E-Book, Deutsch, Band 4769, 240 Seiten
Ein Leben gegen jede Konvention. Romanbiografie
E-Book, Deutsch, Band 4769, 240 Seiten
Reihe: Herder Spektrum Taschenbücher
ISBN: 978-3-451-81206-4
Verlag: Verlag Herder
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Eine tiefgründige Romanbiografi e, die das außergewöhnliche Leben dieser beeindruckenden Künstlerin facettenreich einfängt.
Autoren/Hrsg.
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I
Zwei Plastiken von Käthe Kollwitz beeindrucken täglich unzählige Menschen in Berlin und Belgien: vor der Neuen Wache Unter den Linden die »Mutter mit ihrem toten Sohn« zum Gedenken an die Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft; »Die trauernden Eltern« am Eingang des Soldatenfriedhofes im belgischen Vladslo.1 Die weltweit verbreiteten Grafiken rütteln immer noch auf – mit dem Menschen als leidendes, revolutionierendes, liebendes und sterbendes Wesen. Ihr »Nie wieder Krieg« klingt bis heute nach. Wer war diese Künstlerin, die sich ausschließlich der Darstellung des Menschen widmete? Die so energisch und beharrlich für den Frieden kämpfte? Die so unbarmherzig den Menschen die sozialen Ungerechtigkeiten und deren Folgen vor Augen führte? Wer war dieser Mensch, der unermüdlich Briefe schrie und Tagebücher führte? Was trieb sie an? Woher nahm sie diese immense Kraft, zu gestalten? Wie wurde sie, was sie geworden ist? Kommt ein Kind bereits mit einem Charakter auf die Welt? Mit einer unumkehrbaren Prägung, mit Wesensmerkmalen? Bei Käthe war dies wohl der Fall, als sie 1867 in Königsberg auf die Welt kam. Sie war ein zartes und stilles Kind. Wer sie nicht näher kannte, beschrieb sie als schüchtern. Doch da war noch etwas anderes an dem kleinen Mädchen, ein Charakterzug, der es zeitlebens bestimmen würde: Etwas Ernstes, Düsteres umgab sie. Die geliebte jüngere Schwester Lise beschrieb später das Dunkle als ihre wahre Seite, sprach von »ungeklärten Kräften, die in einer Tiefe mühsam arbeiten, bevor sie zu einer Gestaltung ans Licht kommen«.2 Die Erwachsenen nannten es Eigensinn, wenn das Mädchen brüllte und strampelte, sich gegen unsichtbare, innere Regungen zur Wehr zu setzen schien und einen Kampf mit sich selbst austrug. Sie selbst hatte keinen Namen dafür, wusste nicht damit umzugehen. Die ältere Schwester Julie steckte später immer ein Stück Zucker ein, wenn sie gemeinsam fortgingen. »Warum?«, fragte Tante Tina. »Es der Käthe in den Mund werfen, wenn sie brüllen will«, antwortete sie. Manchmal blieb Käthe einfach auf der Straße stehen und nichts konnte sie bewegen weiterzugehen. Entwickelte sich aus diesem Verharren dieses unerschrockene Beharren in allen Dingen des Lebens? In Erinnerung geblieben ist Käthe – so hat sie es 1923 aufgeschrieben – besonders ihr neunter Geburtstag. Mit ihrem Kegelspiel, ihrem Geburtstagsgeschenk, spielten die anderen Kinder. Sie beobachtete das Spiel, wie sie immer alles genau beobachtete. Aber sie ist nicht dabei – sie steht daneben. Mit einem Mal wird sie blass, gelblich im Gesicht. Schreckliche Bauchschmerzen übermannen sie. Sie läuft zu ihrer Mutter, sucht bei ihr Hilfe und Schutz. Immer wieder quälen diese unerklärlichen Schmerzen das Mädchen, nehmen ganz plötzlich von ihr Besitz, und sie können Stunden und Tage