Lechner | Die Verwilderung | E-Book | www.sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 392 Seiten

Lechner Die Verwilderung


1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-7017-4756-6
Verlag: Residenz
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 392 Seiten

ISBN: 978-3-7017-4756-6
Verlag: Residenz
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



'Die Verwilderung' ist zugleich anrührend und absurd, total abgefahren und sehr vertraut: Martin Lechner gelingt eine atemberaubend wilde Mischung. Marlies ist nicht zu beneiden: Den Sommer vor dem Abitur soll sie bei ihrer verwirrten Oma verbringen, um ihr das Haus als Erbe abzuschwatzen. Seit einer Weile macht sich auch an ihrer linken Hand eine unheimliche Schwellung bemerkbar, die nicht vergehen will. Was wie eine Coming-of-Age-Geschichte beginnt, hebt ab zu einem tragikomischen Roman u?ber Angst und Scham und Selbstbehauptung. Denn als Marlies sieht, dass ihr eine Klaue aus dem Finger wächst, die bald ein unheimliches Eigenleben entwickelt, beginnt eine rasende Suche nach Rettung - und die Ereignisse u?berschlagen sich. Martin Lechner versteht es, eine rätselhafte Geschichte so mitreißend zu erzählen, dass wir mit dem gefährlichen Mädchen bangen, das sich vielleicht in ein Raubtier verwandelt ...

geboren 1974, Studium der Philosophie und Literaturwissenschaft an der Universität Potsdam. Martin Lechner lebt in Berlin. Sein Debu?troman 'Kleine Kassa' stand auf der Longlist des Deutschen Buchpreises 2014, sein Erzählband 'Nach fu?nfhundertzwanzig Weltmeertagen' auf der Shortlist fu?r den Clemens-Brentano-Preis 2017. 'Der Irrweg' (2021) wurde vom Berliner Senat gefördert. 'Die Verwilderung' (2025) ist sein dritter Roman.
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3


Obwohl sie natürlich recht hatte, dachte ich, während der Fahrstuhl sich leise schabend in die Höhe bewegte. Seit Mama Wolfram aufgegabelt hatte, beziehungsweise er sie, im Fumée, einer Kneipe gleich hinter dem Stadttheater, die er nach seinem Rauswurf offenbar als eine Art Notbühne benutzt hatte, wurde es fast jeden Abend laut. Anfangs, im Dezember, hatte ich es noch ertragen können. Da war bloß ein Flüstern aus dem Schlafzimmer gedrungen, ein Hauchen, manchmal ein kleines Gekicher. Auch war er nur ein- oder zweimal pro Woche zu Besuch gewesen. Bald aber, schon im Februar, nach seinem Einzug, waren andere Geräusche zu hören, und nicht erst nachts, sondern auch am Abend, am Wochenende manchmal schon morgens, ein Geschnaufe und Gehechel, das sich bis in die Küche verbreitete, bis in mein Zimmer und mein Bett, wo ich mir die Hände auf die Ohren drückte. Irgendwann hielt ich es nicht mehr aus. Ich hatte das Gefühl, wenn ich noch einen einzigen Laut hören müsste, irgendein Keuchen oder Quietschen, dann würde ich explodieren, wenn ich nichts sagte. Denn bisher hatte ich, statt etwas zu sagen, nur selbst Geräusche gemacht, Lerngeräusche, Lebensgeräusche, hatte gehustet und geredet, am Telefon, auch wenn niemand dran war, hatte mir zahllose Frösche aus dem Hals geräuspert und gesungen, falsch und laut und fürchterlich, wie eine Komplizin, die Deckung gab.

Aber vor fast zwei Monaten, am Montagabend nach dem ersten Juniwochenende, zwei Tage nach Flos Abschiedsparty, da hatte es mich vor lauter Zorn und Ekel aus dem Bett gefedert. Und mit einem Mal hatte ich in der Wohnzimmertür gestanden. Und konnte für Sekunden den Blick nicht abwenden von diesem vierbeinigen, vielarmigen, zweiköpfigen Wesen, das auf unserer zersessenen Kratzstoffcouch schmatzend die Münder aufeinanderpresste. Die Vorstellung, selbst einmal aus so einem Gegrabbel und Gestöhne hervorgegangen zu sein, wie Mama und Wolfram es da veranstalteten, im grünlichen Licht einer Fernsehserie, an einem Montagabend um zehn, ließ mich erstarren. Ich stand auf der Schwelle zum Wohnzimmer, hatte eigentlich bloß um Ruhe bitten wollen, auch wenn Ruhe nahezu unmöglich war in unserer höllisch hellhörigen Wohnung, aber jetzt brachte ich nichts mehr heraus, keinen Satz und kein Wort, nicht den kleinsten Laut. Durch das Fenster schaute der Mond herein, das pupillenlose Riesenauge, das hier oben besonders gut sichtbar war. Ringsherum dehnte sich das All, die unfassbare Schwärze, durch die der Erdball kreiste.

