E-Book, Deutsch, 224 Seiten
Möring AMEN
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-641-26671-4
Verlag: Luchterhand Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 224 Seiten
ISBN: 978-3-641-26671-4
Verlag: Luchterhand Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Marcel Möring, geboren 1957 in Enschede, gilt als einer der bedeutendsten zeitgenössischen Literaten der Niederlande. Für seinen ersten Roman 'Mendel' erhielt er 1991 den wichtigsten Debütpreis des Landes, den Geertjan-Lubberhuizen-Preis, und weitere Romane wurden mit dem AKO-Literaturpreis, der Goldenen Eule und dem Flämischen Literaturpreis ausgezeichnet. Sein Roman 'Der nächtige Ort' wurde 2007 mit dem Ferdinand-Bordewijk-Preis zum besten niederländischen Roman des Jahres gekürt. Marcel Möring lebt in Rotterdam.
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3
Eine Dose für die Katze und einen Becher Instantnudeln für mich, während ich topographische Dateien und Geodaten herunterlade. Zwei Gigabytes später starre ich auf den Bildschirm. Die Auflösung, 3 200 Pixel pro Kilometer, reicht aus, auch die kleinsten Wege zu erkennen. Warum wurde das Wrack ausgerechnet dort zurückgelassen? Das Hingsteveen ist kein Ort, an dem man etwas verliert. Es ist ein Ort, an dem gefunden wird. Ein Ort, der Bedeutung hat.
Die Katze kommt herein und legt sich auf die Fensterbank. Sie sieht mich an und kneift die Augen zu Schlitzen zusammen.
Joyce hat mich mal gefragt, warum jemand wie ich eine Katze hat.
Ich fragte, was sie damit meine. Jemand wie ich.
Dass ich nicht den Eindruck machte, dass ich, na ja, jemanden bräuchte.
»Ich brauche dich.«
Sie hatte mich angesehen.
»Und du hast mich«, sagte ich. »Aber vielleicht brauchst du mich nicht.«
Keine Antwort.
Eine Katze. Weil dann jemand (etwas) da ist, wenn man nach Hause kommt. Nicht, dass es einer Katze etwas ausmacht, ob du traurig, froh oder mordlustig bist.
Vielleicht hätte ich Joyce sagen sollen, dass ich eine Katze habe, weil ich dann zumindest sicher weiß, wie jemand (etwas) meinem Gefühlsleben gegenübersteht. Dass es also jemanden gibt, dem es völlig egal ist, ob ich …
Acht DIN-A3-Bögen ergibt der Download. Ich klebe sie aneinander und lege sie auf dem Fußboden aus. Die Katze setzt sich auf die Schwelle des Arbeitszimmers und schaut zu, wie ich, im Schneidersitz auf dem Boden, auf die Ausdrucke starre. Das kleine Gebiet, in dem ich das Auto gefunden habe, nimmt allein schon ein Blatt ein. Jeder winzige Weg, jede Brandschneise, jede kleine Waldparzelle ist zu erkennen, inklusive der jeweiligen Vegetation. Je länger ich darauf schaue, umso weniger begreife ich es. Es ist nicht logisch. Warum dort? Warum auf diese Weise?
Es gibt ein Wort, mit dem Archäologen sich aus einer Situation herausreden, die sie nicht erklären können. . Ist das rituell? Oder ist es eine Sache von ?
Wo ein Fund früher fast nur für sich betrachtet wurde, als isoliertes Etwas, ist heutzutage der größere Zusammenhang entscheidend. Ein Hünengrab, ein Grabhügel, die befinden sich nicht irgendwo, weil es sich zufällig so ergeben hat. Der Ort hat eine Bedeutung. Er ist Teil eines Narrativs. Die Geschichte des Ortes, der Zeit, der Menschen an diesem Ort und in dieser Zeit.
Vielleicht ist es beides.
.
Was ich spürte, als ich in die Sphäre rund um das Wrack trat.
Stille.
Zeitlosigkeit.
Bleiche Haarwurzeln, die suchen.
Ein Netzwerk, das ausgreift.
Ein Ort, der Kontakt sucht.
Klang, der verschwindet, Umgebung, die verschwindet.
Nichts als ein schwarz versengter Haufen Stahl und geschmolzenes Plastik. Der verbogene Rahmen der Windschutzscheibe. Das verformte Dach. Der schwere Geruch von Ruß und Diesel und verbranntem Kunststoff.
Doch vor allem eine gewaltige Stille. Eine Stille, die nicht die Stille im Sinne von kein Geräusch ist. Nein: eine greifbare Stille. Eine Stille, die Gewicht hat. Eine Abwesenheit, die anwesend ist.
Zwei Menschen haben eine Kuhle ausgehoben, tief genug, um den Wagen über den Körper zu rollen. Der Wagen, der langsam den Weg neben der Wiese entlangkriecht. Die Scheinwerfer gelöscht. Jemand geht voraus, um das Auto durch die Dunkelheit zu lotsen. Ein Handylicht als Führer. Wo die Lichtung sich öffnet, halten sie an. Dort nehmen zwei von ihnen Klappspaten aus dem Kofferraum. Sie gehen ein Stück den Weg entlang, und zwischen den Fahrspuren, ungefähr in der Mitte, graben sie eine Kuhle, in der jemand mit angezogenen Knien liegen kann, gerade tief genug, ihn so weit einsinken zu lassen, dass das Auto später darüberrollen kann. Sie sammeln trockenes Laub unter den Bäumen und legen es in die Mulde. Niemand spricht. Es wird schnell und systematisch gearbeitet. Dreißig Minuten? So ungefähr. Menschen unterschätzen, wie lange es dauert, ein Grab auszuheben. Von Zeit zu Zeit wird die Arbeit unterbrochen, wenn einer von ihnen zum Auto geht, um nach ihrem Kameraden zu schauen. Schließlich holen sie ihn aus dem Auto, und gestützt auf ihre Schultern (nein, auf ihren Schultern hängend) wankt er zu der Stelle, an der er das Ende und den Anfang von allem begrüßen wird. Er legt sich in das knisternde Blätternest, eine Hand unter dem Kopf, die andere auf der Hüfte. Er passt seine Atmung dem Mantra an.
