Moshfegh | McGlue | E-Book | www.sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 144 Seiten

Moshfegh McGlue


1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-95438-070-1
Verlag: Liebeskind
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 144 Seiten

ISBN: 978-3-95438-070-1
Verlag: Liebeskind
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Salem, Massachusetts. Im Jahr des Herrn 1851. Der Seemann McGlue ist schwerer Trinker und sitzt im Gefängnis. Ihm wird vorgeworfen, vor Sansibar seinen besten Freund Johnson ermordet zu haben. Nur kann er sich an nichts erinnern. Was daran liegt, dass sein Schädel gespalten ist, seitdem er vor Monaten aus einem fahrenden Zug gesprungen ist, um nicht als blinder Passagier entdeckt zu werden. McGlue will sich auch an nichts erinnern, er will nur trinken. In der Nähe von New Haven hatte Johnson ihn einst auf der Straße aufgelesen und so vor dem Erfrieren gerettet. Er war es, der nach seinem Sturz für ihn sorgte, der ihn zur Handelsmarine brachte und mit ihm um die Welt segelte. Warum also sollte McGlue ihn umgebracht haben? Ottessa Moshfegh erzählt die abgründige Geschichte eines Mannes, dessen Hass auf die Welt zu groß ist, als dass er unversehrt sein Dasein fristen kann. 'McGlue' ist ein stimmgewaltiges, eindringliches Buch über das immerwährende Scheitern des Menschen, den eigenen Unzulänglichkeiten Herr zu werden. Denn zwischen Schuld und Gerechtigkeit steht immer das Leben.

Ottessa Moshfegh wurde in Boston geboren und ist kroatisch-persischer Abstammung. Für ihre Erzählungen, die regelmäßig bei Granta, im New Yorker und der Paris Review erscheinen, wurde sie mehrfach ausgezeichnet. Für 'McGlue' erhielt sie den Believer Book Award sowie den Fence Modern Prize, für ihren Roman 'Eileen' den PEN/Hemingway Award. Ottessa Moshfegh lebt in Los Angeles.
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MACQUARIE HARBOUR, TASMANIEN


Wir liegen am Kai und die meisten Kameraden sind auf Landgang, aber neben mir schnarchen die eingesperrten Blackies. Dann höre ich, wie einer was in eine Tasse gießt. Ich bin hellwach. Rau reibe ich meine Handgelenke an den Oberschenkeln, bis ich die Fesseln los bin, dann stehe ich auf und ziehe das Ende der Pritsche an die Wand, atme tief durch. Auf dem Klapptisch steht eine Feldflasche. Ich schleppe mich mit der Pritsche dahin, schnappe sie mir und trinke sie in einem Zug aus. Nichts als Wasser. Es gletschert mir die Gurgel runter wie das Gegenteil von Pisse auf Schnee, und ich krümme mich zusammen und fluche – meine ersten Worte seit Tagen. Die Blackies murmeln. Dann zerre ich die Pritsche wieder an die Wand, steige hinauf und blicke aus der Öffnung dort oben aufs Deck hinaus. Alles ist blau. Der Himmel ist blau. Die Wolken sind blau. Das Meer ist blau. Als meine Augen dem gemächlichen Zickzack einer Möwe folgen, fangen sie an zu tränen. Weine ich etwa? Wenn diese Seite des Schiffs landeinwärts blickte, würde ich wahrscheinlich vor lauter Verlangen reihern. An jedem anderen Tag würde ich mir eine Dose Tabak kaufen, rasch davon etwas in den Mund stecken, mit dem Rest die Pfeife stopfen, die Augen zusammenkneifen, mir auf die Brust trommeln und nach Johnson schreien, er soll endlich kommen. Dann würde ich mich erkundigen: Wie viele Stunden noch, bis unser Schiff beladen ist. Und dann nichts wie los in die Stadt, nachsehen, was dort geboten wird. In einem Land, in dem Diebe und Mörder hausen, muss es guten Stoff geben, denke ich. Blutwein, denke ich. Aus Frauenfingern gebrauter Whiskey. Irgendeinen starken Schnupftabak aus Giftkräutern, der den schwarzen Herzen im Kerker verabreicht wird. Bestimmt gibt es geröstetes Fleisch. Und Pasteten, gefüllt mit Zuckerpflaumen, Ratten, Brandy. Ich weiß schon, was die Kameraden sagen werden. Nichts als garstige Weiber mit einem Schoß wie ein Schraubstock. Ich verhungere noch.

