Lehmann | Der Henker des Herzogs | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 400 Seiten

Lehmann Der Henker des Herzogs

Ein ganz normales Leben um 1700
1. Auflage 2024
ISBN: 978-3-534-61009-9
Verlag: Theiss in Herder
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Ein ganz normales Leben um 1700

E-Book, Deutsch, 400 Seiten

ISBN: 978-3-534-61009-9
Verlag: Theiss in Herder
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Johann Jeremias Glaser (1653 bis 1724) war Scharfrichter von Beruf. Vor allem aber war er ein unvergleichlicher Buchhalter des eigenen Lebens, der der Nachwelt ein einmaliges Zeugnis hinterließ: In einem sogenannten Anschreibebuch hielt er penibel alle Zahlen, Kosten und Fakten seines Erwachsenenlebens fest - ein einzigartiges Ego-Dokument aus der Frühen Neuzeit! Was gab er bei Hochzeiten für Schmuck, Kleidung und Essen aus, was für den Unterhalt seiner Mägde und Knechte? Und was nahm er an Gebühren ein, für das Köpfen und Foltern, aber auch für das Heilen, das Beseitigen von Tierk adavern oder das Ausräumen der Fäkalgruben? Kai Lehmann webt aus diesen dürren Zahlen und Fakten eine faszinierende, spannende Sozial- und Alltagsgeschichte der Zeit um 1700.

Kai Lehmann, geb. 1971 in Schmalkalden, ist Historiker und Museumsdirektor der Museen im Zweckverband Kultur des Landkreises Schmalkalden, und Leiter des Museums Schloss Wilhelmsburg. Lehmann ist spezialisiert auf die Alltagsgeschichte, auf Zeugnisse und Kirchenbücher des einfachen Volkes vom 16. bis zum 18. Jahrhundert.
Lehmann Der Henker des Herzogs jetzt bestellen!

Autoren/Hrsg.


Weitere Infos & Material


Vorwort


Sollte das Jahr, welches mit diesem ärgerlichen Erbstreit begonnen und die Glaser-Geschwister vollkommen entzweit hatte,1 doch noch eine gute Wendung nehmen? Der Frühling des Jahres 1700 beginnt für Johann Jeremias Glaser jedenfalls überaus freudig. Glaser, seit fast zwanzig Jahren Scharfrichter im Herzogtum Sachsen-Meiningen, in der Mitte des Reiches gelegen, wird am 4. Mai zum siebten Mal Vater. Zwischen zehn und elf Uhr am Mittag schenkt seine Ehefrau einem kleinen Jungen das Leben. Man zählt genau zwei Tage nach dem vollen Mond. Am Folgetag wird der Neugeborene in der Kapelle auf dem Marktplatz des Kleinstädtchens – keine fünf Gehminuten vom Wohnhaus der Familie entfernt – vom Herrn Kaplan getauft. Taufpaten des Kleinen sind ein verwandter Scharfrichter, ein Ratsmitglied sowie die Frau eines Ratsverwandten. Der jüngste Henkersspross erhält den Namen Johann Adam.2

Beim anschließenden Tauffest sind 14 Gäste plus Superintendent und Kantor anwesend, zwei mehr, als es Glaser eigentlich erlaubt ist. Ob der Scharfrichter, wie vom Gesetzgeber gefordert, deswegen eine Strafgebühr zahlte, wissen wir leider nicht. Dafür ist bekannt, dass Glasers Gäste nach Herzenslust schlemmen und trinken konnten: Die Tafel biegt sich unter 30 Pfund Kalbs-, 22 Pfund Rind- und 27 Pfund Schweinefleisch, vier Hühner werden aufgetischt, dazu ein Schinken von 14 Pfund. Acht Pfund Fisch runden das Festessen ab. Natürlich gibt es auch süße Köstlichkeiten wie Kuchen, zwei Schock Kümmel-Leiblein, fünf Pfund Zwetschgen, Äpfel-Schnitz oder ein halbes Pfund Kirschen-Hutzel [getrocknete Kirschen]. Auch beim Trinken hat der Gastgeber nicht gespart. Sieben Kannen Schmalkalder Weißbier hat er aus der benachbarten, aber im hessischen Ausland liegenden Stadt kommen lassen. Im Schlundhaus – der besten Adresse in der Residenzstadt Meiningen – ließ er für zwei Gulden ein Extra-Festtagsbier brauen, hinzu kamen 16 Kannen normales Bier. Auch mit Spanischem Wein und Brantwein wird auf den kleinen Täufling angestoßen.3