anhalten. Manchmal legt sich Käthe flach auf einen Stuhl, manchmal reibt ihr die Mutter den Bauch. Nur diese weiß, ahnt wohl vielmehr, dass ihr schweigsames Kind ein heimlicher Kummer quält. Während die anderen Kinder an ihrem Geburtstag ihren Spaß haben, weicht Käthe ihrer Mutter nicht mehr von der Seite. »Sie war da, und das war gut«3, schreibt Käthe später in ihr Tagebuch. Und doch war es auch eine glückliche Kindheit. Die Familie Schmidt lebte in einem Eckhaus mit einem kleinen Vorgarten und einem großen Hof, hin zu einer kleinen Gasse, die zum Pregel führte. Mit Sehnsucht dachte Käthe später an die Abenteuer ihrer frühen Kindheit zurück, an die Grube mit dem ungelöschten Kalk, den Lehmhaufen, aus dem man Burgen bauen konnte, die Ziegelwagen, die von den Schleppkähnen die Ziegel zu Vaters Bauten brachten. Zwischen den Höfen in einem lang gestreckten Gebäude arbeitete ein Gipsgießer. Die noch feuchte Gipsluft glaubte sie noch viele Jahre später riechen zu können. Nach Käthes neuntem Geburtstag zog die Familie in die Königstraße, in eines der schönsten vom Vater neu gebauten Häuser, bald darauf siedelten sie in die Prinzenstraße über. In dieser Zeit beginnen die kleine Käthe entsetzliche Träume zu plagen. Immer wieder dieselben grauenvollen Träume, in denen Dinge um sie wachsen, riesengroß oder winzigklein werden, so sehr schrumpfen, dass sie kaum noch wahrnehmbar sind und das Mädchen ins Nichts zu fallen scheint. Oder, und das Gefühl ist nicht weniger schrecklich, sie wird von den übergroßen, übermächtig gewordenen Dingen zermalmt. In manchen Träumen liegt Käthe in einem halbdunklen Zimmer, in einem Eck liegt dort ein großes, zusammengerolltes Schiffstau. Langsam beginnt es sich aufzurollen, immer weiter, bis es den ganzen Raum ausfüllt und sie zu ersticken droht. In ihrer Not will sie die Mutter rufen, die im Nebenzimmer sitzt und liest, durch die halbgeöffnete Tür kann sie ihren Rücken sehen. Sie schreit, schreit so laut sie kann – sie schreit um ihr Leben. Aber niemand hört sie. Ihre Verängstigung war groß, so groß, dass sie in diesen Nächten manchmal wirklich laut schrie. Ein entsetzliches Schreien. Einmal kam sogar der Nachtwächter, um nach dem Rechten zu sehen. Der Vater und die Mutter hörten sie immer. Er kam mit der Kerze, sie brachte warmes Zuckerwasser, um sie zu beruhigen. Lise sah stumm vom Bett aus zu, wie die größere Schwester langsam wieder zu sich fand. Wie mit diesem Mädchen und seinen Anwandlungen umgehen? Es gab keine adäquate Antwort auf diese Frage, die Familie verstand nicht, was Käthe quälte, was ihre schrecklichen Träume auslöste. Sie ahnte nicht, wogegen sie rebellierte, was in ihr zu lodern begann, welche Kräfte anfingen, sich zu ballen, bis sie etwas fanden, an dem sie sich messen konnten. Fürsorge und Rücksichtnahme waren in der Regel die Mittel, um mit Käthe umzugehen. Weil man glaubte, die Luft würde der Tochter einen erholsameren Schlaf bringen, verbrachte die Familie von Juli bis September die Ferien regelmäßig an der See. Dort hatte der Vater ein altes Fischerhaus gekauft mit einem Garten, einem Teich und einem kleinen weißen Boot. Kein Meer bedeutete Käthe jemals mehr als die samländische See: »Diese unaussprechliche Erhabenheit der Sonnenuntergänge von der hohen Küste aus! Dies Ergriffensein, wenn man zum ersten Male sie wieder nah sah, den Seeberg runterrannte, Schuh und Strümpfe auszog und die Füße wieder das Gefühl des kühlen Seesands hatten! Dieser metallische Schall der Wellen!