E-Book, Deutsch, 248 Seiten
Küper BELICHTUNGSZEIT
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-95765-800-5
Verlag: p.machinery
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ausgewählte Erzählungen 2003-2019
E-Book, Deutsch, 248 Seiten
ISBN: 978-3-95765-800-5
Verlag: p.machinery
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Thorsten Küper, 1969 in Herne geboren, gehört seit Ende der Neunzigerjahre zu den führenden Autoren der deutschsprachigen spekulativen Ideenliteratur. Gespeist von seinen eigenen Erfahrungen als Blogger, Journalist, Online-Moderator und Veranstalter virtueller Kulturveranstaltungen, hat er in seinen Kurzgeschichten einen unverkennbar eigenen, ebenso scharfzüngigen wie witzigen Stil entwickelt. Die vorliegende Sammlung präsentiert erstmals eine Auswahl seiner besten Erzählungen, teilweise in Neubearbeitung, und entstand in enger Zusammenarbeit mit dem Autor.
Autoren/Hrsg.
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Der Atem Gottes
(2004)
Wie der eisige Atem eines zornigen Gottes traf ihn der Fahrtwind, drang in die winzigen Öffnungen seiner Kleidung, bahnte sich sogar einen Weg unter den Helm und ließ seine Augen tränen. Über Villon erstreckte sich ein unglaublich klarer Sternenhimmel, wie man ihn selbst hier nur in einer unendlich schwarzen und kalten Nacht erleben kann. Den Scheinwerfer konnte er nicht einschalten, sonst hätte man ihn bereits von Weitem sofort gesehen. Trotzdem trieb er das ATV mit Höchstgeschwindigkeit über die endlose Ebene. Das grüne Bild, welches das Nachtsichtgerät lieferte, war trügerisch, enthüllte Hindernisse wie größere Felsbrocken oder den Kadaver eines Wildpferdes oft erst in letzter Sekunde. Nur die Vibrationen des Lenkers unter seinen Händen verrieten, wie zerklüftet der Untergrund wirklich war. Mehr als einmal verriss eine Bodenwelle die Vorderräder, und es gelang ihm nur mit Glück, die Kontrolle über die Maschine zurückzuerlangen.
Ódádhahraun war eine unwirkliche Landschaft. Eines der größten Lavafelder der Erde, zurückgeblieben nach einem gewaltigen Vulkanausbruch. Früher ein Ort, an den Straftäter verbannt wurden, heute das ideale Gebiet, um Wissenschaftler wie ihn in eine Art Forschungsexil zu schicken. Etwas anderes als eine Verbannung war es nicht gewesen. Eine Sklaventätigkeit im Dienste anonymer Profiteure. Parasiten, die sich an den Früchten seiner Arbeit nährten, ihm jedoch jede Anerkennung verweigerten. Ein Forschungsgebiet wie das seine verurteilte einen Wissenschaftler zur Namenlosigkeit. Fachzeitschriften erwähnten seine Person niemals, wohl aber seine Ergebnisse. Ganz gleichgültig, wie brillant diese auch waren, würde ihm dafür niemals jemand die Hand schütteln, geschweige denn eine angemessen hohe Überweisung auf sein Konto tätigen.
Ja, Villon hatte keine Zweifel an der Richtigkeit seines Entschlusses. Die hatte er nie gehabt. Zu lange hatte er seine Fähigkeiten in den Dienst des Konzerns gestellt - jetzt war es an der Zeit, die Ernte einzubringen. Er würde seinen Kunden nur die CD zeigen müssen. Das würde sie überzeugen. Zumindest wenn es ihm gelang, sich durchzuschlagen.
Sebing hatte ihm zwar keinen Strich durch die Rechnung gemacht, ihn aber immerhin gezwungen, viel früher zu fliehen als ursprünglich geplant. Lange vor dem verabredeten Zeitpunkt, an dem sie ihn nahe der Station abholen sollten. Also blieb ihm nichts anderes übrig, als so nah wie möglich an die Küste zu kommen. Bevor die Jäger des Konzerns die Suche nach ihm aufnahmen.
