Laabs | Adlergestell | E-Book | www.sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 240 Seiten

Laabs Adlergestell

Roman | »So wie Laabs bewegte Bilder beschreibt, wünscht man sich mehr Gegenwartsliteratur, ambitioniert, waghalsig, manchmal einen Schritt zu weit gehend, nie gleichgültig gegenüber ihrem Gegenstand.« FAS
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-608-12466-8
Verlag: Klett-Cotta
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman | »So wie Laabs bewegte Bilder beschreibt, wünscht man sich mehr Gegenwartsliteratur, ambitioniert, waghalsig, manchmal einen Schritt zu weit gehend, nie gleichgültig gegenüber ihrem Gegenstand.« FAS

E-Book, Deutsch, 240 Seiten

ISBN: 978-3-608-12466-8
Verlag: Klett-Cotta
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Wie beginnt man ein Leben am Ende der Geschichte? Drei Mädchen vom Stadtrand, Center Shock auf der Zunge, abgerissener Mercedesstern um den Hals. Das sechsspurige Adlergestell vor der Nase. Ostberliner Kindheit um 1990. Sie sind frei. Das wird jedenfalls behauptet. Freier als ihre Mütter, die sich verlieren in den Wirren des Umbruchs. Freier als ihre Großmütter, die noch immer verfolgt werden von den Gespenstern der Vergangenheit. Die drei Mädchen wollen ihr Leben selbst in die Hand nehmen. Doch als sie merken, dass auch die neue Freiheit Grenzen hat, kommt es zum Knall. Lenka, Chaline und die Erzählerin wachsen Tür an Tür auf, an der großen Berliner Ausfallstraße, dem Adlergestell. Beste Freunde, unzertrennlich, trotz oder wegen der völlig verschiedenen Milieus, aus denen sie kommen. Mit dem Schulanfang treten sie ein in das Chaos nach dem »Ende der Geschichte«. Das schmeckt so süß und prickelt so sauer wie die neuen Center Shocks. Doch die großen Erwartungen zerplatzen so schnell wie ihre Kaugummiblasen. Denn den Adler kümmert ihre Existenz wenig und ein Gestell gibt keinen Halt. 35 Jahre danach beginnt die Erzählerin eine Spurensuche. Warum haben sie sich verloren? Was hat ihre Vergangenheit, die ihrer Mütter und Großmütter, mit den Verwerfungen von heute zu tun? Und hatten sie überhaupt eine Chance? Ein furioser Nachwenderoman, der mitten in unsere Gegenwart führt. »Laura Laabs schildert eine Gegenwart, die Anfang der 90er Jahre gerade in die Zukunft abrutscht. Und die Vergangenheit sitzt auch noch mit an der Kaffeetafel und trinkt Eierlikör. Ein Buch, das souverän durch die Zeiten spaziert.« Jenny Erpenbeck

Laura Laabs ist freie Regisseurin und Autorin. Sie studierte Politik und Filmwissenschaft sowie anschließend Filmregie an der Hochschule für Film und Fernsehen »Konrad Wolf« in Potsdam-Babelsberg. Sie ist als Hörspielregisseurin und realisierte hier u. a. die große Hörspielproduktion zu Mädchen, Frau etc. nach dem Bestseller von Bernardine Evaristo. Ihr Spielfilmdebüt »Rote Sterne überm Feld« gewann den Kritiker-Preis beim Max Ophüls Festival und beim achtung berlin Filmfestival u.a. die Preise für bester Film und bestes Drehbuch. Mit einem Auszug aus »Adlergestell« war sie zum Ingeborg-Bachmann-Preis 2025 eingeladen. Sie lebt in Bad Kleinen und Berlin.
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Annas Wohnung war nicht weit. Aber in Annas Wohnung war man weit weg. Selbst das Rauschen der Straße war kaum mehr zu hören. Etwas Anderes flüsterte durch die Räume, wie ein Rieseln von Putz oder vielleicht ein Nagen von ganz feinen Zähnchen.

Die schweren Möbel standen unverrückt, die Igelit-Tischdecke wehte in keinem Wind, und am geschlossenen Fenster trocknete dekadenlang ein Strauß. Die Reihen in den hölzernen Regalen buchrückenbunt. Dazwischen galoppierten Gipspferdchen, so mürbe schon, dass sie jeden Moment zu zerfallen drohten. Sie blieben am Platz in all den Jahren zwischen Tolstoi und Brecht und Wolf, auch als lange keine Hand mehr nach den Bänden griff.

