E-Book, Deutsch, 232 Seiten
Merkel Das europäische Ich
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-534-40298-4
Verlag: wbg Academic in Herder
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Von der Illusion einer Identität und den multiplen Ichs der Literatur. Geschichte und Geschichten.
E-Book, Deutsch, 232 Seiten
ISBN: 978-3-534-40298-4
Verlag: wbg Academic in Herder
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Seit 800 Jahren zweifeln europäische Dichter an der Identität des Ichs: Schon Wolframs "Parzival" ist als "Mensch ohne Eigenschaften" auf der Suche nach dem Selbst und sein Ziel eine Illusion. Durch Zufälle und seine Beziehungen ständig verändert hat das Ich von da an niemals eine lineare Geschichte, sondern wird in Geschichten erzählt. Die Kirche hingegen fördert und überwacht seine Identität als Einheit von Leib und Seele. Erst nach 1900 zweifelt auch die Wissenschaft und entdeckt im christlichen und cartesischen Dualismus ein kreatives "Zwischen". Dichter schreiben dann Hypertexte, während Bürger wieder einmal von nostalgischen Utopien träumen, die heute Sicherheit, Leitkultur, Nation und Heimat heißen. Bleibt am Ende, mit den Worten Hilde Domins, "nur eine Rose als Stütze"? Ulrich Merkel erforscht in diesem Band interdisziplinär eine Geschichte des europäischen Ichs, im Vergleich mit den Geschichten der Literatur.
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Einleitung
Das Ich im europäischen Kontext hat Konjunktur – in Medien, Vortragsprogrammen und Neuerscheinungen auf dem Buchmarkt – und nicht nur verspätete Post-moderne konstatieren seine angebliche Dekonstruktion. Das Attribut europäisch im Titel des Buches betrifft auch vom geografischen Europa entfernte Länder, in welche seiner Zeit Kolonialisten und Christen ihre kulturellen Wahrheiten1 exportiert haben; zunächst ging es um Gold und Gott, nach dem 17.und 18. Jahrhundert war dann auch vom Humanismus, Liberalismus und den Menschenrechten die Rede. Wenn indessen heutzutage westliche Diplomaten Autokraten in der Türkei, Afrika und Asien an westliche Werte wie Demokratie und Menschenrechte erinnern, ernten sie in der Regel gerade noch ein höflich ironisches Lächeln. Die Zeiten, in denen so genannte europäische Ich-Kultur kraft tatsächlicher wirtschaftlicher und imaginierter moralischer Überlegenheit außereuropäischen Wir-Kulturen ihre Werte predigen konnte, sind im Schwinden. Von der angeblich postmodernen Dekonstruktion des Ichs ist im Buch kritisch die Rede, und die These ist, daß das Phänomen multiples oder instabiles Ich nachgerade zirka 800 Jahre alt ist und die Ambivalenz und Komplexität des angeblich modernen oder postmodernen Ichs bereits zu Beginn des 13. Jahrhunderts in einem literarischen Zeugnis deutlich wird: zu Beginn des Epos Parzival von Wolfram von Eschenbach, in dem für seine Epoche neuen Wort Zweifel und dem folgenden Elsterngleichnis, einer Metapher der moralischen Schwarz-Weiß-Ambivalenz des Menschen; siehe die Kapitel 2 und die folgenden des Buches. Nach dem und im Untertitel des Buches hätte statt multiple Ichs auch Menschen ohne Eigenschaften in der Literatur stehen können. Die gedankliche Verbindung zu Robert Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften liegt nahe, wobei wir das Wort Mann auch als Mensch im Sinne des englischen mankind lesen dürfen. Es sind die auch von Musil benannten so genannten