der Gebühren und Spesen. Und wenn der Beamte zu seinem Schreibtisch ging, um auf einem Rechenapparat die Gesamtsumme zusammenzutippen mit hartem Zeigefinger, und der Rechenapparat mit hektischem Geräusch die weiße Papierrolle ausspuckte, Stück für Stück, herausstreckte wie eine bleiche Zunge, die immer länger wurde und länger, da dachte der Mann mit den K-Swiss-Turnschuhen: Irgendwann, irgendwann hab ich das im Griff mit den Rechnungen, dann werde ich immer pünktlich zahlen, irgendwann bestimmt, ich geh gleich danach in die Papeterie und kaufe mir Plastikmäppchen und mache To-do-Listen. Gerne hätte er das alles dem Mann hinter dem Schalter erzählt, hätte ihm berichtet, dass er sich bessern würde, sofort, aber der Mann hinter dem Schalter wollte nur den Betrag, diesen aber passend.
Der Mann, der eben die Wohnung verlassen hat, er ist auf dem Weg zum Flughafen, von wo er nach Berlin fliegen wird. In Berlin hat er zwei Dinge vor. Eines hat mit der Arbeit zu tun und ist nicht so wichtig. Ein Interview mit einer Rockband, die kaum jemand kennt. Das andere: Er wird eine Frau treffen, die er nicht kennt, aber irgendwie doch. Die Frau hat er noch nie gesehen. Seit einem Jahr aber schreiben sie sich: Sie schreiben sich Briefe, Postkarten, E-Mails, SMS, das volle Programm. Sie chatten. Und einmal haben sie auch telefoniert, aber ohne etwas zu sagen. Sie sagte nichts. Er sagte nichts. Da war bloß Vogelgezwitscher im Hintergrund auf ihrer Seite, Verkehrslärm auf der seinen, dazwischen atmosphärisches Rauschen und Zeit, die verging. In Berlin würden sie sich nun das allererste Mal treffen. Im Hotel Forum am Alexanderplatz. So hatten sie es abgemacht in einer Mail. Der Mann ist deswegen mächtig aufgeregt. Man sieht ihm das nicht an, aber er trägt es mit sich rum wie die Wechselkleider in seiner Reisetasche. Ziemlich aufgewühlt ist er sogar. Hätte er sagen müssen, auf die Schnelle, wie er sich fühlte, jetzt, in diesem Moment, er hätte wohl gesagt: «Als trete ich eine wichtige Prüfung an, die zu bestehen ich mir nicht sicher bin.»
Er hatte geduscht. Er hatte frische Unterhosen angezogen, neue Socken ebenfalls, ja, er hatte extra neue Socken gekauft, auch im H&M, ein Dreierpack. Er hatte sich recht lange die Zähne geputzt. Er hatte sich mit je einem Ohrenstäbchen den Schmalz aus den Gehörgängen geholt. Er hatte an seinen Schuhen gerochen, bevor er sie anzog, zuerst an der Sohle, dann am Eingang der Höhlen, wo seine Füße tagsüber wohnten (die Schuhe rochen okay, fand er). Er hatte in den Spiegel geblickt und sich zugezwinkert, was ihm im selben Moment, in dem er es tat, lächerlich vorgekommen war. Der Mann, den wir nun sehen, wie er die Treppe hinuntergeht, er heißt Moritz.
Es war der 12. April des Jahres 2001, und die alten Treppenstufen knarrten, als er hinunterging, nicht besonders schnell, nicht besonders langsam, die Reisetasche in der Rechten. Er trat auf die Straße und wollte los zur Bushaltestelle, aber er hielt inne und blieb einfach stehen. Er versuchte sich zu erinnern, ob er auch tatsächlich die Türe zugeschlossen hatte, versuchte es wirklich, aber er konnte nicht sicher sein. Er hörte nicht den Vogel in der Birke vor dem Haus, der sich seines begrenzten Gesangs bediente. Ein «jirr tititi», ein «krchrch-tütititi». Er sah nicht den Müllwagen, der lärmend durch die Straße fuhr mit hinten dranhängenden Männern in leuchtend orangefarbenen Uniformen, hörte nicht, wie sie laut debattierten über das Sonntagsspiel, den Sieg von Udinese über Cagliari und die rote Karte in der 48. Minute, sah nicht den einen Müllmann, der eine aufgerauchte Zigarette wegschnippte, erstaunlich weit, einen hohen Bogen beschreibend. Auch den Geruch bemerkte er nicht, den der Müllwagen hinter sich herzog wie ein unsichtbares Wesen, einen müffelnden Geist. Er sah nicht das Flugzeug am Himmel. Er sah nicht die Wolke, die wabernd weiß aus dem hohen Schlund des Fernheizwerkes kam. Er sah die Dinge nicht, die die Welt waren in jenem Augenblick. Er dachte bloß an den Schlüssel und das Schloss und seine Finger und ob diese Finger seiner Hand den Schlüssel in das Schloss gesteckt hatten, ihn auch wirklich gedreht hatten, einmal, zweimal, ob er das klackende Geräusch aus dem Schließzylinder gehört hatte. Hatte er? Hatte er nicht? Es wollte ihm nicht einfallen. Also hielt er inne, blieb stehen, überlegte, die Tasche zog an seinem Arm, aber er widerstand dem Impuls, nochmals die Treppen hochzugehen, zu spurten, zu hechten und die kalte eiserne Türfalle herunterzudrücken, bloß um zu sehen, dass die Türe tatsächlich verschlossen war, was sie sicher wäre, bestimmt, doch, doch. Er würde sich nur dumm vorkommen, nach diesem unsinnigen Kontrollgang, «Du bist neurotisch», würde er zu sich selbst sagen, einmal, zweimal, was natürlich erst recht neurotisch wäre, wenn man mehrmals zu sich selber sagt, man sei neurotisch. Aber er war nicht neurotisch, das wusste er. Nein. Er war ganz normal. Und wenn schon: Wer sollte schon auf die Idee kommen, von all den Tausenden von Wohnungstüren dieser Stadt gerade seine zu wählen, um zu sehen, ob sie eventuell nicht verschlossen war. Dazu müsste einer ja erst einmal ins Haus kommen. Absurd. Er griff fester nach der Tasche, ging weiter, um die Ecke, zur Busstation. Die Tasche kam ihm erstaunlich schwer vor. Er hatte nicht viel gepackt, hatte gedacht, er brauche ja nicht viel. Aber immer, wenn er dachte, er brauche nicht viel, für ein paar Tage bloß in einer anderen Stadt, kam doch einiges zusammen. Und warum auch musste er auf die Idee kommen, Wein mitzubringen. Er wollte mit ihr...