McAuley Feenland
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-641-18610-4
Verlag: Heyne
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch
ISBN: 978-3-641-18610-4
Verlag: Heyne
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Die schrankenlose Anwendung der Gentechnik hat die Welt verändert: Sogenannte Puppen, aus menschlichen Chromosomen erzeugte Kunstgeschöpfe, dienen nicht nur als billige Arbeitskräfte, sondern auch als todgeweihte Gladiatoren in perversen Unterhaltungsshows. Doch während die Menschen selbst in ihren virtuellen Welten dahindämmern, übernehmen die „Feen“, illegal aus den Puppen hochgezüchtete und mit kalter Intelligenz ausgestattete Wesen, auf skrupellose Weise die Macht.
Paul McAuley, 1955 im englischen Stroud geboren, arbeitete mehrere Jahre als Dozent für Botanik an der St. Andrews University, bevor er beschloss, sich ganz dem Schreiben zu widmen. 1988 veröffentlichte er seinen ersten Roman, Vierhundert Millionen Sterne, und gewann damit den Philip K. Dick Award. Neben Space Operas, die in der fernen Zukunft angesiedelt sind, befasst er sich in seinen Büchern unter anderem mit Themen wie Nanotechnologien, Biotechnologie und alternativer Geschichte. Er gilt als eine der herausragendsten Stimmen der britischen Science Fiction, für seine Romane wurde er mehrfach mit internationalen Preisen ausgezeichnet. Paul McAuley lebt und arbeitet in London.
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2 – Home Run
Als Alex Sharkey endlich eine Halteschlaufe in der klapprigen alten Metropolitan Line zu fassen bekommt, muss er erst mal eine Weile verschnaufen. Schweiß tränkt sein Hemd; er spürt, wie sich das knotige Material am Rücken festklebt und wieder löst, während der Zug durch das Dunkel rattert. Das Abteil ist überfüllt, und Alex wird gegen eine der Türen gepresst. Das Warnschild über seinem Kopf lautet: Ausgänge bitte von Hindernissen freihalten. Ein Witzbold hat die ›Hindernisse‹ zu ›Kinderpisse‹ umgestaltet. Dem Gestank nach ist die Mahnung berechtigt.
Alex steigt in Whitechapel um. Er nimmt die East London Line für die kurze Strecke rüber nach Shadwell, geht die Treppe hoch und wartet ewig auf dem nassen, windigen Bahnsteig, bis einer der kleinen Dockland-Züge einfährt. Seit dem Bombenanschlag der Radikalen Monarchisten-Liga auf die Jubilee-Verbindung ist die Fahrt zwischen Zentrum und East End wieder sehr umständlich geworden.
Vorne im Abteil beugt sich ein Anzug-Typ in mittleren Jahren über einen Bookman; vermutlich ein Journalist. Abgerackerte Frauen aus dem East End sitzen auf den Bänken, ihre Einkaufstüten zwischen den Knien. Ein halbwüchsiger Schwarzer, die Kapuze seines Ponchos hochgezogen und die obere Gesichtshälfte von einer riesigen Spiegelbrille verdeckt, führt ein endloses Handy-Gespräch. Hin und wieder legt er einen Arm über die Sitzlehne und dreht sich zu Alex um; vielleicht hält ihn der Junge für einen Bullen.
Alex muss lachen, ein kleines, halbersticktes Kichern, das ihn am ganzen Körper zittern lässt. Heiland, wenn das Kerlchen ahnte, wie tief er in der Scheiße steckt! Er weiß nicht einmal, ob es sicher ist, jetzt seine Wohnung aufzusuchen, aber wohin soll er sonst gehen? Leroy wird nicht begeistert sein, wenn er ihm Theater in die Bude bringt, und seine Mutter will er nicht noch einmal in seine Geschäfte hineinziehen. Als die Polizei den Zauberer hochnahm, schlug ein bewaffnetes Kommando die Wohnungstür von Lexis mit einem Presslufthammer ein.
Alex steigt an der Westferry-Station aus. Es hat zu regnen aufgehört. Grelles Sonnenlicht erhitzt die Luft. Vom Asphalt steigt Dampf auf. Der Geruch erinnert an frischgebackenes Brot. Überall zersplittern Wasserfilme das Licht. Moskitos surren, und obwohl er gegen Gelbfieber und Malaria und Schwarzwasserfieber geimpft ist, zieht Alex den Schleier seines großen Schlapphuts nach unten.