Eigenschaften, die, wenn auch nur als Illusion, ein lebensfähiges Ich bilden und die, wenn auch mainstream-begrenzt, vielleicht noch eine gewisse Freiheit des Denkens gewähren. Ein Übermaß an Eigenschaften aber läßt den letzten freien Gedanken zur Überzeugung erstarren. Das Ich wird damit zum Gläubigen im Schutz (oder Gefängnis?) der (möglichst fensterlosen) festen Burg, die unser Gott ist, und von der Luthers Lied erzählt.2 Die vollkommene Eigenschaftslosigkeit würde indessen einer absoluten Freiheit des Denkens entsprechen, d.h. dem Nichts und damit auch dem physischen Tod. Das Kapitel 6.1. handelt Vom Ich-Verlust eines Mittlers – Pierre Mertens Les bons Offices, einem der wichtigsten frankophonen Romane des letzten Jahrhunderts. Die Hauptfigur trägt den vielsagenden Namen Paul Sanchotte, eine Verbindung von SANcho Pansa und Don QuiCHOTTE. Als Mittler zwischen zwei feindlichen Parteien arbeitet er jeweils empathisch mit einem anderen Ich. Als Familie und Haus als einzige ihn noch lebensfähig erhaltende Bindung verlorengehen, folgt seine Auflösung im Sand der Wüste, im Nichts.3 Auch Musils Ulrich, der Mann ohne Eigenschaften, weiß, daß er den Freiheiten eines Möglichkeitssinns doch ein Minimum an Wirklichkeitssinn hinzufügen muß, um lebensfähig zu bleiben; schon der Name Ulrich ist dazu ein Beginn, denn ein persönlicher Name ist eine wichtige Eigenschaft im Miteinander der Menschen; in den Kapiteln 2.3. und 2.4. ist davon die Rede. Ist zwîvel herzen nachgebûr daz muoz der sêle werden sûr: Die aus beständigem Zweifel entstehende Freiheit des Denkens muß das Gemüt belasten. Die Anfangszeilen von Wolframs Epos erwähnen damit zugleich die Angst, welche mit einer weitgehenden Eigenschaftslosigkeit bzw. Freiheit des Denkens notwendig verbunden ist. Dies scheint uns das erste literarische Zeugnis jener Melancholie zu sein, welche in den folgenden Jahrhunderten alle wichtigen europäischen Dichter und Künstler und Denker notwendig begleiten wird, bis zur tristesse, dem ennui und spleen der Romantiker und heutigen Depressionen – mit allen wunderbaren und zugleich oft traurigen Folgen. Davon ist insbesondere im Kapitel 9.2. die Rede: Melancholie oder die gefährliche Einsamkeit des Denkens. Das Ich und damit auch die oben erwähnten Ideen und Werte sind im Weltvergleich ein europäischer Sonderfall. Seit dem Ende des 20. Jahrhunderts mehren sich die Stimmen außereuropäischer Kritik an der Überheblichkeit des Westens, damit alle Welt missionieren zu wollen. Ein Beispiel neben vielen anderen ist der Philosoph und Bioethiker Godfrey Tangwa (Universität Yaounde, Kamerun): Es sei ein Merkmal der westlichen Ethik zu glauben, sagt er, sie funktioniere losgelöst von den Glaubenssätzen und Bräuchen ihrer Gesellschaft.4 „In Afrika stehe das Zusammengehörigkeitsgefühl im Zentrum – nicht wie im Westen das Individuum. Dem Westen klarzumachen, daß seine Ich-Kultur nicht wie ein Teekannenwärmer der Wir-Kultur übergestülpt werden kann, ist Tangwas wichtigste Mission. Er verlangt nur, daß der Westen nicht immer rede, sondern auch mal zuhöre und Afrika als ebenbürtigen Partner in bioethischen Fragen betrachte.