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E-Book, Deutsch, 528 Seiten

Lemaitre Wir sehen uns dort oben

Roman
5. Auflage 2015
ISBN: 978-3-608-10755-5
Verlag: Klett-Cotta
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 528 Seiten

ISBN: 978-3-608-10755-5
Verlag: Klett-Cotta
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Beinahe wäre Albert wegen der Machtgier von Leutnant Pradelle ums Leben gekommen. Doch in letzter Sekunde bewahrt Édouard ihn vor dem Tod. Albert fühlt sich seinem Retter verpflichtet und erfüllt ihm seinen größten Wunsch: eine falsche Identität. Pradelle durchschaut den Betrug und deckt sie, um sein hinterhältiges Manöver zu vertuschen. So werden die verfeindeten Männer zu Komplizen. Während Pradelle in den Nachkriegsjahren das große Geld mit der Umbettung von Toten macht, entwickeln Albert und Édouard ein illegales Geschäft mit Kriegsdevotionalien. Pierre Lemaitre entwirft das schillernde Panorama einer Gesellschaft, in der unablässig von Ruhm und Ehre die Rede ist und zugleich Profitgier und krumme Geschäfte vorherrschen.

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1
Wer gedacht hatte, der Krieg sei bald zu Ende, war lange schon gestorben. Und zwar im Krieg. So hörte auch Albert im Oktober mit einiger Skepsis von dem Gerücht, es würde einen Waffenstillstand geben. Er schenkte ihm kaum mehr Beachtung als der anfänglichen Propaganda, in der es hieß, die Kugeln der Boches seien so weich, dass sie wie faule Birnen an den Uniformen zerplatzten und die französischen Regimenter sich nicht mehr einkriegten vor Lachen. In vier Jahren hatte er viele von den Typen gesehen, die vor Lachen gestorben waren, nachdem sie eine deutsche Kugel erwischt hatte. Albert wusste nur zu gut, dass seine Weigerung, an einen nahenden Waffenstillstand zu glauben, etwas Abergläubisches hatte: Je mehr er auf den Frieden hoffte, desto weniger glaubte er den Meldungen, die ihn ankündigten – so meinte er, das Schlimmste von sich fernzuhalten. Nur, dass diese Nachrichten jetzt von Tag zu Tag dichter aufeinander folgten und von überall her immer wieder zu hören war, der Krieg würde wirklich bald ein Ende haben. Man konnte sogar lesen, dass die ältesten Soldaten, die sich seit Jahren an der Front dahinschleppten, demobilisiert werden sollten. Als der Waffenstillstand dann in greifbare Nähe rückte, begannen selbst die größten Pessimisten zu hoffen, lebend aus der Sache herauszukommen. Und so war niemand mehr auf neue Offensiven aus. Zwar hieß es, die 163. Division wolle versuchen, gewaltsam auf die andere Seite der Maas zu gelangen. Einige seien sogar darauf aus, sich noch ein blutiges Gefecht mit dem Feind zu liefern. Aber im Großen und Ganzen war der einfache Soldat – wie Albert und seine Kameraden – seit dem Sieg der Alliierten in Flandern, der Befreiung Lilles, dem österreichischen Debakel und der Kapitulation der Türken weitaus weniger enthusiastisch als die Offiziere. Der Erfolg der italienischen Offensive, dann die Engländer in Tournai, die Amerikaner in Châtillon … Es sah so aus, als wäre es bald geschafft. Die meisten aus der Einheit begannen auf Zeit zu spielen, und schnell zeigte sich eine klare Trennlinie zwischen denen, die wie Albert das Ende des Krieges am liebsten einfach abgewartet hätten, auf ihrem Marschgepäck sitzend, rauchend und Briefe schreibend, und denen, die darauf brannten, alles aus den letzten Tagen herauszuholen und sich noch ein bisschen mit den Deutschen zu schlagen. Diese Trennlinie entsprach genau jener Kluft, die sich zwischen den Offizieren und den Soldaten auftat. So ist es halt, sagte sich Albert. Die Oberen wollen immer mehr Land besetzen, um am Verhandlungstisch die Stärkeren zu sein. Sie reden dir ein, dass dreißig gewonnene Meter den Ausgang des Kriegs entscheidend beeinflussen können und dass heute zu sterben noch heldenhafter ist als am Tag zuvor. Zu dieser Kategorie gehörte auch Leutnant d’Aulnay-Pradelle. Wenn man über ihn sprach, ließ man Vornamen, Adelsprädikat und Bindestrich einfach weg und sagte nur »Pradelle«, obwohl ihn das rasend machte. Aber man hatte nichts zu befürchten, es war eine Sache der Ehre, sich nichts anmerken zu lassen. Standestypisch eben. Albert mochte ihn nicht. Vielleicht, weil er gut aussah. Ein großgewachsener Typ, schlank, elegant, mit vollem gewelltem dunkelbraunen Haar, einer geraden Nase, bewundernswert fein gezeichneten Lippen. Und Augen von einem durchdringenden Blau. Für Albert war er ein richtiger Kotzbrocken. Außerdem wirkte es so, als wäre er ständig wütend. Einer von der ungeduldigen Sorte, der sich nie mit normaler Geschwindigkeit bewegen konnte: beschleunigen oder bremsen – dazwischen gab es nichts. Wenn er lief, drückte er eine Schulter heraus, als wollte er Möbel rücken, und wenn er auf einen zukam, blieb er bei voller Geschwindigkeit plötzlich stehen. Das war normal bei ihm. Diese Mischung hatte etwas Seltsames: Mit seiner aristokratischen Art wirkte er schrecklich zivilisiert, zugleich schien er abgrundtief brutal. Ein bisschen so wie dieser Krieg. Vielleicht kam er deshalb so gut darin zurecht. Ganz seine Kragenweite eben, wie Rudern oder – wie sollte es anders sein – Tennis. Was Albert auch nicht mochte, war seine Behaarung. Schwarze Haare wucherten überall, sogar auf den Fingern, am Hals quollen Büschel hervor, die bis zum Adamsapfel reichten. In Friedenszeiten wird er sich wohl