Die Wohnung wartete, wie ein ausgestopftes Tier, ein Lenin im Glassarg, ein Fossil, das die Existenz einer fernen Epoche bezeugt, in der wenig besser, aber manches anders war.

Gut möglich, dass die Bücher eines Tages wieder aufgeschlagen werden, so wie das Schneewittchen wieder lebt, nach dem Kuss. Und das könnte man mit Lenin ja auch mal probieren. Vielleicht muss die Anna ihn küssen. Alle reden immer von der Anna, als wäre sie eine Nachbarin, dabei geht es um die Anna. Sie soll bedeutende Werke in diesen bescheidenen Räumen geschrieben haben. Mitten in einem nichtssagenden Vorort. Unserem Vorort.

Wir aber wussten nichts von Anna Seghers und ihren schlafenden Büchern, und sie interessierten uns auch nicht. Annas Wohnung war gar nicht weit. Und oft hörte man hier unser Geschrei auf der Straße. Sie war gleich um die Ecke, zwischen der Eigenheimgasse und der Telefonzelle. Gleich über Böhms Gemüseladen. Der hingegen interessierte uns. Denn hier hatte sie eingeschlagen, die fröhliche Bombe des Kapitalismus.

Die Stiegen mit Rotkohl und Rüben waren weg. Aus gleißenden Plastikboxen winkten Happy Cherries mit gummierten Armen. Angebissene Äpfel grinsten neonneu vom Etikett, als könnten sie ihren eigenen Verzehr nicht erwarten. Fred Ferkel rissen wir die Schaumschweineohren ab. Weiße Mäuse sahen uns aus roten Augen an, bis wir sie mit den Zähnen guillotinierten. Dr. Lab kam der Qualm aus den Ohren, während er War Heads an uns verteilte. Colakracher explodierten im Mund. Head Bangers sprengten die Schädeldecke. Und Center Schocks stoppten den Herzschlag gleich ganz.

Über Nacht war der alte Konsum in den neuen Krieg des Konsums eingetreten, und wir waren seine Söldner. Stolz trugen wir die ersten Münzen des echten Gelds in den »Gemüse«-Laden. Frau Böhm, plötzlich mit Pudellöckchen, kassierte ab, als ob es kein Gestern gäbe, und wir erlebten den Marktwert am eigenen Leib: Auf weiße Mäuse musste man sparen, die Turboschnüre gab es unverzüglich und sofort. Wie ab jetzt alles. Dachten wir.

*

Der Tag meiner Einschulung war eine einzige Enttäuschung. Dabei bekam ich zwei Zuckertüten, eine davon sogar passend zu meinem neuen Scout-Rucksack und dem Sportbeutel. Aber der Rucksack selbst war das Problem. Alle Kinder trugen stolz ihren eckigen Ranzen vor – wobei eigentlich hinter – sich her. Also einen dieser synthetisch bezogenen Kästen, obligatorisch mit Hot Wheels oder Disney-Prinzessinnen drauf. Meine Mutter aber hatte irgendwo gelesen, dass diese Form der Wirbelsäule schadet, und so bekam ich einen ergonomischen Rucksack. Und zu allem Übel keinen mit pinker Cinderella, oder wenigstens mit Arielle in Türkis, sondern einen mit blau-grünem Dschungelmuster, der genauso gut zu einem Jungen gepasst hätte. Lenka, die gegenüber wohnte und schon mit mir im Kindergarten war, hatte zwar einen hässlichen Turnbeutel, auf den jemand Würfel gepatchworkt hatte, aber immerhin einen richtigen Ranzen, von dem kess ein Westi mit Schleife kläffte.