Er erinnert sich an die Jahre kurz nach dem großen Vogelsterben, an die Heuschrecken-, Blattlaus-, Ameisen- und Fliegenplagen, an die Nahrungsmittel-Knappheit und die langen Warteschlangen vor den Supermärkten. An die kleine, geschützte Welt, die Lexis damals für sich und ihn errichtete – er muss sie endlich wieder mal besuchen, wenn das hier vorbei ist, wenn er sie nicht mehr in Gefahr bringt. Sie kommt gut zurecht, und ihr derzeitiger Freund ist jünger als Alex, verdammt noch mal. Sobald die Sache hier ausgestanden ist, wird er sie besuchen. Er schickt diesen Vorsatz nach oben wie ein Gebet. Daheim, sicher und frei. Beim Fangenspielen in den Treppenschächten der Hochhäuser hatte Alex immer Angst, ausgeschlossen zu werden, hinten zu bleiben – er war schon damals füllig, obwohl er genauso schnell rennen konnte wie die meisten anderen Kids und beim Zweikampf fast alle unterkriegte. Sein Gewicht verschaffte ihm damals Ansehen – daran denkt er immer noch gern zurück. Er erinnert sich an das einzige Mädchen, das allen davonflitzte, an die lange, X-beinige Najma mit dem dicken schwarzen Zopf, der nach hinten abstand, wenn sie wie ein Pfeil dahinschoss. Fort. Weggezogen. Die ganze Familie erwischt bei einer Repatriierungsaktion und zurückgeschickt nach Indien, obwohl sie alle hier geboren waren. Wie Najma heute wohl lebt – wenn sie noch lebt? Eigentlich sollte er dankbar sein, dass ihn das Schicksal besser behandelt hat.
All das geht ihm durch den Kopf, während er verkehrsreiche Straßen unterquert und ein zertrampeltes Stück Wiese zwischen den Tiefgaragen-Einfahrten der Wohnsilos entlanggeht, wo die Kids zwischen ausgebrannten Autowracks Fußball spielen – so viele verlassene Autos, dass es fast nach Parkplatz aussieht. Der pyramidengekrönte Monolith von Canary Wharf verschwindet hinter den Hochhäusern und taucht wieder auf. Die Sonne brennt Alex auf den Kopf, und die Hitze unter seinem schwarzen Hut wird unerträglich.
Er hat seine Schrecksekunde in der vergammelten Gasse, die an einem Schrottplatz unter der Ausleger-Brücke der Docklands Line vorbeiführt, aber die beiden Gestalten am anderen Ende des Durchgangs sind nur ein Crack-Dealer und einer seiner Kuriere. Alex kennt den Dealer flüchtig, einen muskelbepackten Nigerianer, der Tag und Nacht seinen Sonnenschild trägt. Er hat sich einen Baseball-Schläger unter den Arm geklemmt, als schlagendes Argument für streitsüchtige Kunden. Der Dealer nickt Alex lässig zu, fragt, wie es so geht und ob er immer noch diesen komischen Shit herstellt.
»Warum, willst du was für mich verhökern?«
»He, Mann, da ist doch null Gewinnspanne drin! Meine Kunden wissen genau, was sie wollen. Da solltest du einsteigen, Mann, aber echt! Du spezialisierst dich auf STP{1}, ich bring’s unter die Leute – kein Problem. Du hast immerhin für den Zauberer gearbeitet, Mann. So was zieht bei den Abnehmern. Die schätzen einen guten Stammbaum.«
Sie haben dieses Thema schon öfter durchgekaut, aber Alex ist weder bescheuert noch verzweifelt genug, um sich auf diese Art von Deal einzulassen. Bis jetzt zumindest nicht. Er schiebt sich an dem Dealer vorbei und meint: »Die Industrie-Chemie ist nun mal nicht mein Ding!«
»Überleg’s dir noch mal, Mann!«, rät ihm der Dealer gönnerhaft. »Wär zumindest eine sichere Sache. Soviel ich höre, kommt dieses irre Zeugs, das du zusammenkochst, in nächster Zeit sowieso auf die Verbotsliste. Aber ich muss jetzt los, Mann, die Leute haben Feierabend und brauchen ihren Fix. Bis später, eh?«
Hinter der Hochbahn taucht die Rückfront der vergammelten Werkstatt-Hallen auf, in denen Alex Unterschlupf gefunden hat, ein halbes Dutzend in einer Reihe, überragt von der ausgeschlachteten Ruine eines Spielzeugstadt-Büroblocks aus den achtziger Jahren, gelber Backstein, die blauen und roten Kunststoffrahmen verblasst und gebrochen, die Scheiben samt und sonders eingeworfen. Unkraut bahnt sich seinen Weg durch den Teer der Zufahrtsstraße, und auf den Flachdächern haben sich Buddleia-Sträucher angesiedelt. Der scharfe Geruch von Lösungsmitteln aus dem Chip-Montage-Schuppen am Ende der Gasse steigt ihm in die Nase. Frank, der kauzige Alte, der gebrauchte Büromöbel verkauft, sitzt auf einem schwarzen Leder-Drehstuhl in der Sonne und nickt ihm zu. Alex denkt, dass er nicht mehr als zehn Worte mit Frank gewechselt hat, obwohl sie seit drei Monaten Nachbarn sind. Von der anderen Seite dringt der eifrig summende Chor von Malik Alis Industrie-Nähmaschinen herüber: Drei der Hallen sind von Bangladeschi besetzt, die ihr Geld im Altkleiderhandel verdienen.
