Orlev | Lauf, Junge, lauf | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, Band 1107, 232 Seiten

Reihe: Gulliver Taschenbücher

Orlev Lauf, Junge, lauf

Roman
1. Auflage 2011
ISBN: 978-3-407-74305-3
Verlag: Beltz, J
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, Band 1107, 232 Seiten

Reihe: Gulliver Taschenbücher

ISBN: 978-3-407-74305-3
Verlag: Beltz, J
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



'Wie der kleine Jurek durch den Krieg kommt, das ist so ungeheuerlich wie im Simplizissimus: Er hat ein wenig Glück in einer grausamen Welt. Seine Flucht gibt Menschen Gelegenheit sich gut oder böse zu verhalten. Eine Lehre, herzerweichend.' BuchMarkt Jurek ist ungefähr neun, als ihm die Flucht aus dem Warschauer Ghetto gelingt und er sich allein durch die Wälder schlagen muss, bis zum Ende des Krieges. Er lernt, wie man auf Bäumen schläft und mit der Schleuder Eichhörnchen erlegt. Doch die Einsamkeit treibt ihn immer wieder in die Dörfer. Dort trifft Jurek Menschen, die ihm helfen, und solche, die ihn verraten werden. Ein ergreifendes Buch, das auf einer authentischen Geschichte basiert.

Uri Orlev, geboren 1931 in Warschau, wurde 1943 in das Konzentrationslager Bergen-Belsen deportiert, Mit einem Kindertransport kam er 1945 nach Israel. Lange Jahre lebte er in einem Kibbuz und zuletzt in Jerusalem, wo er am 26.7.2022 starb. Orlev ist einer der renommiertesten israelischen Kinderbuchautoren. Zu seinen bekanntesten Romanen gehören »Die Bleisoldaten« und »Lauf, Junge, Lauf«, das in mehr als 25 Sprachen übersetzt und erfolgreich verfilmt wurde. Für sein Gesamtwerk wurde er mit dem Hans-Christian-Andersen-Preis ausgezeichnet. »Uri Orlevs Bücher sind eine Ode auf das Leben und die Menschlichkeit.« (Süddeutsche Zeitung)
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2 Kannst du klauen?