»Ich verhungere!«, brülle ich hinaus aufs Wasser.

Ich soll etwas Unrechtes getan haben, sagen sie? Johnson ist wahrscheinlich wütend auf mich und kommt deswegen nicht zu mir runter, damit wir uns wieder vertragen. Noch nicht. Und derweil lassen sie mich einfach krepieren hier unten. Seit Tagen habe ich keinen Tropfen mehr gekriegt. Wenn sie sich dann endlich blicken lassen, liege ich völlig ausgezehrt vor ihnen, und dann tut es ihnen schrecklich leid, so leid, dass sie mir zu Füßen fallen und ofenwarme Milchbrötchen mit süßer Butter darauf hochreichen und mich anflehen, ich soll ihnen verzeihen. Alle: Johnson, Pratt, der Käpt’n, Saunders, die Schwuchtel, die ganze Welt, einer nach dem andern. Wie ein freundlicher Priester werde ich ihnen den Kopf tätscheln und nicken. Und dann tunke ich meinen Schädel in ein Fass Gin.

Die Vorstellung meiner Hand auf Johnsons geneigtem Haupt macht mich froh, meiner Finger in dem schwarz glänzenden Haar. Ich würde es zwischen den Fingern zwirbeln wie ein kleines Mädchen beim Zopfflechten, ich würde ihm in die Wangen zwicken und meine Hungermannspucke auf sein Gesicht tropfen lassen und den Frosch in meinem Hals losmachen. »Johnny«, würde ich sagen. »Auf uns, Johnny.« Hoch die Humpen und runter mit dem Bier, beide haben wir Schaum in unseren Seefahrerbärten. So war es auch in Salem, in jenen Nächten, als wir darauf warteten auszulaufen. Die Röte in Johnsons Wangen blüht mit jedem Schluck auf wie eine Blume und verwelkt wieder, wenn er spricht. Sein Haar ist schwarz und pomadenpoliert wie flüssiger Teer, da kann Wind und Wetter kommen, nie verrutscht oder zerzaust es. »Hübsch« wird er genannt. Mich nannte er »Locke« dafür, wie ich mein Haar trug, als wir uns kennenlernten: vorn so lang, dass ich mir die Haare hinter die Ohren stecken konnte. Für einen fünfzehnjährigen Jungen habe er mich gehalten in der Nacht, in der er mich fand, und sich selbst für einen wahren Helden.

Ich muss lachen. Als ich Johnson zum ersten Mal sah, dachte ich, er wäre eins von den schwulen Arschgesichtern, die im Wald mit den Jungs zugange sind, wie man hört, für ein paar Cents ein Mal blasen oder was. Ich kenne die Sorte.

»Glaubst du wirklich«, sagte er, »der Rum hält dich warm, und du erfrierst heut Nacht nicht?«

Ich hatte den Hut über dem Gesicht, die Flasche zwischen den Knien, und schmolz mit dem Hintern langsam einen Sitz in den Schnee. Todmüde lehnte ich mit dem Rücken an einem Baum. Johnson war hoch zu Ross.

»Hau ab«, sagte ich. Warmer Bruder oder nicht, das war mir egal. Ich war zu diesem Zeitpunkt schon seit etlichen Tagen auf Sauftour, irgendwo zwischen New Haven und Orange. Nach Hause würde ich nie zurückkehren. Zwischen die Bäume hindurch konnte ich den vereisten Strand im Mondlicht glitzern sehen. Ich hatte noch eine volle Flasche – einen ganzen Liter – und etwas Geld in der Tasche. Mir ging es bestens. Meinte ich jedenfalls.

Aber Johnson haute nicht ab. Sein Pferd bäumte sich auf, er riss an den Zügeln und ließ es im Kreis tänzeln. Ross wie Reiter standen weiße Dampfwolken vor den Nüstern, als kämen Geister aus ihrem Körper, wie in einem Schauermärchen für Kinder. Ich versuchte zu lachen, aber mein Gesicht war erfroren. Das weiß ich noch.

»Hier draußen stirbst du«, sagte Johnson. »Komm, ich bringe dich in den Ort.«

»Troll dich«, sagte ich zu ihm. Er tat so, als hätte er nichts gehört, und lenkte das Pferd noch ein wenig im Kreis herum.

