E-Book, Deutsch, 448 Seiten
Möring Eden
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-641-22373-1
Verlag: btb
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 448 Seiten
ISBN: 978-3-641-22373-1
Verlag: btb
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
„Reden ist mein Ding“, sagt der Psychiater Mendel Adenauer, der in einer Klinik in Assen im Nordosten der Niederlande arbeitet und ganz gut zu tun hat, auch einige Erfolge verzeichnen kann. Bis ein mysteriöser Mann umherirrend im Wald gefunden wird und ebenso mysteriös wieder verschwindet. Die Geschichte dieses Niekas reicht viele Jahrhunderte zurück und vereint die Legende von Ahasver, dem wandernden Juden, und den uralten Mythos des Buches Raziel, nach dem Niekas sucht: Bei der Vertreibung aus dem Garten Eden gab der Engel Raziel Adam ein Buch, das das Schicksal der gesamten Menschheit enthalten soll …
Marcel Möring, geboren 1957 in Enschede, gilt als einer der bedeutendsten zeitgenössischen Literaten der Niederlande. Für seinen ersten Roman »Mendel« erhielt er 1991 den wichtigsten Debütpreis des Landes, den Geertjan-Lubberhuizen-Preis, und weitere Romane wurden mit dem AKO-Literaturpreis, der Goldenen Eule und dem Flämischen Literaturpreis ausgezeichnet. Sein Roman »Der nächtige Ort« wurde 2007 mit dem Ferdinand-Bordewijk-Preis zum besten niederländischen Roman des Jahres gekürt. Marcel Möring lebt in Rotterdam.
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In diesem Wald, in einem Dorf ohne Namen, kam ich zur Welt. Es hatte keinen Namen, weil es dort gar nicht hätte sein sollen. Es war ein Ort, an dem sich Holzfäller, Köhler und Pelzjäger niedergelassen hatten. Wenn einer von uns gefragt wurde, wo wir wohnten, dann sagte er »dort« und wies in die Richtung des nicht existierenden Dorfes, und wenn wir hier waren, inmitten unserer kleinen Häuser und Hütten, dann nannten wir es »hier« und schauten uns um, als müssten wir uns selbst davon überzeugen, dass es das Dorf tatsächlich gab.
Ich selbst hatte auch keinen Namen, und das aus demselben Grund. Vor meiner Geburt waren vier andere Kinder gestorben. Keines von ihnen war älter als einen Monat geworden. Es waren ein Mädchen, zwei Jungen und noch ein Mädchen gewesen. Als ich geboren wurde, war das Vertrauen meiner Eltern in die Lebensfähigkeit ihrer Sprösslinge so gesunken, dass sie hofften, der Engel des Todes würde mich übersehen, wenn ich namenlos blieb. Es war der gleiche Aberglaube, der Mütter ihren kranken Kindern einen anderen Namen geben ließ.
Meine Mutter war nach der Entbindung fiebrig und schwach. Ihre Brüste waren leer, und sie musste das Bett hüten. Da es im ganzen Dorf, das aus lediglich acht kleinen Häusern und einigen Hütten bestand, keine stillende Frau gab, wickelte mein Vater mich in Tücher, schlug ein Stück Fell um das Bündel und ging in das nächstgelegene Dorf. Dort fand er eine litauische Bäuerin, die ihr Kind noch an der Brust hatte. Doch sosehr er auch schmeichelte, jammerte und feilschte, sie wollte ihre Milch dem Balg eines Gottesmörders nicht zukommen lassen. Sie verstaute ihre tropfenden Brüste im Mieder, spuckte aus und rief den Bauern, der meinen Vater mit dem Dreschflegel vom Hof jagte. Und so ging es weiter, Tür um Tür, Hof um Hof. Am Ende des Tages, als mein Vater sich mit seinem hungrigen Kind auf den Rückweg machte, kam am Dorfrand eine Frau auf ihn zu. Es war eine Frau von schlechtem Ruf, die Kinder von verschiedenen Männern hatte und sich und ihre Sprösslinge dadurch am Leben erhielt, dass sie für die Bäuerinnen des Dorfes wusch. Es gab auch Leute, die sagten, sie verkaufe ihren Körper.