Lenka, deren Haar so voll und weich war, ihre Augen so groß und hell und ihre Lippen so rund und pudrig, dass sie mich an bunte Raupen erinnerten. Lenka, die ausgelassen und komisch sein konnte, wenn wir zu zweit waren. Lenka, die einen Hamster hatte und manchmal Stubenarrest. Es gab den leichten, dann durfte ich sie in ihrem Zimmer besuchen, und den schweren, dann durfte sie tagelang keiner sehen. Erst später ahnte ich, was wir nicht sehen durften. Aber da war es schon zu spät. Lenka, deren Vater das Wohnzimmer hochheizte bis zum Anschlag, mürrisch in kurzen Sporthosen vor dem Fernseher saß und Bier trank. Er hieß Wulf, aber wir durften ihn nicht so nennen. Ich sagte »Sie« und Lenka meistens gar nichts. Wir gingen ihm aus dem Weg, wenn er im Haus war, was in letzter Zeit viel öfter vorkam. Wenn er uns doch bemerkte, starrte Lenka auf den Boden, während er sprach, und antwortete erst, wenn er mit der Frage schloss, ob »wir uns verstanden« hätten: Ja.

Feierlich wurden wir in das Klassenzimmer geführt, dessen Wände beige, grau und abwaschbar lackiert waren und an denen, wie zur Warnung, lustlose Bastelarbeiten früherer Klassen prangten.

Für Frau Liebig waren wir die erste Klasse nach dem Ende des Klassenkampfs. Als sie vor uns trat, richtete sie den Blick auf einen Fluchtpunkt jenseits unserer Köpfe und schien sich am liebsten in ihrem lila-grauen, schultergepolsterten Zweiteiler verstecken zu wollen. Alle Lehrbücher waren über Nacht ungültig geworden. Man sollte meinen, dass immerhin das Alphabet verlässlich geblieben und auch zuvor kein X für ein U verkauft worden war. Aber während in der Fibel noch gestern »Pepe zu den Pionieren« und »Mutti früh zur Arbeit« ging, kam heute »Mimi zu Mama ins Haus«.

Fast war ich bereit, ein bisschen Mitleid mit Frau Liebig zu haben. Doch da traf mich die nächste Enttäuschung: Ich durfte nicht neben Lenka sitzen, weil wir schließlich hier seien, »um viele neue Freunde zu finden«. Und so landete ich neben Chaline.

Chaline, die ich bisher nur von Weitem durch die Siedlung hatte stromern sehen, meist zusammen mit ihrem großen Bruder Ronny, von dem es hieß, dass er den Wald angezündet habe. Die Tatsache, dass der Wald noch stand, tat dem Mythos keinen Abbruch. Klar war, dass man sich von den Geschwistern fernhielt. Chaline, die ich einmal durchs Wohnzimmerfenster beobachtet hatte, als sie unsere kleine Eigenheimgasse herunterkam, gefolgt von Ronny, halb unbekümmert, halb gelangweilt. Chaline, deren Gang irgendwie lässig und trotzdem angespannt war, mit hochgezogenen Schultern und rundem Rücken, wie dauernd zum Absprung bereit. Genau an der Hecke zu unserem Vorgarten war sie stehen geblieben, und unsere Blicke hatten sich durchs Glas getroffen. Sie hatte mich spöttisch angesehen, so als wäre ich der Hamster im Käfig. Das Blitzen in ihren Augen hatte mich erschreckt und ich war einen Schritt vom Fenster weggetreten. Chaline, die sich nun mit genau diesem Blick neben mich setzte, wobei sie den Stuhl laut über den Linoleumfußboden schabte.

Es folgte die dritte, aber längst nicht letzte Enttäuschung. Frau Liebig gab Schreiblernhefte aus, die hatten fünffach geteilte Zeilen, vom Keller bis zum Dach, und würden in Zukunft als Raster dienen, nicht nur für unsere Schulausgangsschrift, sondern für unsere Sicht auf die Welt selbst: also durch Stäbe. Dazu bekam jeder einen Aufkleber mit seinem Buchstabentier. Chaline sollte das Q wie Qualle abkriegen, was ich ihr herzlich gönnte. Doch sie wehrte sich vehement, bis sie mit einem prächtigen L-Löwen aus dem Kampf hervorging. Nun blieb der Albtraum jedes Ostseeurlaubs an mir hängen. In meiner Kehle stieg ein Protestschrei auf. Doch Frau Liebig, die rasch ihre Autorität wiederherstellen musste, drückte die Qualle entschlossen auf mein Heft. Nur ich konnte sehen, dass ihre Hand dabei zitterte. Zu widersprechen traute ich mich trotzdem nicht.

