E-Book, Deutsch, 336 Seiten
Osang Königstorkinder
1. Auflage 2010
ISBN: 978-3-10-401066-3
Verlag: S.Fischer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 336 Seiten
ISBN: 978-3-10-401066-3
Verlag: S.Fischer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Alexander Osang, geboren 1962 in Berlin, studierte Journalistik in Leipzig und arbeitete nach der Wende als Chefreporter der Berliner Zeitung. Für seine Reportagen erhielt er mehrfach den Egon-Erwin-Kisch-Preis und den Theodor-Wolff-Preis. Alexander Osang schreibt heute für den ?Spiegel? aus Tel Aviv, davor lebte er in Berlin und acht Jahre lang in New York. Sein erster Roman ?die nachrichten? wurde verfilmt und mit zahlreichen Preisen, darunter dem Grimme-Preis, ausgezeichnet. Im S. Fischer Verlag und Fischer Taschenbuch Verlag sind darüber hinaus die Romane ?Comeback?, ?Königstorkinder?, ?Lennon ist tot? und ?Die Leben der Elena Silber? erschienen, die Reportagenbände ?Im nächsten Leben? und ?Neunundachtzig? sowie die Glossensammlung ?Berlin - New York?. Literaturpreise: Theodor-Wolff-Preis 1995 Egon-Erwin-Kisch-Preis für die beste deutschsprachige Reportage 1993, 1999 und 2001 Reporter des Jahres 2009 TAGEWERK-Stipendium der »Guntram und Irene Rinke Stiftung« 2010
Autoren/Hrsg.
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Die Sonne scheint auf die hohe Stirn des Arztes, der vor der Einstiegsluke des Raumschiffes steht. Draußen vor dem Charité-Hochhaus stampfen und kreischen Baugeräte. Das ist die schlimmste Kombination in der Stadt, Sonne und Baulärm. Es hört nie auf, es dreht sich immer weiter. Überall Bilder, Risse, Figuren, aber kein System, kein Muster. Kein Zipfel, kein Anfang, wo man in die Geschichte schlüpfen könnte wie in ein Bett. Bett. Meine Lider werden schwer, aber ich muss noch einen Moment wach bleiben.
Dieses eine Projekt noch, dieses eine Projekt. Dann habe ich Ruhe. So geht das natürlich schon seit Jahren, aber diesmal werde ich wirklich nur stillliegen. Nur liegen. Sie wollen hier herausfinden, was mit unseren Körpern passiert, wenn wir ins All fliegen. Zum Mars. Sie nennen es Marsflugexperiment, aber natürlich ist es ein Projekt. Es dauert drei Monate, wie fast alle meine Projekte. Es scheint die Dosis zu sein, auf die sie sich geeinigt haben. Die Infusion, die ich brauche. Und ich brauche sie. Schlaflabor, das klingt wie das Paradies. Es geht nur um den Körper, nicht um den Kopf. Ich bin ihr Mann, auch wenn sie das noch nicht wissen. Ich bin ihr Mann.
Der Arzt, der zwischen mir und dem Marsflug steht, ist bestimmt zehn Jahre jünger als ich. So läuft das jetzt. Menschen, die nicht einmal eingeschult waren, als ich in die zehnte Klasse gegangen bin, stellen die Weichen für mein Leben. Dahin geht die Reise am Ende natürlich immer. Rentner werden von Leuten herumkommandiert, die mit der Trommel um den Weihnachtsbaum liefen, als sie bereits Häuser bauten. Die noch Quark im Schaufenster waren, als sie schon ihre Doktorarbeiten geschrieben haben.
Der Patientenstuhl liegt etwas tiefer als der von meinem Arzt, wahrscheinlich um seine Autorität zu erhöhen. Der Mann hat zwar weitaus weniger Haare auf dem Kopf als ich, aber damit kann man sich nicht ewig trösten.
»Die Leberwerte«, sagt er und reibt mit einem behaarten Finger auf dem Blatt mit den Laborergebnissen herum. Ein Teufelsfinger ist das, wahrscheinlich steht ein Pferdefuß unterm Schreibtisch. Quark im Schaufenster, so wurde das doch damals genannt. Quark im Schaufenster. Die Trommel und der Weihnachtsbaum, ehrlich mal.