Rühr dich nicht, Junge. Ich bringe dich hier weg


Srulik war ein sehr schneller Junge mit langen Beinen. Er hatte Fußballspielen schon in ihrem kleinen, schlammigen Ghetto in B?onie gelernt. Auch der Ball, eine mit Lappen umwickelte Dose, war ihm nichts Neues.
Sie waren acht und er war der Neunte. Damit Srulik mitspielen konnte, teilten sich die Jungen erneut auf. Ein Junge verließ die Gruppe und setzte sich auf eine Treppe. Dieser Junge trug das sehr große, abgerissene Jackett eines Erwachsenen, obwohl es jetzt, in diesen späten Nachmittagsstunden, sehr heiß war und das schwere Jackett ihn bestimmt beim Spielen störte. Nach einiger Zeit hörten die Jungen zu spielen auf und begannen zu tuscheln, wobei sie immer wieder zu Srulik hinüberschauten. Dann versammelten sie sich um ihn herum und betrachteten ihn aufmerksam.
»Er ist schmal und dünn«, sagte der große Junge.
»Er ist geeignet«, sagte ein anderer Junge.
»Wozu bin ich geeignet?«, fragte Srulik.
»Hast du Hunger?«, fragte ihn der große Junge.
»Ja«, sagte Srulik, der für kurze Zeit seinen Hunger vergessen hatte.
»Mojschele, gib ihm was«, sagte der große Junge zu dem Jungen mit dem Jackett.
Jetzt sah Srulik, dass die Jackentaschen prall gefüllt waren. Mojschele schaute schnell nach rechts und links, und als er niemanden sah, zog er aus einer der Taschen eine Wurst und aus einer anderen ein Taschenmesser. Er schnitt eine dicke Scheibe ab und gab sie Srulik. Eine solche Delikatesse hatte er schon lange nicht mehr gegessen.
»Komm mit uns! Und wenn es dunkel wird, helfen wir dir durch ein kleines Fenster in einen Laden, in dem es solche Würste gibt. Das Fenster ist so klein, dass sich keiner von uns durchquetschen kann, aber du könntest es vielleicht schaffen. Kannst du klauen?«
Srulik zuckte mit den Schultern. Er konnte klauen. Für so eine Wurst war er bereit, alles zu tun.
»Gib mir noch ein Stück«, bat er.
»Jankiel, soll ich?«
»Gib ihm«, sagte der große Junge.
Die Jungen setzten das Spiel fort, bis sich die Dämmerung über das Ghetto senkte. Sie versteckten den »Ball« hinter einem Haufen Gerümpel und machten sich auf den Weg. Geschickt rannten sie zwischen den vielen Menschen auf der Straße hindurch. Schließlich erreichten sie einen zugemauerten Eingang und setzten sich hin. Sie warteten auf die Sperrstunde, die bald einsetzen würde. Das merkte man daran, dass sich die Straßen leerten. Mojschele, der Herr der gefüllten Taschen, zog wieder die Wurst und das Messer heraus und schnitt für jeden eine dicke Scheibe ab. Nach dem Essen brachte er Zigaretten und Streichhölzer zum Vorschein, schnitt jede Zigarette in der Mitte durch und verteilte die Hälften mit bedeutungsvoller Gebärde. Die beiden große Jungen bekamen jeder eine ganze Zigarette.
»Rauchst du?«, fragte er Srulik.
»Nein.«
»Du musst, damit du zur Clique gehörst.«
Sein ältester Bruder hatte ihn schon einmal überredet, einen Zug zu nehmen, als er eine Zigarette ergattert hatte. Der Zug hatte bitter geschmeckt und Srulik hatte gehustet und war fast erstickt.
»Nein, ich will nicht.«
»Lass ihn in Ruhe«, sagte Jankiel.
Ein gut angezogener Mann überquerte vor ihnen die Straße, blieb stehen, betrachtete sie und rief: »Strolche!«
»Mein Herr, bitte eine kleine Gabe, wir haben Hunger«, bat einer der Jungen.
»Und für Zigaretten habt ihr Geld?«
Der Mann ging davon.
Inzwischen war die Straße leer geworden und die Kinder machten sich an die Arbeit. Der Laden, in den sie einbrechen wollten, befand sich in einer schmalen Gasse. Da war das kleine Fenster.
»Los, schrei!«, befahl Jankiel.
Die Clique brach in lautes Gezeter aus, als würden sie streiten, und Jankiel zerbrach die Scheibe mit einem Stein. Über ihnen ging ein Fenster auf und eine Frau brüllte: »Strolche, haut ab!«
»Ja, gut, meine Dame«, antwortete Mojschele.
Sie verließen die Straße und kehrten nach ein paar Minuten zurück. Jankiel griff mit der Hand durch die zerbrochene Scheibe und öffnete das Fenster. Dann band er Srulik an einem Seil fest, und er schaffte es wirklich, sich hineinzuquetschen. Jankiel ließ ihn vorsichtig am Seil hinunter.
»Rotkopf, mach das Seil nicht ab, wickle es dir bloß um den Bauch«, flüsterte er von oben. »Was siehst du?«
»Gar nichts«, sagte Srulik.
»Mojschele, warum hast du ihm keine Streichhölzer gegeben?«, schimpfte Jankiel.
»Warum hast du ihm denn nicht selber welche gegeben?«
Eine Schachtel Streichhölzer fiel auf den Boden neben der Wand. Srulik tastete, bis er sie fand. Er zündete ein Streichholz an.
»Siehst du Würste?«
»Nein«, flüsterte Srulik zurück. »Flaschen.«
»Wodka?«
»Woran merkt man das?«
»Es steht drauf.«
»Ich kann nicht lesen.«
»Bring eine Flasche zum Fenster.«
Srulik fand einen Stuhl, stellte ihn unter das Fenster, stieg hinauf und hielt eine Flasche hoch über seinen Kopf.
»Sehr gut. Wie viele solche Flaschen gibt es?«
»Ich sehe noch zwei. Vielleicht sind im Schrank mehr, aber der ist abgeschlossen.«
»Dann such nach Zigaretten«, flüsterte einer der Jungen.
Die Arbeit, die man ihm aufgetragen hatte, war so ähnlich wie die Arbeit, an die er gewöhnt war, wenn seine Mutter draußen stand und er den Korb mit allem füllte, was er im Müll fand. Nur dass es diesmal um Zigaretten ging, um Streichhölzer und ein paar Flaschen Wodka und zwei neue, ganze Würste, die unter der Theke versteckt waren. Srulik stieg auf den Stuhl und reichte alles nach draußen. Die Streichholzschachteln solle er einstecken, sagte Jankiel, und ihm dann das Ende des Seils geben.
»Schnell!«
Der große Junge zog Srulik hoch und zerrte ihn wirklich in letzter Sekunde heraus. Die Schritte der Wachleute waren schon zu hören. Die Clique rannte davon.
Sie kannten die Häuser der Umgebung und wussten, welche Tore nicht bewacht waren. In diesen Häusern stiegen sie die Treppen hinauf und schliefen auf dem Dachboden. Sie zogen die Dachstühle vor, auf denen viel altes Zeug herumlag, Decken und alte zerrissene Matratzen, dort richteten sie sich für die Nacht ein. Wenn der Dachboden abgeschlossen war, begnügten sie sich mit den Treppen.
Sie tasteten sich die Stufen hinauf und betraten einen Dachboden und kurze Zeit später hörte man das Rascheln von Streichhölzern und eine Kerze wurde angezündet.
»Mojschele, ich habe noch ein paar Streichholzschachteln in der Tasche«, sagte Srulik.
»Meine Taschen platzen bald«, antwortete Mojschele. »Heb du sie auf.«
Mojschele zog Brot aus einem Versteck, und sie setzten sich hin, um zu essen. Die Speisekarte war unverändert – Wurst, doch diesmal mit einem großen Stück Brot und Wasser. Nach dem Essen machten sie ihren Schlafplatz zurecht. Srulik zog eine zerrissene Matratze dicht neben Jankiels Lager.
Einer der Jungen schob ihn zur Seite und wollte seine Matratze nehmen. »Rotkopf, das ist meine«, sagte er.
»Hör auf, ihn zu schubsen«, sagte Jankiel drohend. »Jetzt gehört sie ihm.«
Jankiel ging zu einer Truhe, die in einer Ecke stand, und zog etwas heraus, was einmal ein langer Soldatenmantel gewesen war.
»Nimm«, sagte er zu Srulik. »Deck dich damit zu.«
Srulik war sehr dankbar, dass Jankiel ihn unter seinen Schutz nahm.
»Ich mach jetzt die Kerze aus«, verkündete Mojschele.
Proteste waren zu hören. »Einen Moment, noch einen Moment!«
»Mach die Kerze aus«, befahl Jankiel.
Mojschele befeuchtete zwei Finger mit Spucke und drückte die Flamme aus. Es wurde dunkel.
Tiefe Finsternis herrschte in den Straßen und Gassen des Warschauer Ghettos. Die Straßenbeleuchtung funktionierte nicht und die Fenster der Häuser waren seit Beginn des Kriegs zwischen Russland und Deutschland auf Befehl der Behörden verdunkelt. Im Winter, wenn der Himmel bewölkt war und es noch vor der Ausgangssperre dunkel wurde, stießen die Leute auf der Straße oft gegeneinander. Jemand erfand Anstecknadeln, die mit Phosphor überzogen und so groß waren wie ein sehr großer Knopf, und wer es sich erlauben konnte, kaufte sich eine solche Leuchtnadel und steckte sie an das Revers seines Mantels. Diese Anstecknadeln hatten die Form von Tieren – Hunde, Katzen, Schmetterlinge, Vögel – und sogar von Schornsteinfegern. Viele Wochen lang hatte Srulik neidvoll die Menschen betrachtet, die sich diese glänzenden Nadeln ansteckten. Sein Vater hatte ihm keine kaufen können, obwohl er darum gebettelt hatte. Bis er eines Tages eine Schmetterlingsnadel im Müll gefunden hatte. Srulik fand bald heraus, dass die Nadel, wenn sie tagsüber im Hellen lag, abends noch kräftiger leuchtete. Er legte sie dann, wenn sich die Sonne für kurze Zeit über die Dächer erhob und ins Fenster schaute, auf die Fensterbank. Am Abend warf die Nadel die Sonnenstrahlen als grünlichen Schimmer zurück. In der Dunkelheit konnte man bei ihrem Licht sogar seine Fingerspitzen sehen.
Nachdem die Kerze gelöscht war, breitete sich Schweigen auf dem Dachboden aus. Nun waren die Hausbewohner zu hören, ihre leisen Stimmen, das Klappern von Tellern und Töpfen, das Knarren und Zuklappen von Türen, Schritte von Menschen, die über den Hof gingen. Srulik zog seine leuchtende Schmetterlingsnadel hervor, gegen die Dunkelheit, die ihn bedrückte, solange er die Augen noch offen...