Wir hatten die Zeilen mit dem kleinen und dem großen Eff auszufüllen. Warum ausgerechnet das Eff, blieb offen. So beugten wir unsere Köpfe über das Heft und vor dem Befehl und schrieben das erste Datum hinein.

Die Schulstunde schien viel länger zu dauern, als ihre vergehenden Minuten es hergaben. Sie zog einen Graben durch die Zeit, der ein Vorher und ein Nachher hinterließ. Es war der Herbst 1990.

Am Ende sollten alle singen, ein Lied von Rolf Zuckowski. Frau Liebig spielte dazu Gitarre, den Text musste sie aber ablesen: Januar, Februar, März, April – die Jahresuhr steht niemals still.

Erleichtert strömten wir durch die Glastüren hinaus aus dem Betongebäude, das in seiner umstandslosen Funktionalität sowohl in unserem Vorort als auch im Zentrum der Stadt zu finden war, ja sogar bei den Cousins in Hoyerswerda und wahrscheinlich auch bei den Brüdern und Schwestern in Ham’hung. Draußen erwarteten uns Eltern mit Sonnenblumen. Wulf trug eine lange Hose, wie wir erleichtert feststellten. Meine Mutter sah schön aus und winkte erwartungsvoll mit der Blume. Die Einzige, auf die niemand wartete, war Chaline. Ich schlich gedemütigt von der Stunde und vom Rucksack auf meine Mutter zu. Sie übersah das, während die Lehrerin ihr noch mit gespielter Heiterkeit die Hand schüttelte.

Lenka und ich trotteten unseren Eltern hinterher. Verwundert bemerkten wir, dass Chaline uns folgte, beharrlich und stumm.

– Wohnt die auch in der Siedlung?, flüsterte ich.

– Ja, aber in der Straße am Wald, wusste Lenka.

Plötzlich hatte Chaline aufgeholt und riss mir den Rucksack vom Rücken. Ich fuhr sie an, Lenka stimmte ein, doch Chaline hielt meine Schultasche umklammert.

– Na, willste zurückhaben?

Ich war unschlüssig. Fast schien es wie eine gute Gelegenheit, das blöde Ding schnell loszuwerden. Aber ich konnte die Geiselnahme auch nicht einfach hinnehmen. Direkt neben uns parkte eines jener Autos, die es vorher nicht gab und von denen die Leute nun gar nicht genug bekommen konnten. Chaline deutete mit dem Kinn auf den Stern vorn auf der Kühlerhaube.

– Brich den ab!

Ich sah sie fragend...


Laabs, Laura
Laura Laabs ist freie Regisseurin und Autorin. Sie studierte Politik und Filmwissenschaft sowie anschließend Filmregie an der Hochschule für Film und Fernsehen 'Konrad Wolf' in Potsdam-Babelsberg. Sie ist als Hörspielregisseurin und realisierte hier u. a. die große Hörspielproduktion zu Mädchen, Frau etc. nach dem Bestseller von Bernardine Evaristo. Ihr Spielfilmdebüt 'Rote Sterne überm Feld' gewann den Kritiker-Preis beim Max Ophüls Festival und beim achtung berlin Filmfestival u.a. die Preise für bester Film und bestes Drehbuch. Mit einem Auszug aus 'Adlergestell' war sie zum Ingeborg-Bachmann-Preis 2025 eingeladen. Sie lebt in Bad Kleinen und Berlin.

Laura Laabs ist freie Regisseurin und Autorin. Sie studierte Politik und Filmwissenschaft sowie anschließend Filmregie an der Hochschule für Film und Fernsehen 'Konrad Wolf' in Potsdam-Babelsberg. Sie ist als Hörspielregisseurin und realisierte hier u. a. die große Hörspielproduktion zu Mädchen, Frau etc. nach dem Bestseller von Bernardine Evaristo. Ihr Spielfilmdebüt 'Rote Sterne überm Feld' gewann den Kritiker-Preis beim Max Ophüls Festival und beim achtung berlin Filmfestival u.a. die Preise für bester Film und bestes Drehbuch. Mit einem Auszug aus 'Adlergestell' war sie zum Ingeborg-Bachmann-Preis 2025 eingeladen. Sie lebt in Bad Kleinen und Berlin.



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