»He du«, rief sie meinem Vater zu, »wohin gehst du mit diesem Kind?«
Mein Vater, ein starker Holzfäller, aber lammfromm und scheu, wenn es um Weltliches ging, senkte den Kopf und erzählte ihr murmelnd von den vier toten Säuglingen, seiner kranken Frau, ihren leeren Brüsten und der fruchtlosen Suche nach einer Amme. Die Waschfrau betrachtete ihn unter ihren wirren Locken hervor und lächelte.
»Du siehst nicht aus wie ein Mann, der keine gesunden Kinder machen kann«, sagte sie. Sie griff ihn beim Arm, legte seine Hand auf ihren vollen Busen und sagte: »Ich habe genug für zwei. Ich habe sogar zu viel.« Sie ließ seine erstarrte Hand los und lachte. »Ich habe so viel, dass ich sogar dich noch säugen kann.« Dabei lachte sie so laut, dass mein Vater sich umsah, ob jemand sie beobachtete. Die Waschfrau winkte ihm und ging in ihr Häuschen, ohne zu schauen, ob mein Vater ihr folgte.
So wurde mir das Leben gerettet, durch die unbekümmerte Wohltäterin, die meine Amme wurde. Mein Vater legte mich in ihre Arme und überließ mich meinem Schicksal. Sein Kind würde mit Sicherheit sterben, falls er es in das Dorf ohne Namen zurückbrächte. Besser, es dort zu lassen, wo es vielleicht verdorben wurde, als es vor der Schändlichkeit der Welt zu bewahren, dabei aber seinen Tod zu riskieren, denn wer auch nur einen einzigen Menschen rettet, rettet die ganze Welt.
In jener Nacht, als er zu seiner fiebernden Frau zurück-kehrte, wo eine der anderen Frauen die Hitze mit einem Sauerampferwickel zu senken versuchte, zuckte er mit den Achseln und sagte, es sei alles zu spät gewesen und vergebens. So wenig Hoffnung hatte er, dass er sein Kind dem Engel des Todes übergab, bevor dieser es einforderte.
Die Waschfrau hieß Ana. Als mein Vater sie mit mir allein gelassen hatte, löste sie die Schnürung an ihrer Jacke, hob die linke Brust heraus und legte mich an. Ich trank wie ein Durstender, der lange umhergeirrt ist und endlich eine Quelle gefunden hat, und als die linke Brust leer war, legte sie mich an die rechte, und auch davon trank ich. In jener Nacht bangte sie um mein Leben, weil ich mich unter Krämpfen wand und trotzdem nicht schrie. Am nächsten Morgen, als sie mir den Bauch gerieben und meine Lippen mit Fenchelsud benetzt hatte, legte sie mich wieder an, und ich trank zum zweiten Mal, und obwohl mir die Milch auch diesmal Krämpfe bescherte, war bereits nach einem Tag zu sehen, dass ich kräftiger und gesünder wurde, und sechs Monate später, als mein Vater wieder ins Dorf kam, diesmal um Häute zu verkaufen und Salz und Stoffe mitzunehmen, sah er ein Kind mit roten Wangen, einem widerspenstigen Schopf pechschwarzen Haars und einem Leib wie ein fettes Ferkel. Meine Mutter war da bereits gestorben.
Als ich kein Säugling mehr war, holte mein Vater mich ab, und ich kehrte zurück in das Dorf, das es nicht gab. Weil niemand dort je von einem Kind ohne Namen gehört hatte und es keinen gab, der Aufschluss geben konnte, beließ mein Vater es dabei. Man nannte mich »der weg war« oder Niekas, was »niemand« bedeutet.