»Droll, hast du gesagt?«, lachte er. Ich trank einen Schluck. »Da hat der Junge Shakespeare gelesen, und nun sitzt er mit dem Arsch auf Grundeis. Na komm …« Er klopfte mit der flachen Hand auf den Rumpf seines Pferds. »Steig auf, Nicky Bottom.«

Er benahm sich wie ein warmer Bruder, sah aber nicht danach aus. Eine Witzfigur, dachte ich. Macht sich über mich lustig, was soll man anderes von so einem erwarten? Er beugte sich runter von seinem hohen Ross und streckte mir die Hand vors Gesicht, damit ich sie ergriff. Er fragte, woher ich komme, und als ich »Salem« sagte, lachte er.

»Ich stamme auch aus Salem«, sagte er und zog mich zu sich hoch.

Zweiundzwanzig, dreiundzwanzig war ich damals, glaube ich, und bereits ordentlich vom Schicksal durchgeprügelt worden. Ich wusste, dass ich zwangsläufig in irgendeinem besonders erbarmungswürdigen Abschnitt meines Lebens abtreten würde. Ich war dem Untergang geweiht. An den Gedanken hatte ich mich gewöhnt. Doch aus irgendeinem mir unbekannten Grund trat ich nicht ab, sondern nahm die Hand an: Ich stieg aufs Pferd, hielt mich so gut es ging am Zügel fest, und wir ritten los. Auf dem Pferderücken war es keinen Deut weniger kalt als dort unten im Schnee. Aber womöglich hat Johnson recht. Wahrscheinlich hat er mir das Leben gerettet.

Soweit ich mich erinnere, ritten wir die ganze Nacht hindurch gen Süden. Johnson meinte, ungefähr auf der Höhe von Stratford habe ich meinen Kopf an seine Schulter gelehnt und geschnarcht. Als ich aufwachte, in Mamaroneck, an einem Nachmittag, mit dem Kopf auf einem sauberen, weißen Tischtuch und dem Geruch von Bratfisch in der Nase, mussten Tage vergangen sein.

Johnson stand mit dem Rücken zu mir am Herd, im Arm ein Mädchen. Es brachte einen Servierteller zum Tisch, auf dem ein braun gesottener Fisch lag. »Das hier wird unser Nick nicht essen, Schwester«, sagte er. »Tu ihm Kartoffeln auf. Ich vermute, mehr verträgt er fürs Erste nicht, was?«

Ich nickte.

Johnson kam, setzte sich an den Tisch und verzehrte den Fisch mit einer Silbergabel, eine Hand manierlich im Schoß.

»McGlue«, sagte ich.

Wieder reichte er mir die Hand.

Stunden später schließt die Schwuchtel die Tür auf. Draußen bricht der Abend an, graues Licht. Er trägt eine drollige grüne Wollweste. Eine Kiste Apfelsinen kommt auf den Klapptisch, dann baut er sich vor mir auf. Ich falte die Hände.

»Käpt’n hat gesagt, ich soll dir was zu essen geben. Da sind Apfelsinen. Später kriegst du einen Teller mit was Warmem. Vielleicht ein Bier dazu. Aber keinen Rum mehr, Befehl vom Käpt’n. Du hast ein großes Loch im Kopf, McGlue.«

Ich berühre den Spalt in meinem Schädel. Das pfeift in den Ohren. Ich werde wacher, es ist wie ein heller, sonniger Tag, und ich habe nichts vor. Da brauche ich erst recht einen Schluck Rum, denke ich.

»Wenn du musst, dann machst du da rein«, sagt er, tritt hinaus auf den Gang und schleppt eine Pütz an. Er stellt den Blecheimer neben die Pritsche.

»Schönen Dank auch, Schwuchtel«, sage ich. »Gib mal ’ne Apfelsine rüber.«

Er wählt eine Frucht aus und wirft sie mir sanft in die aufgehaltenen Hände. Nette kleine Schwuchtel, denke ich. Braves Kerlchen, denke ich, während ich zusehe, wie er zur Tür geht und von...


Ottessa Moshfegh wurde in Boston geboren und ist kroatisch-persischer Abstammung. Für ihre Erzählungen, die regelmäßig bei Granta, im New Yorker und der Paris Review erscheinen, wurde sie mehrfach ausgezeichnet. Für "McGlue" erhielt sie den Believer Book Award sowie den Fence Modern Prize, für ihren Roman "Eileen" den PEN/Hemingway Award. Ottessa Moshfegh lebt in Los Angeles.



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