Osang | Winterschwimmer | E-Book | www.sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 240 Seiten

Osang Winterschwimmer

Weihnachtsgeschichten
1. Auflage 2017
ISBN: 978-3-8412-1429-4
Verlag: Aufbau Verlage GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Weihnachtsgeschichten

E-Book, Deutsch, 240 Seiten

ISBN: 978-3-8412-1429-4
Verlag: Aufbau Verlage GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



»Impressionen und Augenblicke, in denen sich ein Leben verdichtet: Wenige wissen sie so gut aufzuspüren wie Alexander Osang.« Frankfurter Neue Presse.

In Alexander Osangs Weihnachtsgeschichten haben die Protagonisten ihre besten Jahre hinter sich, wenn sie überhaupt je beste Jahre hatten. Da ist der Immobilienmakler, der am Weihnachtsabend seine eigene Wohnung vermittelt. Oder die bekannte Fernsehmoderatorin, die sich beim Saunieren ausschließt und, nur mit einer Mülltüte bekleidet, hofft, dass ihr jemand die Tür öffnet. Und da ist ein Geschäftsführer, der verzweifelt versucht, sein Jackett aus dem Altkleidercontainer zu fischen, denn die Kette, das Weihnachtsgeschenk für seine Frau, steckt noch in der Tasche. Mit seinen Geschichten fängt Alexander Osang Fallende und Gefallene ein. Weihnachten zeichnet er nie als pompöses oder grundgutes Fest. Er versteht es als eine Zeit der Inventur, da man überprüft, was eigentlich noch im Regal des Lebens steht. Oft steht, ganz hinten, etwas Bemerkenswertes.

»Alexander Osangs Texte sind federleicht und krallenscharf, sinnlich und süf g.« Tages-Anzeiger Zürich.

»Kino im Kopf, das ist die Kunst, die der Reporter Alexander Osang m eisterhaft beherrscht, als wärs das Einfachste auf der Welt.« Hessischer Rundfunk.



Alexander Osang, geboren 1962 in Berlin, studierte in Leipzig und arbeitete nach der Wende als Chefreporter der Berliner Zeitung. Seit 1999 berichtet er als Reporter für den Spiegel, acht Jahre lang aus New York, und bis 2020 aus Tel Aviv. Für seine Reportagen erhielt er mehrfach den Egon-Erwin-Kisch-Preis und den Theodor-Wolff-Preis. Er lebt heute mit seiner Familie in Berlin.

Sein Roman 'Fast hell' (Aufbau Verlag, 2021), stand mehrere Wochen auf der Spiegel-Bestsellerliste. Sein Erzählungsband »Winterschwimmer« ist als Aufbau Taschenbuch lieferbar. Seit 30 Jahren erscheint sein essayistisches Werk im Ch. Links Verlag.  Zuletzt erschien dort »Das letzte Einhorn. Menschen eines Jahrzehnts«.

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Ein Lächeln kostet nichts


Es hatte damit angefangen, dass sie ihn an jemanden erinnerte, dachte Schneider später, als er obdachlos war. An ihn.

Sie wartete vorm Hauseingang, eine Mappe unterm Arm, sie trat von einem Bein aufs andere, denn es war kalt, und vor ein paar Minuten hatte es begonnen zu schneien, feuchter, schwerer Schnee. Sie hatte ein Telefon in der Hand, auf dem sie etwas kontrollierte, bevor sie ein paar Schritte zurücktrat und an der Fassade hinaufsah. Ihr Atem dampfte im gelben Licht der Laterne.

Schneider sah sie im Moment, in dem er in die Liselotte-Herrmann-Straße einbog. Sie stand ganz allein auf dem Bürgersteig, ihr Telefon in der Hand, die Akte im Arm und wartete auf jemanden. Sie hatte den Mantelkragen hochgeschlagen, trug aber keine Mütze, weil das zu vermummt, zu abgewandt, zu negativ gewirkt hätte, wie Schneider von Marchlewski gelernt hatte, dem Chef von IMmobilien. Das IM stand für Ingo Marchlewski, natürlich eine idiotische Idee, aber so war Marchlewski.

Der nasse Schnee fiel der Frau direkt auf die Haare. Sie wartete, aber sie war nicht ungeduldig. Dafür bin ich doch da. Kommen Sie doch erstmal rein. Das war ihre Haltung. Das war seine Haltung.

Er kam aus der Marienstraße in Mitte, wo er zwei Nachmittagstermine für ein ausgebautes Dachgeschoss gehabt hatte. Er hatte keinen Parkplatz in seiner Straße gefunden, weder diesseits noch jenseits der Bötzow, auch nichts in der Hufeland oder Pasteur, und so hatte er am Friedrichshain zwischen diesen seltsamen Kleinlastern geparkt und war nun auch schon ziemlich durchgeweicht, als er in seine Straße bog und die Frau sah, die dort direkt vor seiner Haustür wartete.