Die Jahre verstrichen, heiße Sommer kamen, weiße Winter gingen, und ich wuchs zu einem Jungen heran, der beim Fällen der Eiche und beim Häuten des Bibers half. Wenn ich am dahineilenden Wasser stand, in dem die Baumstämme stromabwärts trieben, war es, als sei der Wald die ganze Welt und als gehöre alles zu ihm. Bäume wuchsen und fielen, und kaum lagen die Stämme der frisch gefällten Bäume auf der Erde, da schossen schon wieder junge kleine Eichen aus ihr hervor. Laub trudelte zu Boden, wurde, noch ehe es verdorren und vermodern konnte, unter einer dicken Schneeschicht begraben und bildete im Frühling, wenn der Schnee geschmolzen war, eine duftende Humusschicht, in der sich Würmer und Käfer und Mäuse und Salamander tummelten, und aus dieser vermodernden Schicht schossen Farne und Gräser und Kräuter in die Höhe und kleine blasse Orchideen und duftende Anemonen und winzige Walderdbeeren, die wie frische Blutstropfen zwischen den grünen Blättern blinkten. Die Lerche stieg über Waldlichtungen zur Sonne empor, riesige Ameisen krabbelten über morsche Baumstümpfe, die manchmal kaum sichtbar waren unter den Moosen, der Wisent stand still und starrte traurig vor sich hin, als wüsste er bereits, welches Schicksal ihm beschieden war, und aus dem gemächlich vorbeifließenden Fluss schnellten Fische empor und pflückten eine Wasserjungfer oder eine Fliege aus der Luft. Es wurden Bäume gefällt, es wurde gefischt. Häute wurden gegerbt und Beeren gepflückt. Die Jahre glitten dahin, und die Zeit wiederholte sich. Was war, war schon gewesen und würde wieder sein. Alles war Leben, alles verging und wurde neu und alt, und ich war ein Teil davon.
Als ich alt genug war, wurde ich zum Fluss geschickt. Dort waren wir zu fünft: die Zwillinge, die Moses und Aaron genannt wurden, weil der eine stotterte und der andere seine gebrochenen Worte ergänzte; Jaakov, der Jüngste; Adam und ich. In einer Biegung des Flusses lagen die Baumstämme, die die Männer stromaufwärts gefällt und ins Wasser gerollt hatten. Wir banden sie zu Flößen zusammen, die wir aneinander festmachten und zur Flussmitte stakten, worauf wir sie zum nächsten Dorf treiben ließen, wo das Holz zur Lagerung in ein Nassloch gezogen wurde. Wenn wir fertig waren, brachten wir die Fischnetze aus, setzten uns ans grasige Ufer und schauten den träge über den Feldblumen hängenden Hummeln zu und dem Blütenstaub in der Luft. Aus dem Wald ertönte das Hämmern der Spechte. Wir kauten auf langen Halmen herum und lagen rücklings im duftenden, würzigen Gras.
Eines Tages, der Himmel fast weiß und die Sonne so grell, dass das Grün an den Bäumen dumpf und schlaff herabhing und die Hitze uns die Haut versengte, sahen wir Malka, die Gänsehirtin, ein Mädchen unseres Alters, das so eigensinnig wie in sich gekehrt war und am liebsten allein durch den Wald streifte. Jeder wusste noch, wie sie einmal auf einem Tarpan ins Dorf geritten war. Das Pferd habe sie gefragt, ob sie nicht auf seinen Rücken steigen wolle, sagte sie. Die Gruppe, die sich um sie versammelt hatte, war in Hohngelächter ausgebrochen, und ein Junge hatte gerufen, dass Pferde nicht sprechen könnten, und wieder ein anderer, ob sie am nächsten Tag mit einem Stein ankäme, wenn dieser sie bäte, ob er mitdürfe. Malka war ungerührt sitzen geblieben, die Fäuste in der struppigen Mähne, die dünnen braunen Beine fest an die Flanken gedrückt. Ihre einsamen Streifzüge durch den Wald hatten ein Ende gefunden, als sie Gänsehirtin wurde und ihre Vögel am Flussufer weidete.
An jenem heißen Sommertag, als wir vom Waldrand zum Fluss gekommen waren, um Flöße zu bauen, stand sie ein Stück weiter stromaufwärts und hütete ihre Gänse. Das Gras reichte ihr bis zu den Knien, sie trug ein verschossenes braunes Kleid, und ihr rotes Haar flammte im Sonnenlicht. Stäubchen und Blütenfädchen umschwebten sie. Hoch über uns schossen Schwalben durch die Luft. Adam rief und winkte, und Malka drehte sich um. Ich stakste steif und unbehaglich durchs hohe Gras und schaute nicht auf, als Malka Adams Gruß erwiderte.
Es lag viel Holz herum, und wir hatten lange damit zu tun, die Stämme aneinanderzubinden. Als das erste Floß fertig war, stakte Jaakov es zu dem Pfahl, der ein Stück vom Ufer entfernt in den Grund geschlagen war, und machte es dort fest. Adam folgte und band sein Floß an das von Jaakov. Moses und Aaron stritten sich, wer jetzt folgen sollte, und derweil stand ich auf meinem Floß und sah mich um. Um uns...