Wieder ein mulmiges Gefühl, als Alex die kleine Tür im hohen Doppeltor vor seinem Hallenteil öffnet – jemand könnte im Dunkel auf ihn warten – aber dann schaltet er die Neonlichter ein, und natürlich ist keiner da. Er wirft sich zur Beruhigung zwei Tabletten Cool-Z ein und spült mit dem Tages-Karton Pisant nach, diesem Orangen-Zimt-Gesöff, das er in einer Verkaufs-Arkade an der Tottenham Court Road entdeckte. Pisant war etwa eine Woche lang der Renner im rasant wechselnden Angebot der Novitäten-Haie, vermutlich des exotischen Namens wegen, aber Alex gelang es, den Lieferanten aufzuspüren, bevor das Zeug aus den Regalen verschwand, und nun stapeln sich die letzten Weltvorräte an Pisant in einer seiner drei Industrie-Kühlschränke.
Sonst gibt es noch eine Edelstahl-Küchenzeile, leer bis auf eine große Cappuccino-Maschine und die Mikrowelle, in der Alex die Mitnehmgerichte von Hong Kong Gardens oder seine gefriergetrockneten malaysischen Armee-Rationen aufwärmt – er hat im hinteren Teil der Werkstatt Kisten mit etwa tausend etikettfreien Dosen rumstehen. Ein Bett ist auch da, hinter einem chinesischen Wandschirm aus Lackpapier, und in einem ehemaligen Büroraum hat er eine kleine Toilette und eine Duschkabine installiert. Den übrigen Platz nehmen mit Glaszeug vollgestellte Labortische ein, ein geschlossener Abzug für die Chemiedämpfe, eine Ultra-Zentrifuge, ein Gefriertrockner und ein PCR, ein Secondhand-Bioreaktor, ein Schreibtisch mit einem Metallrack für den Computer, an dem Alex die DNS-Segmente rekombiniert und das Ökosystem für sein künstliches Leben steuert – und mitten auf dem nackten Beton-Fußboden die Maschine, für die er seine Seele verkauft hat: Black Betty, das Argon-Laser-Superding von Nuclear Chicago, ein Nucleotiden-Sequencer und -Assembler nach dem neuesten Stand der Technik.
Der Geruch der Werkstatt, dieser kräftige Cocktail aus Lösungsmitteln und einer Spur von Salzsäure-Dämpfen, beruhigt sein Kleinhirn. Alex lebt nun schon ein Vierteljahr hier, und es gefällt ihm immer noch. Black Betty schnurrt und klickt, während die Mini-Cray, die sie steuert, das Assembler-Programm Zeile um Zeile weiterscrollt. Sie produziert gerade den nächsten Schwung von dem Zeug, das er am Bahnhof King’s Cross in Müll verwandelt hat, aber er bringt es nicht übers Herz, sie abzuschalten. Natürlich hätte er sie niemals kaufen und sich so hoch verschulden dürfen – ausgerechnet bei Billy Rock. Aber was soll’s? Es war Liebe auf den ersten Blick, und niemand außer der Mafia hätte ihm das Geld vorgestreckt.
Alex geht seine Post durch, aber es ist nichts...