Er dachte einen Moment darüber nach, welche Wohnung im Haus frei geworden war, aber er hatte die Übersicht verloren, pausenlos zogen Leute ein und aus, die meisten waren jünger als er, ihre Gesichter verschwammen. Einen Makler hatte er noch nie gesehen, aber es wunderte ihn nicht, dass sie einen brauchten, bei der Fluktuation.

Zwischen den beiden Interessenten hatte ein Stunde gelegen, die er in dem leeren Dachgeschoss in der Marienstraße verbracht hatte. Er hatte sich auf den Boden neben den Heizkörpern gesetzt – ein Minus, diese Heizkörper, viel zu plump, vor allem wenn man sie mit Fußbodenheizungen verglich – und beobachtete, wie das matte, graue Tageslicht wegsickerte, während in gleichmäßigen Abständen die S-Bahn vorbeidonnerte, ein weiteres Argument gegen die Wohnung. Am Ende, kurz bevor der zweite Interessent erschien, war es stockdunkel in der Wohnung gewesen. Tageslicht war ohnehin kein Argument hier oben, es gab keine großen Fensterflächen, nur Gauben. Das Bauamt war in dieser Gegend besonders konservativ, obwohl sie ein paar hundert Meter weiter diese Regierungsklötze genehmigt hatten, die aussahen, als hätte sie der Kanzler nach drei, vier Schnäpsen auf der Rückseite der Rechnung vom Borchardts entworfen. Es war niederschmetternd, eine Stunde lang in einer schwer verkaufbaren leeren Dachgeschosswohnung zu warten, Rigips bis zum Abwinken, an einem Dezembertag mitten in einer weltweiten Finanzkrise.

Schneider lief vorsichtig über den Bürgersteig, weil der feuchte Schnee unter seinen Ledersohlen wie Schmierseife wirkte und dies einer jener Tage war, an denen man am Ende auch noch hinfiel.

Als er in das Licht der Laterne tauchte, die ihr am nächsten stand, bemerkte ihn die Frau und lächelte ihn an. Er lächelte zurück. Ein Lächeln kostete nichts. Das waren Ingo Marchlewskis Worte, Punkt vier auf der Folie mit den zehn Punkten des erfolgreichen Immobilienmaklers. Viertens: Lächle! Ein Lächeln kostet nichts.

Einmal im Monat sagten sie die zehn Punkte bei einer Morgenkonferenz in Marchlewskis Büro im Nikolaiviertel auf wie die Zehn Gebote. Punkt eins war: Beraten, nicht bedrängen! Punkt zehn: Ein Kunde, der nach fünf Besichtigungen unschlüssig ist, will die Wohnung nicht! Das widersprach sich natürlich alles gegenseitig, aber das würde Marchlewski nie verstehen.

Die Frau sah gut aus, aber man erkannte, dass sie sich zur Freundlichkeit zwang. So wirkte sie nicht freundlich, sondern tapfer, und niemand kaufte etwas von tapferen Immobilienmaklern. Tapfer war wie wacker war wie nett. Keiner wusste das besser als er, Schneider. Das tapfere Schneiderlein.

Der erste Termin heute Nachmittag war ein Paar aus dem Rheinland gewesen, das eigentlich gar nicht nach Berlin ziehen wollte. Er arbeitete im Bundestag, sicher ein Abgeordneter, Hinterbank. Er hatte diesen Abgeordnetenmantel an, Glockenform, kurzer umgeschlagener Kragen, ein Frauenkragen eher. Er tat so, als müsse Schneider ihn kennen, was nicht der Fall war. Der Mann führte seiner Frau die Wohnung vor, um später behaupten zu können, er habe nichts unversucht gelassen. Er war auf der Suche nach Fehlern. Die Decken waren ihm zu niedrig, er mochte das Eichenparkett und die Eckbadewanne nicht, er fand die Wohnung schlecht geschnitten.

»Das nennen Sie Terrasse?«, hatte er auf dem Balkon gefragt. »Und wieso sieht man eigentlich den Fernsehturm nicht?«

Die Frau hing an ihm wie eine Klette, ihr Blick war leer. Sie hasste Berlin, wahrscheinlich hatte er hier eine Geliebte. Er hatte dieses Seehofergesicht, ein Tröstergesicht, ein Beichtvatergesicht, manche Frauen standen auf so was. Sie war Ende 40, schätzte Schneider, und obwohl ihr Pastorenmann sicher zehn Jahre älter war, trug sie diese Verzweiflungsgarderobe, enge, schwarze Steghosen, hohe Stiefel und einen silbrigen taillierten Steppanorak mit Pelzrand an der Kapuze.