Der verdammte Lärm da draußen macht mich noch wahnsinnig. Wenn sich wenigstens eine Wolke vor die Sonne schieben würde.
»Der GGT -Wert hier, der ist höher, als er sein sollte«, sagt der Arzt. Er hat einen Akzent, schwäbisch oder sächsisch, ich kann das nicht genau unterscheiden, aber es ist auch egal. Es ist seine Welt, nicht meine, das ist alles, was im Moment zählt.
» GGT -Wert«, sage ich. An meinem Hemd kleben noch ein paar Ascheflocken. Ich wage nicht, sie wegzureiben.
»Ein sensibler Wert«, sagt der Arzt.
»Sensibel bin ich auch«, sage ich und deute ein Lächeln an.
»Schon klar, schon klar«, sagt der Arzt zerstreut. »Es könnte sein, dass Sie eine Erkältung hatten oder vielleicht ein, zwei Glas Bier zu viel am Abend vorm Blutabnehmen. Oder Wein … Wein. Für eine Gelbsucht sind die Werte eigentlich zu gering. Nehmen Sie Drogen?«
»Was für Drogen?«
»Das weiß ich doch nicht.«
»Sagen wir, es war eine Erkältung«, sage ich. Mir fallen die vielen Fluctine ein, die mir Dr.Brock verschrieben hat, aber damit will ich jetzt nicht anfangen, so kurz vorm Ziel. Noch ein Doktor würde diesen hier nur verunsichern, zu viele Köche verderben den Brei. So sagt man doch. Die Asche auf meinem Hemd irritiert mich, sie lenkt mich von meiner Weltraummission ab, das ist nicht gut.
»Und dann sind Sie ja auch schon 42 … 42«, sagt der Arzt, und dann noch mal: »42«, als wolle er mich quälen. Aber er will nur älter und ernsthafter wirken, als er ist, glaube ich. Er erinnert mich an meinen Chefredakteur Horst, der sich auch immer wiederholte. Erst: Die tschechischen Genossen, die tschechischen Genossen, die tschechischen Genossen sind unsere Freunde. Und später: Wir verlieren Auflage. Auflage. Auflage. Horst war 60, vielleicht 70, was weiß ich. Irgendwann fängt man eben an, jeden zweiten Satz mit einem »nicht wahr« zu beenden, zu große Brillen aufzusetzen, die Hosen überm Bauch zu tragen und sich ständig zu wiederholen.
»Leider«, sage ich und habe ein weiteres »leider« auf den Lippen, und dann noch eins, eine unendliche Leiderkette hängt an meinem Hals und zieht mich nach unten.
»Eigentlich sollten sich ja Kandidaten zwischen 25 und 40 für das Experiment bewerben«, sagt der Arzt.
»Schon klar, aber was passiert mit all den alten, erfahrenen Menschen? Müssen die auf der Erde bleiben, wenn wir losfliegen?«, frage ich.
Der Arzt schaut ernst, wahrscheinlich zählt er mich in diesem Moment schon dazu, zum Heer der älteren, erfahrenen Menschen, das es nicht mehr schafft bis zum Mars. Ich hab das selbst ins Spiel gebracht, sicher, aber so war das nicht gemeint. Ich bin doch noch ein Junge, ich suche doch noch, ich will mich nur ein bisschen ausruhen.
»Ich könnte Ihr Kapitän sein«, sage ich.
»Kapitän«, sagt der Arzt und reibt weiter auf meinen Leberwerten herum, vermutlich hat er diesen Flug nie so konkret vor Augen gehabt. Ich schon.