Was der Scharfrichter zu diesem beschwingten (und vielleicht auch beschwipsten) Zeitpunkt freilich nicht weiß, ist, dass er knapp sieben Jahre später auch das Begräbnis für seinen Sohn ausrichten muss. Am 5. Februar 1707 zwischen 11 und 12 Uhr in der Nacht war Johann Adam von dieser Jammer bösen Welt geschieden. Er hatte bereits längere Zeit über schlimme Kopfschmerzen und Bauchweh geklagt. Seine letzte Nacht auf Erden sollte der todkranke Junge im Bett seines tief besorgten Vaters verbringen.4

Glaser kann sich noch gut an die Augenblicke kurz vor der Geburt erinnern. Er stand vor der Tür und dachte daran, dass (wenn alles gut ginge) seine Frau in wenigen Augenblicken einem kleinen Erdenbürger das Leben schenken würde. Er dagegen hatte erst gut drei Wochen zuvor ein Menschenleben genommen, freilich zu Recht. Schließlich erfüllt er den Auftrag und das Urteil der Obrigkeit. Er ist der Vollstrecker der göttlichen Gerechtigkeit. Aber diese Exekution war nicht alltäglich gewesen, nicht ohne Grund will sie ihm einfach nicht aus dem Gedächtnis gehen. Eigentlich sollten zwei fahnenflüchtige Soldaten mit dem Strang hingerichtet werden. Der Galgen auf dem Markt war erst vor einem halben Monat neu errichtet worden. Aber es wurde anders entschieden. Beide mussten zuvor mit Würfeln spielen, welcher leben und welcher sterben sollte. Den Verlierer hatte Glaser aufgeknüpft, der Sieger musste zehn Mal durch die Spießruten durch 300 Mann laufen. Der Henker hatte für die Exekution – inklusive den Erhängten wieder vom Gericht zu nehmen und außerhalb der Stadtmauern zu verscharren – etwas mehr als sechs Gulden erhalten; die Summe entspricht immerhin dem Wert von zwei Schweinen.5

Überhaupt ist 1700 für Glaser ein scharfrichterlich arbeitsintensives Jahr. Am 1. Juli hat er auf dem Marktplatz der Residenzstadt einen Soldaten unter dem Fußvolk, welcher einen erschossen […], durchs Schwert vom Leben zum Tode bringen müssen. Bereits zwei Wochen danach wird er in ein Amtsdorf beordert, um eine Frau, die der Zauberei verdächtig ist, der peinlichen Frage zu unterziehen. Der Richter erhält das gewünschte Geständnis, Glaser später zusätzliche zwölf Groschen Honorar, weil er die Frau nach der Folter wieder heilen muss. Einen Monat später lodert der Scheiterhaufen. Die Geschichtsschreibung wird Jahrhunderte später konstatieren, dass Johann Jeremias Glaser mit dieser Hinrichtung die letzte Lebendverbrennung einer vermeintlichen Hexe im mitteldeutschen Raum durchführte. Ende Oktober muss Glaser auf ergangenen Befehl des Herrn Oberstleut-nants […] zwei Soldaten oder Deserteure durch den Strang vom Leben zum Tode bringen. Einen Monat zuvor wurden einem ungehorsamen Soldaten beide Ohren abgeschnitten und diese an den Galgen genagelt; ein anderer aufsässiger Soldat erhielt 50 Prügel. Für die beiden letztgenannten Arbeiten war sich Glaser allerdings zu fein, diese Exekutionen hat mein Knecht Hans Otto tun müssen, so wird es der Henker später festhalten.6 Den Knecht Hans Otto hatte Glaser ab Ostern 1700 für ein Jahr unter Vertrag genommen.7 Auch wenn durch den Hofrat Trier Teile von Glasers scharfrichterlichen Honorarforderungen mit der Begründung, es wäre jetzt kein Geld vorhanden, gestrichen beziehungsweise gekürzt worden waren, so hatte er dennoch verhältnismäßig gute Einnahmen erzielt; es hatte schon Jahre gegeben, in denen er als Henker völlig leer ausgegangen war.8 Aber da war ja noch sein zweites, wesentlich lukrativeres berufliches Standbein: die Abdeckerei, also die Abholung und anschließende Verwertung von Tierkadavern aller Art.