»Schau an, Madame ist da«, brummte Wolfram mit seinem heiseren Schauspielerbass. Obwohl er älter war als Mama, vielleicht fünfzehn Jahre älter, ähnlich wie Papa, der sogar noch älter gewesen war, wirkte er jünger, geradezu jungenhaft und dumm. Er hatte einen seiner dünnen, wollig behaarten Schenkel über Mamas Schoß gespreizt und trug eine kurze, gelbe Sporthose. Zunächst erkannte ich ihn gar nicht. Rote Schmierspuren auf den Wangen, Lippenstift, gierig glänzende Augen, feuchte Zähne, wie ein Kojote, der in einer halbtoten Beute herumgebissen hatte. Er hob die Arme in die Luft und spreizte die Finger, vermutlich um anzuzeigen, dass er ein edler Unschuldsknabe war und ich die zickige Sittenpolizei. Seit er letztes Jahr, offenbar wegen irgendwelcher Übergriffigkeiten, aus dem Linderstedter Stadttheater geflogen war und keine Rollen mehr bekam, die er irgendeinem gähnenden Schulklassen- und Altenheimpublikum vorhampeln konnte, benutzte er unsere Wohnung als Ersatzbühne. Angeblich, um sein Comeback vorzubereiten. Jetzt ließ er sich zur Seite sacken, beleidigt und belustigt zugleich, und Mama kam zum Vorschein. Mit aufgefummelter Bluse stemmte sie sich aus den Sofakissen, in die er sie hineingedrängt hatte, und schien ihren Oberkörper, der mir geschrumpft vorkam, erst wieder zu der bekannten Kastenform aufweiten zu müssen. Seit Wolfram bei uns wohnte, seit bald sechs Monaten, schien sie kleiner zu werden, schwächer. Dass sie jetzt noch einmal so bullig für mich eintreten würde wie vor zwei Jahren, als sie meine Mathelehrerin an der Realschule wegen irgendeiner im Grunde vollkommen gerechtfertigten Note zusammengedonnert hatte, ob sie selber Kinder habe, ob sie auch alleinerziehend sei, das war mittlerweile undenkbar.

»Sag mal, Liebi, kannst du«, kurz verstopfte ihr die Peinlichkeit den Hals, sie musste schlucken, bevor sie weitersprechen konnte, »kannst du nicht anklopfen?«, brach es schließlich in doppelter Lautstärke aus ihr hervor.

Könnt ihr nicht bei Wolfram rumgrabbeln, dachte ich, denn seine Wohnung, irgendein verwahrlostes Loch in der Goseburg, gab es ja auch noch, nur leider waren sie nie dort. »Die Tür war offen«, meinte ich und spürte, wie die Ekelstarre in meinem Nacken langsam nachließ.

»Trotzdem«, sie klaubte die Bluse vor der Brust zusammen, vorwurfsvoll, als hätte nicht sie, sondern ich die ganze Wohnung vollgekeucht, »das ist wirklich«, sie rubbelte sich mit der anderen Hand über den Hinterkopf, als könnte sie so eine passende Formulierung hervorreiben. Als das nicht gelang, sprang Wolfram ein.

»Nicht nett«, er blies sich eine seiner angegrauten Goldlocken, auf die er so stolz war, aus der Stirn.

»Nein, nicht nett«, wiederholte Mama blöde, »gar nicht.«

»Okay, tut mir leid, ich geh noch raus«, sagte ich dann zu ihrer Überraschung, aber auch zu meiner eigenen. Denn eigentlich hatte ich nicht raus-, sondern zurückgehen wollen, ins Bett zurück.