«4 Käthe wuchs in einem kleinen, überschaubaren Kreis auf. Ihren vier Jahre älteren Bruder Konrad, der mit Begeisterung Indianer-Bücher las, bewunderte Käthe sehr, vor allem als er eines Tages beschloss, querfeldein über die Pregelwiese bis nach Amerika zu gehen. Er sollte nicht weit gekommen, aber er hatte sich auf den Weg gemacht. Julie war zwei Jahre älter als sie. Von ihr sprach kaum jemand, und die Schwestern verstanden sich nicht gut. Lisbeth (Lise) aber, geboren 1870, liebte Käthe inständig, und als diese größer wurde, waren sie beide unzertrennlich. Mit ihr spielte sie am liebsten. Am schönsten, so erinnerte sie sich, waren die »Spieltage«. Das waren der Dienstagabend und der Sonntagvormittag, wenn die Eltern und die größeren Geschwister sich in der Freien Gemeinde mit den anderen Mitgliedern trafen. Käthe und Lise saßen dann am Tisch und tuschten die Bilderbögen, die sie bei Fräulein Sander in der Königstraße gekauft hatten, und schnitten die Figuren aus. An die 200 Stück waren es schließlich, Figuren aus Theater und Oper, der Teufel, Wilhelm Tell und Tannhäuser, Venus, die Jungfrau von Orkans. Mit großer Inbrunst spielte Käthe den Liebhaber und Lise die Geliebte. Manchmal verkleideten sie sich, bauten sich aus umgedrehten Stühlen und Tischen sowie mit Bauklötzen ein eigenes Bühnenbild, erschufen Paläste und Opferaltäre. Sie spielten Stücke aus der griechischen Mythologie, von Schiller, und erfanden ihre eigenen Geschichten. Als Käthe alt genug war, musste sie die Eltern zu den Sonntagspredigten in das nahe gelegene Haus der Großeltern begleiten. Das Spielreich schloss seine Tore. Die Papierpuppen verstaubten. Aber Jahre später wurden die dramatischen Gestalten auf andere Weise wieder lebendig. Unterrichtet wurden die größeren Kinder in privaten Zirkeln, unabhängig von den öffentlichen Schulen wie alle Angehörigen der Freien Evangelischen Gemeinde. Gegründet wurde sie einst als eine der ersten derartigen Gemeinschaften Deutschlands in Königsberg von Julius Rupp, dem Großvater von Käthe. Dass der Großvater für das religiöse Leben damals das war, was Karl Marx für die Arbeiterbewegung gewesen ist, ahnte sie noch nicht. Nach seinem Tod übernahm Carl Schmidt, der Vater von Käthe die Predigeraufgaben. Er war ein gelernter Jurist und Baumeister, betrieb eine Baufirma, die den Angestellten eine finanzielle Teilhabe am Gewinn gewährte und damit die gleichberechtigte Teilhabe am Leben. Ganz so wie man predigte, setzte man sich im Sinne der Lehre Jesu nach dem Matthäus-Evangelium für die Gleichheit aller Menschen ein und trug für die Hilfsbedürftigen Sorge. Die Angehörigen der Freien Gemeinde waren Dissidenten, von der Landeskirche ausgegrenzt – aber streng organisiert innerhalb ihrer Gemeinschaft. Dennoch herrschte ein offener und fortschrittlich bildungsbürgerlicher Geist. Man diskutierte über öffentliche Angelegenheiten, über Politik, Literatur, Kunst und Wissenschaft, oder las gemeinsam die Dramen von Shakespeare, Schiller und anderen großen Dichtern. Der christliche Gott aber, über den ihr Großvater...