Ohnehin ist Glasers berufliches Portfolio breit gefächert. Er verdient gutes Geld als Heiler; die medizinischen Kenntnisse gehörten zur handwerklichen Grundausstattung eines Scharfrichters. Er ist aber auch für sehr unangenehme und in den Augen der Gesellschaft höchst verachtenswerte Arbeiten zuständig. Im Jahr 1700 muss Glaser zum wiederholten Male das Secret – sprich die Fäkaliengrube – in der Schule zu Meiningen entleeren und reinigen. Dieses Mal hat er aus seinem betriebswirtschaftlichen Fehler, den er vor Jahren gemacht hatte, gelernt. 30 Taler lässt er sich im Voraus auszahlen. Damit entlohnt Glaser die dafür angeheuerten Knechte, denn Glaser erledigte diese (im wahrsten Wortsinn) höchst anrüchige und äußerst verachtete Arbeit natürlich nicht selbst, und macht dabei sogar noch einen Reingewinn. 28 Karren voll mit Fäkalien holen die Knechte in mehreren Nächten aus der Kloake. Diese werden vor das Ober-tor gefahren und in die Werra entleert.9

Nach einem kostspieligen, aber erfolgreich geführten Rechtsstreit, der den juristischen Sachverstand des Henkers mehr als deutlich aufzeigt, kann Glaser eine zweite Meisterei samt zugehörigem Abdeckereibezirk erwerben. Den alten Abdeckereibezirk verpachtet er. Auch das ist ein lohnendes Geschäft. Immerhin 70 Taler Pacht nimmt er so, ohne einen Finger zu rühren, im Jahr ein. An Martini 1700, dem 11. November, verlängert Glaser den Pachtvertrag um drei weitere Jahre. Pächter ist Johannes Binder, ebenfalls aus einer weitverzweigten Scharfrichterfamilie stammend. Mit dem Pächter wird es später zu einem handfesten Streit kommen, der sich an einem Kalenderproblem entzündet. Im Jahr 1700 wird nämlich in den protestantischen Gebieten ein neuer Kalender eingeführt. Im Zuge dessen werden elf Tage aus dem Jahr gestrichen: Auf den 17. Februar folgt der 1. März 1700.10

Im Jahr der Jahrhundertwende fährt Johann Jeremias Glaser auch mit dem fort, was er die Jahre zuvor begonnen hat und was er später immer weiter abrunden wird: Der Scharfrichter baut sich außerhalb der Mauern des 1400 Einwohner zählenden Ackerbürgerstädtchens Wasungen – Glaser lebt seit einigen Jahren mit seiner Familie dort – ein kleines ›Immobilienimperium‹ auf. Im Jahr 1700 erwirbt er für 20 Gulden Bar Geld einen Krautsattel. Das längliche Kraut- und Rübenfeld befindet sich in der Seu Gasse.11

Mit dem Größerwerden des scharfrichterlichen Grund- und Immobilienbesitzes erhöht sich auch das Steueraufkommen, das der Henker dafür zahlen muss. Aber nicht nur auf unbewegliche Werte werden Steuern erhoben, sondern Glaser lebt in einer Zeit, in der die Verbrauchssteuern aufkommen und die Landesherren merken, wie wunderbar man damit das barocke Lebensgefühl finanzieren kann: Ist der Accis [Akzise = Verbrauchssteuer] aufkommen, dass man von allen Accis geben muss, so beschreibt es der Steuerzahler Glaser nicht unbedingt erfreut und beschwert sich zugleich über stetig steigende Steuersätze. Im Jahr 1700 ist etwa der Accis für eine...


Lehmann, Kai
Kai Lehmann, geb. 1971 in Schmalkalden, ist Historiker und Museumsdirektor der Museen im Zweckverband Kultur des Landkreises Schmalkalden, und Leiter des Museums Schloss Wilhelmsburg. Lehmann ist spezialisiert auf die Alltagsgeschichte, auf Zeugnisse und Kirchenbücher des einfachen Volkes vom 16. bis zum 18. Jahrhundert.

Kai Lehmann, geb. 1971 in Schmalkalden, ist Historiker und Museumsdirektor der Museen im Zweckverband Kultur des Landkreises Schmalkalden, und Leiter des Museums Schloss Wilhelmsburg. Lehmann ist spezialisiert auf die Alltagsgeschichte, auf Zeugnisse und Kirchenbücher des einfachen Volkes vom 16. bis zum 18. Jahrhundert.



Ihre Fragen, Wünsche oder Anmerkungen
Vorname*
Nachname*
Ihre E-Mail-Adresse*
Kundennr.
Ihre Nachricht*
Lediglich mit * gekennzeichnete Felder sind Pflichtfelder.
Wenn Sie die im Kontaktformular eingegebenen Daten durch Klick auf den nachfolgenden Button übersenden, erklären Sie sich damit einverstanden, dass wir Ihr Angaben für die Beantwortung Ihrer Anfrage verwenden. Selbstverständlich werden Ihre Daten vertraulich behandelt und nicht an Dritte weitergegeben. Sie können der Verwendung Ihrer Daten jederzeit widersprechen. Das Datenhandling bei Sack Fachmedien erklären wir Ihnen in unserer Datenschutzerklärung.