Er hatte den Gedanken noch nicht beendet, als er den Sog spürte. Ein Blick über die Schulter offenbarte eine seltsame sternlose Fläche direkt über ihm. Ein riesiger Umriss zeichnete sich am Himmel ab.
In einem absurden Fluchtversuch gab er Vollgas. Der scharfe Schmerz holte ihn mühelos ein, grub seine Krallen tief in seine Schulter. Von dort breiteten sich Wärme und Taubheit in seinem ganzen Körper aus, raubten ihm das Gefühl in Armen und Beinen. Villon schwanden die Sinne, noch bevor das Vorderrad des ATV gegen einen Felsen prallte und die Maschine sich überschlug. Während sein Körper einige Meter weit durch die Luft segelte, erfüllte die schwarze Nacht bereits seinen Kopf.
Er wankte durch die verwischte Realität eines weißen Korridors, dankbar für die Nachwirkungen des Betäubungsmittels, die zwar seine Glieder schwer werden, ihn aber auch endlich zur Ruhe kommen ließen. Ein Mann ging voraus, ein anderer folgte ihm. Sie drängten ihn nicht, stützten ihn lediglich, wenn seine Knie nachgaben. Endlos lange Korridore wie diese waren über Jahre hinweg Villons Heimat gewesen. Weißes künstliches Licht war für ihn zu Sonnenlicht geworden. Doch unter den langsam nachlassenden Nachwirkungen des Betäubungsmittels wirkten diese Korridore schräg, schienen die Fluchtlinien nicht mehr nur scheinbar zusammenzulaufen. Vielmehr war es, als würde der Gang wirklich enger, als hätte ein Architekt hier einen surrealen Entwurf in ein reales Gebäude umgesetzt.
Die offenen Türen zu beiden Seiten des Korridors, hinter denen sich Büros und kleine Labors verbargen, erschienen ihm wie Löcher im Beton, die bizarre Kreaturen in die Wände gegraben hatten. Im Vorbeigehen glitt sein Blick über die spärliche Einrichtung eines der Büros, in dem sich ein Mann im weißen Hemd mit Krawatte darum bemühte, Akten zu stapeln. Hinter sich hatte er bereits mehrere Türme aus Büchern aufgeschichtet. Er hielt kurz in seiner Tätigkeit inne, betrachtete seinerseits den verschmutzten Mann zwischen seinen hochgewachsenen Begleitern. Villon meinte etwas wie Furcht oder Zorn in diesem Blick zu lesen und musste lächeln, als er das Zimmer hinter sich gelassen hatte. Statt Türen folgten zur Linken und Rechten nun eine ganze Reihe von Fenstern. Sie mussten sich in einem der brückenartigen Übergänge zwischen den vier Gebäuden befinden, die sich wie die Ecktürme einer Festung in den Himmel erhoben. Im Verlauf seiner Arbeit war er in den letzten Jahren etwas öfter als ein Dutzend Mal in der Konzernzentrale gewesen. Meistens hatte man ihn bei seinen wenigen Aufenthalten behandelt wie einen Star.
Die meiste Zeit hatte er jedoch oben in Island in Komplex 8 verbracht.
Rotes Dämmerungslicht legte sich immer dann warm auf seine Haut, wenn er an einem der nach Osten gewandten Fenster vorbeiging. Gerade stieg die Sonne über bewaldeten Hügeln auf - ein Anblick, der nicht nur wunderschön, sondern erfreulich real war. Er stellte fest, dass es ihm von Minute zu Minute besser ging.
Kurz hinter der Brücke begegneten sie einer blassgesichtigen, mit ihrem kurz geschnittenen Haar fast unfeminin wirkenden Frau mit einem riesigen Stapel Bücher auf dem Arm. Dieses Mal war er sich sicher, dass ihr Blick nicht furchtsam, sondern zornig war. Er drehte sich nicht um, um herauszufinden, ob es sich nur so angehört oder ob sie wirklich ausgespuckt hatte, nachdem sie an ihm vorbeigegangen war.