»Wohin willst du denn hier deinen Schrank stellen?«, hatte der Mann im »Elternschlafzimmer« gefragt.

»Meinen Schrank?«, hatte sie zurückgefragt.

»Bei all den Dachschrägen«, hatte der Mann gesagt und Schneider vorwurfsvoll angesehen.

Er hatte versucht, die negative Energie seiner Ehe irgendwie auf Schneider umzuleiten.

Schneider kannte das, Paare, die sich auf seine Kosten wieder näherkamen. Das zweite Bad hatte er ihnen gar nicht mehr gezeigt. Am Ende standen sie im Hausflur, eine S-Bahn schnurrte vorbei, und die beiden sahen ihn entgeistert an. In solchen Momenten erinnerten ihn die Richtlinien von Ingo Marchlewski an die zehn Punkte der ökonomischen Strategie der Einheitspartei. Die immer bessere Verknüpfung der Vorzüge des Sozialismus mit den Errungenschaften der wissenschaftlich-technischen Revolution.

Er wusste nicht, was das bedeuten sollte, aber es klang genauso unmöglich wie der Verkauf einer Dachgeschosswohnung mit einer Deckenhöhe von 2,70 Meter für 500 000 Euro an ein Paar, das sich nicht mehr liebte. Vielleicht hatten sie heute Abend wenigstens Sex, Schleimigem-Immobilienmakler-gerade-nochmal-von-der-Schippe-gesprungen-Sex in der Junggesellenbude, wo der CDU-Abgeordnete während der Woche seine Assistentin vögelte, dachte Schneider. Über die Feiertage ging’s dann zurück nach Leverkusen oder Gummersbach, oder wo immer sie herkamen.

Die Frau nickte ihm zu, als er den Haustürschlüssel zückte. Sie war ziemlich durchgefroren und ein bisschen zu jung für eine Immobilienmaklerin.

»Guten Abend«, sagte Schneider. »Kann ich Ihnen helfen?«

»Vielleicht«, sagte sie.

»Wohnen Sie hier?«

»Ja«, sagte er.

»Ich suche eine Wohnung. Eine Freundin von mir, die hier im Bötzowkiez wohnt, hat mir eine Liste gemacht von Wohnungen, die nicht bewohnt aussehen«, sagte die Frau.

Sie hatte einen süddeutschen Akzent und war offensichtlich keine Immobilienmaklerin oder eine sehr unkonventionelle Immobilienmaklerin, eine Art Schwarztaxiimmobilienmaklerin, dachte Schneider. Sie hatte Kiez gesagt. Er hasste das Wort Kiez. Das käme ganz vorn auf seine Zehn-Punkte-Liste: Versuche nie, Lokalkolorit aufzutragen, das du nicht hast!

Sage nie Prenzlberg!

Neulich hatte Manuela Hirsch in der Monatskonferenz erklärt, dass NOTO immer besser laufe. Er hatte sich nicht getraut zu fragen, was NOTO ist, und erst später erfahren, dass es »Nördlich der Torstraße« bedeutete. NOTO. Er lebt seit 44 Jahren in Berlin, er war in der Greifswalder Straße zur Schule gegangen, niemand hatte dort Prenzlberg gesagt. Auf den Postkarten, die ihm seine Mutter adressierte, damit er sie aus dem Betriebsferienlager nach Hause schicken konnte, hatte noch N O 55 gestanden und nicht N OTO. Manchmal hatte er das Gefühl, sie zogen ihm seine Stadt direkt unterm Arsch weg.

»Und hier sollen Wohnungen leer stehen?«, fragte er.

»Im Hinterhaus?«

»Nein, vorne«, sagte sie. Sie trat wieder ein paar Schritte zurück in den Schneeregen, und er folgte ihr. Sie sahen an der hellblauen, schlichten Fassade seines Hauses hinauf. Es war kurz vor acht, aber nicht mal in der Hälfte der Fenster brannte Licht. Viele der Neuankömmlinge waren sicher über Weihnachten nach Hause gefahren, nach Süden. Er hatte irgendwo gelesen, dass die meisten aus Baden-Württemberg kamen. Ihm war das eigentlich egal, auch wenn er es seltsam fand, wie die Männer seines Viertels, die immer ein bisschen nachlässig gekleidet und verschlafen wirkten und mit ihren laut sprechenden Kleinkindern redeten, als seien es Erwachsene, sich am Sonnabendmorgen beim vietnamesischen Lebensmittelladen die Süddeutsche Zeitung holten. Unter ihm war vor drei Monaten eine Regisseurin eingezogen, hatte ihm der Hausmeister gesagt, ein freundlicher Türke, der in Neukölln wohnte. Er hatte die Regisseurin nie gesehen oder gehört, und auch heute brannte kein Licht in ihren Fenstern. Vielleicht meinte die Frau ihre Wohnung, dachte...



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