mehrmals am Tag rasieren müssen, um nicht verdächtig auszusehen. Sicher gab es Frauen, auf die das wirkte, diese ganzen Haare, so animalisch, verwegen, maskulin, irgendwie südländisch. Nur nicht auf Cécile … Doch auch ganz abgesehen von Cécile konnte Albert ihn nicht riechen. Mehr als alles andere misstraute er ihm. Wegen seines militärischen Eifers. Zum Sturm ansetzen, angreifen, erobern – das war nach Pradelles Geschmack. In letzter Zeit war er allerdings nicht mehr so kriegswütig wie sonst. Seit man vom Waffenstillstand sprach, schien seine Kampfmoral gänzlich abhandengekommen zu sein, als wäre sein patriotischer Eifer abgeschnürt worden. Die Vorstellung, der Krieg könne zu Ende gehen, war tödlich für Leutnant Pradelle. Er wirkte ziemlich ungeduldig. Offenbar machte ihm die mangelnde Begeisterung der Truppe zu schaffen. Wenn er die Schützengräben durchmaß und das Wort an die Männer richtete, hatte er Mühe, den Enthusiasmus, für den er sonst bekannt war, in seine Worte zu legen. Beschwor er die Vernichtung des Feindes, dem ein letzter Streich den Gnadenstoß versetzen würde, bekam er kaum mehr als ein vages Brummen von den Männern, die ihre Zustimmung lieber durch ein zaghaftes Kopfnicken zeigten. Es war nicht die Angst zu sterben, es war die Vorstellung, jetzt zu sterben. Als Letzter zu sterben, sagte sich Albert, ist, wie als Erster zu sterben: vollkommen idiotisch. Genau das aber wird geschehen. Während man bis dahin in Erwartung des Waffenstillstands ziemlich ruhige Tage verbracht hatte, geriet auf einmal alles durcheinander. Zunächst erging der Befehl von oben, man müsse aus nächster Nähe beobachten, was die Boches trieben. Dabei brauchte man kein General zu sein, um zu wissen, dass sie das Gleiche taten wie die Franzosen – nämlich das Ende abwarten. Es half nichts, man musste gehorchen. Und von da an war niemand mehr in der Lage, die Verkettung der Ereignisse genau zu rekonstruieren. Um seinen ehrgeizigen Plan in die Tat umzusetzen, suchte Leutnant Pradelle Louis Thérieux und Gaston Grisonnier heraus, einen Jungen und einen Alten – schwer zu sagen warum. Vielleicht als eine Art Gesamtpaket aus Vitalität und Erfahrung. Jedenfalls waren das wertlose Eigenschaften, beide überlebten ihre Ernennung nicht einmal eine halbe Stunde. Eigentlich sollten sie nicht weit vorstoßen. Nur eine Linie in nordöstlicher Richtung abgehen, nach zweihundert Metern ein paar Löcher in den Stacheldraht schneiden, bis zum zweiten Stacheldrahtverhau weiterkriechen, sich umsehen, zurückkommen und Mitteilung machen, dass alles in Ordnung war. Weil nichts passiert war. Die beiden Soldaten schienen im Übrigen kaum beunruhigt, sich so auf den Feind zuzubewegen. Nach Lage der Dinge in den letzten Tagen würden die Deutschen sie nicht davon abhalten, sich, als wäre es eine Art Zeitvertreib, ruhig umzuschauen und wieder zurückzuziehen. Wenn sie die beiden überhaupt bemerkten. Die Sache war nur die, dass die Späher in dem Moment, als sie tief geduckt vorzurücken begannen, abgeschossen wurden wie die Kaninchen. Erst ertönten die Schüsse, drei an der Zahl, dann folgte große Stille. Für den Feind war die Sache damit erledigt. Zwar versuchte man sofort, sie zu sichten, aber da die Soldaten vom nördlichen Frontabschnitt aus aufgebrochen waren, gelang es nicht, den Ort auszumachen, an dem sie gefallen waren. Um Albert herum hielten alle den Atem an. Es waren Schreie zu hören. Schweine. Immer dasselbe mit den Boches, elendes Pack! Barbaren und so weiter. Noch dazu einen Jungen und einen Alten! Es musste so kommen, alle dachten dasselbe: Zwei französische Soldaten zu töten, war den Deutschen nicht genug gewesen, sie mussten zwei Symbolfiguren herausgreifen. Es herrschte helle Aufregung. In den darauffolgenden Minuten feuerten die Artilleristen so rasch und heftig, wie man es ihnen kaum zugetraut hätte, aus dem Hinterland Fünfundsiebzig-mm-Geschosse auf die deutschen Stellungen ab. Dabei fragten sie sich, wer die Feinde gewarnt haben mochte. Dann kam eins zum andern. Die Deutschen erwiderten das Feuer. Auf französischer Seite war man sich schnell einig. Man würde es ihnen heimzahlen, diesen Idioten, die den Totensonntag entehrt hatten. Es war der 2. November 1918. Noch wusste niemand, dass der Krieg kaum zehn Tage später zu Ende sein würde. Und da stehen wir wieder in voller Montur, dachte Albert, bereit, aufs Schafott zu steigen (so nannten sie die Leitern, auf denen man aus den Schützengräben herauskletterte, eine Frage der Perspektive eben) und mit dem Kopf voran auf die feindlichen Stellungen loszugehen. Den jungen Männern, die in straffer Haltung hintereinander warteten, war mulmig zumute. Albert war an dritter Stelle, hinter Berry und dem jungen Péricourt, der sich umdrehte, als wollte er sich vergewissern, dass auch alle da waren. Ihre Blicke trafen sich. Péricourt grinste ihm zu, es war das Grinsen eines Kindes, das einen Streich im Kopf hat. Albert versuchte zurückzulächeln, doch es gelang ihm nicht. Péricourt nahm wieder Haltung ein. Sie warteten auf den Befehl zum Angriff, die Spannung war mit Händen zu greifen. Aufgebracht durch das Verhalten der Deutschen, konzentrierten sich die Franzosen jetzt auf ihre Wut. Über ihren Köpfen durchfurchten Granaten den Himmel in beide Richtungen und erschütterten die Erde, dass man es bis in die Eingeweide spürte. Albert blickte über Berrys Schulter hinweg. Leutnant...