»Raus, wieso, wo gehst du denn hin«, Mama strich sich die Haare aus dem Gesicht und wirkte verwirrt, »morgen ist doch Schule.«

»Bloß zu Flo«, sagte ich, ein Fehler, wie ich gleich feststellen sollte, auch wenn ich tatsächlich gern zu Flo gegangen wäre, sogar sehr gern, und nicht nur heute Abend, sondern auch morgen Abend und jeden Abend, in sein elegantes, großes Haus, in das er mich vorgestern, auf dem Waldweg, nach dem öden, langen Lernnachmittag bei Merle, so überfallsartig eingeladen hatte, diese Villa in Wilschenbruch, die wie ein Schiff über die Hecke ragte.

»Was denn für ein Flo«, fragte Wolfram, »wenn ich mal fragen darf«, fügte er mit einem breiten Lächeln an.

»Ja, genau, Liebi, was denn für ein Flo?«, echote Mama.

»Mann«, wieso hatte ich nicht gesagt, dass ich zu Merle ging, »ist doch egal«, das wäre viel leichter gewesen.

»Sie will nicht drüber reden«, raunte Wolfram Mama ins Ohr, »das ist verdächtig, sehr verdächtig«, er ließ seine Stimme knarren wie ein zerknitterter Privatdetektiv.

»Ja, stimmt, das ist verdächtig«, meinte Mama, die offenbar keinen einzigen eigenen Satz mehr zustande brachte und nur noch alles nachquatschte, was der Blödmann ihr vorquatschte.

»Gar nicht«, meinte ich hilflos.

»Ich hätt’ noch eine Frage«, sagte Wolfram und warf seine Füße auf Mamas Schoß, als säße er in einem schummrigen Detektivbüro, wo man die Beine auf den Tisch legen konnte, um die Verdächtige einzuschüchtern, bevor man hundert fiese Fragen auf sie abfeuerte. Weil er aber nicht nur ein schlechter, sondern auch ein sehr ungeschickter Schauspieler war, trat er dabei aus Versehen gegen den Computerbildschirm, den sie zum Seriengucken auf dem Couchtisch aufgebaut hatten.

»Vorsicht, mein Herz!«, rief Mama und griff nach der graugrünen Kiste, die sich taumelnd herumgedreht hatte und fast vom Tisch gefallen wäre. Jetzt, wo das Bild mir zugewandt war, verband sich das angespannte Angstgefiedel, das ich schon zuvor in meinem Zimmer gehört hatte, mit der Nachtansicht eines Hauses, in dem ein Mann, ein knochiger Typ, mit einem wehenden, blauen Bademantel eine Treppe hochfloh.

»Entschuldige, Schätzchen, ist ja nichts passiert«, Wolfram sank seufzend gegen die Seitenlehne, nun nicht mehr Privatdetektiv, sondern schlupflidrig lächelnder Pascha, »außerdem wollte uns deine Tochter gerade erklären, wer dieser Flo ist, ist das wieder so ein Windei wie diese Jungs, mit denen du durchbrennen wolltest«, er schnipste und zeigte auf mein Gesicht, »erzähl mal, das interessiert mich.«

»Freund«, erwiderte ich knapp und hoffte, dass ich nicht mit irgendwelchen neugierigen Nachfragen gequält würde, aber das wurde ich natürlich doch.

»Ein Freund«, fragte Wolfram, indem er die Worte genießerisch dehnte, »oder dein Freund?«

»Also, der ist, der geht, der macht abends immer noch Sport«, warum hatte ich nicht Merle gesagt, »im Fitnessstudio«, weil es keinen Grund gab, abends um zehn noch zu der klugen Nachhilfemaus zu gehen, deshalb, du dämliches Ding!

»Liebi, was bist du denn so aufgeregt«, fragte Mama, die einen von Wolframs gelb gelatschen Füßen ergriffen hatte und nun mit ihren...


geboren 1974, Studium der Philosophie und Literaturwissenschaft an der Universität Potsdam. Martin Lechner lebt in Berlin. Sein Debu¨troman "Kleine Kassa" stand auf der Longlist des Deutschen Buchpreises 2014, sein Erzählband "Nach fu¨nfhundertzwanzig Weltmeertagen" auf der Shortlist fu¨r den Clemens-Brentano-Preis 2017. "Der Irrweg" (2021) wurde vom Berliner Senat gefördert. "Die Verwilderung" (2025) ist sein dritter Roman.



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