Schließlich führten sie ihn in einen der großen Räume, wie er sie aus zahlreichen Konferenzen kannte. Eine hohe Wand für Projektionen, Plasmadisplays mit Keyboards, die vor jedem Sitzplatz in die Tischplatte eingelassen waren und hochgeklappt werden konnten. Der Projektionsfläche gegenüber erstreckte sich eine Wand aus schwarzem Glas. Zur anderen Seite hin war sie lichtdurchlässig, wie Villon wusste. Dort hielten sich üblicherweise Berater und Psychologen auf, die die Konferenzteilnehmer aufmerksam beobachteten und ihre Analysen an die Konzernleitung übermittelten. Bei der Aushandlung von Verträgen waren diese unsichtbaren Berater besonders wichtig, denn sie konnten entscheidende Hinweise darauf geben, ob Verhandlungspartner etwas verschwiegen oder wie man sie effektiv in die Enge treiben konnte.
Heute würden sie hier Villon verhören. Zwar sprachen sie ihm gegenüber nur von einer Befragung, aber letztendlich war das nichts anderes als ein Verhör. Er wusste das, und sie wussten, dass er es wusste.
Ohne zu zögern, nahm Villon am Kopf des Konferenztisches Platz, gegenüber der Glaswand. Schließlich ging es um ihn. Er war die Hauptfigur. Sollten sie ihn ruhig anstarren, all die Experten auf der anderen Seite. In gewisser Weise wollte er ihnen ins Gesicht lachen.
Keine Minute später betrat der andere Mann den Raum. Hochgewachsen und in einem Anzug, wie er für den Konzern üblich war, nahm er Platz, nicht ohne sich jedoch vorher seines Jacketts zu entledigen. Es würde lange dauern, aber das hatte Villon gewusst.
»Wie geht es Ihnen, Doktor Villon?«, erkundigte er sich ungewöhnlich leise, wobei er eine Akte auf den Tisch legte, dann das Plasmadisplay aus der Tischplatte herausklappte, ohne den Angesprochenen auch nur eines Blickes zu würdigen. »Es war leider nötig, Ihnen eine hohe Dosis zu verabreichen«, führte er weiter aus, ebenso leise, während er einige Dateien aufrief. Dann endlich richtete er den Blick auf Villon. Er war etwa Ende dreißig, hatte dünnes dunkles Haar und trug eine abgerundete Brille, wie sie zu einem jungen Studenten gepasst hätte. Sein grauer Dreitagebart fiel an den Wangen ebenso spärlich aus wie sein Haupthaar. Er musste Außergewöhnliches geleistet haben, wenn man ihn mit der Untersuchung der Ereignisse in Komplex 8 betraut hatte.
Villon lächelte. »Verabreichen? Das klingt, als hätten Sie mir ein Beruhigungsmittel in den Tee gemischt. Ihre Leute haben mich mit einem Betäubungsprojektil niedergeschossen wie ein Tier.«
In seinem betont leisen Tonfall fragte der andere lediglich: »Wieso sind Sie vor uns geflohen, Doktor Villon?«
Der Angesprochene betrachtete seine eigenen Hände. »Wie heißen Sie?«
»Wenn Ihnen das unser Gespräch erleichtert. Mein Name ist Merz.«
»Wir können uns den ganzen Aufwand sparen, Herr Merz. Komplex 8 besteht nur noch aus einem rauchenden Loch im Boden.« Er zwinkerte dem jüngeren Mann zu. »Ich könnte Ihnen allerdings die Daten anbieten.«
Eine Falte wie eine Spitze in einem Diagramm huschte über Merz’ Stirn. »Das führt uns zu der Frage zurück, wieso Sie geflohen sind.«
»Ich hatte Angst um mein Leben«, erklärte Villon lächelnd. »Plötzlich hing dieses Ding über mir. Sind Sie schon mal mit den Waffensystemen eines Comanche konfrontiert worden?« Der Helikopter war plötzlich da gewesen. Hätte er den ursprünglichen Zeitplan einhalten können, wäre er von einem anderen Hubschrauber abgeholt worden, bevor ihn das Ding aufgespürt hatte. Sebing hatte seine Pläne durchkreuzt.
»Und wieso hatten Sie Angst? Schließlich waren Sie aus Komplex 8 entkommen. Als einziger Überlebender.«
Villon fuhr sich mit der Hand durch das fettige zerzauste Haar. Er hatte bislang noch keine Gelegenheit...