»Ja, alt genug wär ich.«
»Captain Kirk, was?«, sagt er, und seine Miene hellt sich plötzlich auf. »Sie machen uns unseren Commander Kirk.«
Ich nicke. Er ist doch eher Schwabe als Sachse, glaube ich, so wie er Commander Kirk ausspricht, das klingt eindeutig schwäbisch, und es passt auch besser. Wahrscheinlich wohnt er ganz bei mir in der Nähe, Vorderhaus allerdings und auch weiter oben oder unten, Dachgeschoss oder Beletage, je nachdem, was ihm wichtiger ist, Blick oder Deckenhöhe. Zwei-, dreimal im Jahr kommen seine Eltern, Steppjacken, gutes, festes Schuhwerk, sorglose Haut im Gesicht, und er erklärt ihnen den Prenzlauer Berg, die Möglichkeiten, das Unberührte, die Vielfältigkeit. Die Eltern tragen karierte Mützen und Schals, dezent kariert, Braun- und Rottöne, ihre GGT -Werte sind in Ordnung, ein Glas Rotwein am Abend, höchstens zwei, aber guter.
»Jaja«, sagt der Arzt und wird schnell wieder ernst, weil er hier nicht der Clown ist, sondern der Doktor.
Er trägt eine randlose Brille, deren linkes Glas verschmiert ist. Sie erinnert mich an die Brille von Mareike Kleinschmidt aus meiner zweiten Klasse, ihr linkes Glas war immer mit weißer Folie abgeklebt, vermutlich weil Mareike schielte. Das machen sie sicher heute auch nicht mehr, dieses Abkleben. Schielewipp, der Käse kippt, sagten wir. Schlimm genug. Mareike Kleinschmidt ist weggezogen, als wir in die dritte Klasse kamen. Keine Ahnung, was danach aus ihr wurde, vielleicht ist sie tot. Für mich fängt sicher auch bald die Lesebrillenzeit an.
»Und warum wollen Sie an dem Experiment teilnehmen?«, fragt der Arzt.
Ich schaue in die sonnenbestrahlten Schlieren auf dem linken Brillenglas meines Gegenübers wie in die Milchstraße. Hätte ich Angst dort draußen im All, in der Dunkelheit, der Kälte, der Stille?
»Ja?«, fragt der Arzt.
»Ich möchte dieser Welt entfliehen«, sage ich und weiß natürlich sofort, dass das klingt wie aus einem Schlagertext, aber scheiß drauf. Es stimmt ja. Ich werde in die Unendlichkeit fallen wie in eine weiches Bett. Ich werde lächelnd zusehen, wie sich die Erde unter mir im All auflöst und mit ihr dieses verdammte Berlin, das nie aufhört sich zu drehen. Überall Baustellen, Straße auf, Straße zu, Straße auf, ohne erkennbaren Grund. Wunden, die nie heilen. Ich habe ein Leben lang in die Stadt geschaut wie in ein Hamsterrad und bin dabei immer langsamer geworden. Einfach liegen bleiben, das will ich. All die Helmfrisuren, die eckigen Brillen, die Trainingsjacken, die gerade noch altmodisch waren und in diesem Moment wahrscheinlich schon wieder altmodisch sind, die bescheuerten Ostmopeds, die ich vor zwanzig Jahren nicht mal mit dem Arsch angeguckt hätte, ist doch wahr. Die Bars, die zumachen, bevor ich überhaupt von ihnen gehört habe. Dinge, auf die sich Menschen hinter meinem Rücken einigen, Hertha BSC . All das werde ich hinter mir lassen im All, ich werde so viel Spielraum haben wie nie, unendlich viel Spielraum.
Ich würde die Asche auf meinem Hemd gern loswerden, ohne sie abzuklopfen.
»Der Welt entfliehen … entfliehen«, sagt der Arzt. »Entfliehen. Aber warum?«
»Eine lange Geschichte.«
»Ich habe Zeit«, sagt der Arzt, nimmt seine verschmierte Brille ab, legt sie auf den Zettel mit meinen Blutwerten, reibt sich die Augen und lässt sich in seinen Stuhl zurückfallen, als sei er bereit für eine Geschichte, wie lang auch immer sie ist. Vielleicht fliegt er ja mit. Wenn ich Captain Kirk bin, ist er vielleicht Pille auf unserem Flug durchs All, Pille, der Borddoktor.
Samstagnachmittage in den verdammten 70 ern. Enterprise, Daktari, Tarzan, denke ich, aber es gibt nur einen Fernseher, auf dem mein Vater die bescheuerte Sportschau sehen will, nach dem Spiel ist vor dem Spiel, es geht immer weiter. Immer weiter.
Ich frage mich, wie lang die Geschichte...