.
Alles ist von sich aus leer.
.
Alles ist von sich aus leer.
Der samtene Singsang des Mantras. Der hohe Nachthimmel, die Vielzahl der Sterne. Alles ist eins. Alles war. Alles ist nichts.
Als der Geist aus dem Körper gewichen ist, schieben sie das Auto über die Stelle. Einer von ihnen holt den Kanister aus dem Kofferraum und leert ihn über die Sitze. Sie öffnen ein Fenster, zünden ein durchtränktes Stoffknäuel an und werfen es ins Auto. Ein explodierender orangeroter Ball hüllt den Wagen ein. Sie laufen weg. Selbst als sie schon ein ganzes Stück entfernt sind, zwischen den Bäumen, im dunklen Nadelwald, sehen sie noch, mit welcher Heftigkeit die Flammen das Auto verschlingen.
Hier sind drei Menschen, die vielleicht getötet haben. Jedenfalls haben sie geraubt und bedroht. Sie haben vernichtet, anstatt zu erschaffen, und in ihrem Streben nach einer besseren, anderen, gerechteren Welt haben sie ihre Menschlichkeit geopfert und das Gegenteil dessen geschaffen, wofür sie eintraten.
Und dennoch. Mitgefühl.
Warum?
Dass ich etwas empfinde für »Fremde und das Leid in der Welt«, aber nicht für »echte Menschen«, würde Joyce sagen. Dass ich endlos über Tibet daherlabern kann und hungrige Kinder in Afrika, aber das Leid vor meiner Nase nicht sehe. Dass ich auf der Couch sitze und bei flenne, dass Schmerz für mich aber nicht ist.
Joyce glaubte nicht an mein Mitgefühl. Nicht an das mit dem Leid der Welt und vor allem nicht an das mit ihr. Ihr Blick, wenn ich mich wegen etwas bewegt zeigte: Was hast du damit zu tun? Dass du Gefühle hast für Leid und Schmerz in der Ferne, außerhalb von dir, bei anderen. Dass dich berührt, was du nicht bist, was kein Teil deiner Existenz ist. Sie betrachtete es wie ein Ethologe, der ein bestimmtes tierisches Verhalten nicht erklären kann.
Joyce glaubte auch nicht an die Reinheit der Liebe. Sie war eine Vertreterin des emotionalen Determinismus. Menschen lieben einander, weil es Vorteile bringt. Wärme, Gesellschaft, Bestätigung, eine effizientere Weise der Haushaltsführung, die Erwartung, nicht allein sterben zu müssen. Sex.
Ich sagte Ungläubigkeit. Fast schon Panik. Dass ich sie liebte, weil sie es war … . Das konnte sie nicht verstehen. Dass es so war. Die Verzweiflung. Weil man jemandem nicht klarmachen kann, dass man ihn/sie liebt, grundlos, uneigennützig (ja, in der Hoffnung, dass der/die andere ebenfalls … aber doch vor allem, weil X nun mal X ist), und man weiß nicht, was man tun soll, und je besser man zeigen kann, wie sehr … und so weiter … Dieses mein Verlangen, nach ihr, ihren Küssen, ihrem Körper, Verlangen, sie zu umarmen … … für sie war es Ausdruck einer physischen Funktion: ein Körper, der verlangt, was erklärt, weshalb alle diese Männer, mit denen sie kurzzeitig etwas hatte, solche fragwürdigen Typen waren, die »Der Mann« spielten, Kerle auf Motorrädern, Imponiermänner, Typen, die einen betrogen, weil sie sich, wie Joyce, nicht vorstellen konnten, dass es mehr gibt als das Sehnen nach einem anderen Körper, und, ja, mein Verlangen war das auch, ihre Beine, ihre Brüste , ihr Gesäß, die Vollheit ihres Mundes aber vor allem um dessentwillen, wer sie war. Doch das glaubte sie nicht. Das war jenseits ihres Vorstellungsvermögens. Oder, vielleicht besser: Das wollte sie nicht glauben.
Mein Körper sehnte sich nach ihr, fand aber nichts als ihren Körper, und, ja, den begehrst du, nach dem verlangt es dich, aber du willst auch mit ihr zwischen Feldblumen im Schatten eines Baumes liegen, ihr Kopf auf deiner Schulter, deine Hand auf ihrer Hüfte, und der Duft von Erde und Gras und das Summen der Hummeln und ihr Blick, wenn sie die Augen aufschlägt, und du spürst die Erde unter dir, das Kreisen der Welt im All zwischen Sternen, die du jetzt nicht siehst, die aber da sind, und in der Erde, tief und vergessen (schließlich bist du Archäologe) das Erbe der Jahrhunderte, der Jahrtausende, wer und was hier lebte, bevor ihr kamt und euch niederließet am Feldrain alles und alles ist jetzt, ihr, sie und du, du in ihrem Blick, sie in deinem, und du richtest dich auf, du hebst die Hand von ihrer Hüfte und legst sie zwischen ihre Brüste, du sagst und während du das sagst und ihre Augen matt...