“5 Die Kapitel 2.2. und 2.3. widmen sich den unterschiedlichen Bedingungen eines Ichs in der Ich- und in einer Wir-Kultur. Wie und wann aber sind dieses seltsame Ich und seine europäische Kultur entstanden? Die katholische Kirche definiert das Ich im Zusammenhang mit der Idee des Individuums und seiner individuellen unsterblichen Seele; sie betreut, fördert und bewacht es insbesondere seit der 1215 durch Papst Innozenz III. als Dogma eingeführten individuellen Ohrenbeichte. Man hatte vor 1200 und um die Wende zum 13. Jahrhundert mit den anwachsenden Ketzerbewegungen schlechte Erfahrungen gemacht, und die in den ersten christlichen Jahrhunderten übliche kollektive Beichte war längst keine ausreichende Kontrolle mehr darüber, daß, warum und wie einzelne Schafe die Herde der Gläubigen und ihren Hirten verließen. Die kirchliche Ichpflege gibt es, wenn mittlerweile auch ohne Inquisition, bis in unsere Zeit – und dies auch mit begleitenden und säkularen Folgen. Zu den säkularen Folgen gehört die Einführung der Zeit als Ordnungsfaktor, notwendig entstanden als Reaktion auf die teilweise chaotischen Veränderungen bisheriger politischer und sozialer Strukturen und in Verbindung mit dem seit der Gotik wichtigen eschatologischen Denken, in linearer Zielrichtung zur bevorstehenden Wiederkehr Christi und dem Jüngsten Gericht. In den westlichen Ländern ist die neue Zeitordnung dann auch eine notwendige Voraussetzung für Wissenschaft und Industrialisierung. Die spätere Ideologie des Fortschritts war eine säkulare Tochter eschatologischen Denkens, wohingegen in den Verhaltensweisen und Sprachen der so genannten Wir-Kulturen die Zeit differenzierende Vokabeln wie Vergangenheit-Gegenwart-Zukunft oder Werte wie Pünktlichkeit, Eile und Fleiß Fremdworte waren und trotz Globalisierung meist bis heute blieben.6 Ein Europäer ohne Kenntnis und Empathie wird dies, den kulturellen Kontext Indiens oder Afrikas betreffend, meist abwertend verstehen. Erstaunlich aber ist, wenn auch nur auf den ersten Blick, ein durch die Jahrhunderte deutlicher paralleler Zweifel in der europäischen Literatur, Kunst, und Philosophie an der Stabilität und sogar am Vorhandensein eines individuellen Ichs; und dies ist ebenfalls nachweisbar seit dem Beginn der Gotik und in folgenden Jahrhunderten. Ein Beispiel neben vielen anderen, denen dieses Buch besondere Aufmerksamkeit widmet, ist eine Äußerung des Autors Martin Walser in der Festrede über Hölderlin und seine Krankheit (1970); er bestreitet, daß Hölderlin ein Ich habe – oder „nur soweit, als es ihm von außen versichert wurde. Er mußte sich in anderen erfahren. Das muß jeder. Das Individuum ist eine glänzende europäische Sackgasse.“7 Und, wie gesagt, Walser hatte mit dieser Meinung Nachfolger und Vorgänger, letzteres nicht nur im schottischen Aufklärer David Hume, der u.a. in seinem kritischen Essay Über die Unsterblichkeit der Seele (1777) wieder einmal die katholische Kirche herausfordert, welche prompt seine sämtlichen Schriften auf den Index setzt. Hierzu auch die auf Kapitel 2 folgenden Abschnitte. Nicht umsonst bezeichnet sich bereits im 17. Jahrhundert der Romancier Christopher von Grimmelshausen als Apophtegmatiker, d.h. als einer, der (wie im 18. Jahrhundert Georg Lichtenberg) den Sinn in einzelnen Geschichten findet, die wie im Roman Simplicissimus beliebig kombinierbar sind. In lebenslangem Schreiben (wie nach ihm Marcel Proust und andere) verfaßt Grimmelshausen seine Simplicianischen Schriften und meidet darin, wie fast alle bedeutenden europäischen Romanciers, jene Linearität und Kausalität der Aussagen, welche die Dogmatik der katholischen Kirche seit dem großen Schisma...