Lemaitre, Pierre
Pierre Lemaitre, 1951 in Paris geboren, ist Autor mehrerer preisgekrönter Romane und Kriminalromane. Sein 2014 erschienenes Buch, 'Wir sehen uns dort oben', wurde mit dem wichtigsten französischen Literaturpreis, dem Prix Goncourt, ausgezeichnet. Nun liegt sein neuer, hochgelobter Roman 'Spiegel unseres Schmerzes' in deutscher Übersetzung vor.

Pierre Lemaitre, 1951 in Paris geboren, ist Autor mehrerer preisgekrönter Romane und Kriminalromane. Sein 2014 erschienenes Buch, 'Wir sehen uns dort oben', wurde mit dem wichtigsten französischen Literaturpreis, dem Prix Goncourt, ausgezeichnet. Nun liegt sein neuer, hochgelobter Roman 'Spiegel unseres Schmerzes' in deutscher Übersetzung vor.

Pierre Lemaitre, 1951 in Paris geboren, ist Autor mehrerer preisgekrönter Romane und Kriminalromane. Sein 2014 erschienenes Buch, »Wir sehen uns dort oben«, wurde mit dem wichtigsten französischen Literaturpreis, dem Prix Goncourt, ausgezeichnet. Nun liegt sein neuer, hochgelobter Roman »Spiegel unseres Schmerzes« in deutscher Übersetzung vor.



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