Pressler, Mirjam
Mirjam Pressler, geb. 1940 in Darmstadt, besuchte die Hochschule für Bildende Künste in Frankfurt und lebt heute als freie Autorin und Übersetzerin in Landshut.
Sie veröffentlichte zahlreiche Kinder- und Jugendbücher bei Beltz & Gelberg, darunter die Romane "Bitterschokolade", "Novemberkatzen", "Wenn das Glück kommt, muss man ihm einen Stuhl hinstellen" (Deutscher Jugendliteraturpreis) "Malka Mai" (Deutscher Bücherpreis), "Golem stiller Bruder", "Nathan und seine Kinder" und "Ein Buch für Hanna". Mit "Ich sehne mich so. Die Lebensgeschichte der Anna Frank" schrieb sie eine eindrucksvolle Biographie von Anne Frank, deren Tagebuch sie neu übersetzt hat.
Ihre Bücher wurden mit vielen Preisen ausgezeichnet, für ihre "Verdienste an der deutschen Sprache" wurde sie 2001 mit der Carl-Zuckmayer-Medaille geehrt; für ihr Gesamtwerk als Autorin und Übersetzerin mit dem Deutschen Bücherpreis; für ihr Gesamtwerk als Übersetzerin mit dem Sonderpreis des Deutschen Jugendliteraturpreises und der Corine.

Orlev, Uri
Uri Orlev, geb. 1931 in Warschau, lebt seit 1945 in Israel, heute in Jerusalem. Er ist einer der renommiertesten israelischen Kinderbuchautoren und wurde für sein Gesamtwerk mit dem Hans-Christian-Andersen-Preis ausgezeichnet.

Orlev, Uri
Uri Orlev, geb. 1931 in Warschau, lebt seit 1945 in Israel, heute in Jerusalem. Er ist einer der renommiertesten israelischen Kinderbuchautoren und wurde für sein Gesamtwerk mit dem Hans-Christian-Andersen-Preis ausgezeichnet.



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