Paley | Am selben Tag, später | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 264 Seiten

Paley Am selben Tag, später

Storys
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-7317-6073-3
Verlag: Schöffling
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Storys

E-Book, Deutsch, 264 Seiten

ISBN: 978-3-7317-6073-3
Verlag: Schöffling
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



'Im Mittelpunkt von Grace Paleys Storys steht die Stadt New York mit ihren Vororten. Ihr Figurenensemble aus Freundinnen, Liebhabern und Exmännern macht Schulpolitik und geht gegen Krieg, Rassismus und Umweltzerstörung auf die Straße. Männer und Frauen sind älter geworden, treiben neuerdings Yoga, interessieren sich für gesunde Ernährung und unternehmen Exkursionen 'kreuz und quer durch die Hälfte der meisten beinahe-sozialistischen Länder', nach China und zurück in die verwahrloste South Bronx. Sie müssen sich abgrenzen von den eigenen Eltern, zugleich aber behaupten gegen die nachrückenden zornig-zynischen Kinder.Dabei reden die Freundinnen über die Liebe unter den veränderten Vorzeichen des Älterwerdens und wie man es aushält, wenn ein Mann sich in eine fiktive Figur verliebt. Bei aller Selbstironie gegenüber den liebenswert verrückten Idealisten von einst sind Paleys Geschichten nie harmlos, sondern handeln von zutiefst menschlichen Themen.'

Grace Paley, 1922 als Tochter russisch-jüdischer Einwanderer in New York geboren, war neben ihrer schriftstellerischen Tätigkeit in der Friedens-, Frauen- und Bürgerrechtsbewegung aktiv. Sie veröffentlichte zahlreiche Shortstorys und Gedichtbände und erhielt mehrere bedeutende Auszeichnungen und Preise für ihr Lebenswerk. Grace Paley starb 2007 in Vermont.
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Träumer in einer toten Sprache

Die Alten sind bescheiden, sagte Philip. Der eine will den anderen gar nicht unbedingt überleben.

Klingt geistreich, sagte Faith, aber je länger man drüber nachdenkt, umso weniger steckt dahinter.

Philip ging zu einem anderen Tisch, wo er es auf der Stelle wiederholte. Faith fand ein gewisses Maß an Uneinsichtigkeit an beinahe jedem Liebhaber schön. Also gut, sagte sie, in Ordnung …

Nur, wieso dachten sie überhaupt nach über die Alten und gaben Sprüche über sie zum Besten, wieso taten sie das in der quirligsten Zeit ihres Lebens, in der man vollauf damit beschäftigt ist, aufzustehen und sich wieder hinzulegen?

Weil Faiths Vater, einer der dichtenden Bewohner des Children of Judea, Heim für das Goldene Alter, Zweigstelle Coney Island, wieder mal ein Lied verfasst hatte. Das erstaunte beinahe jeden im Green Coq, jener Spelunke voller Künstler, Unternehmer und arbeitenden Frauen, die sich allesamt selber durch den Kakao zogen. Fast so wie heute entstanden in jenen Jahren erstaunliche Gedichte und rührselige Geschichten schon in der dritten Klasse, streng genommen sogar der ersten, wo die Kinder vieler Trinker und Tratschtanten die eigene Kreativität entdeckten. Aber die Alten! Das ist sehr interessant, sagten einige. Das geht zu weit, sagten andere. Überhaupt nicht, sagten die Unternehmer, passt auf – das ist der neue Trend.

Jack, Faiths ältester Freund, der nie weit weg, aber für gewöhnlich distanziert war, Jack also sagte: Ich weiß, was Philip meint. Er meint, die Alten sind bescheiden. Der eine will den anderen gar nicht unbedingt überleben, nicht lange jedenfalls. Stimmt’s, Phil?

Na ja, sagte Philip, du hast recht, allerdings geht dadurch das Geheimnis flöten.

In Faiths Küche las Philip später an diesem Abend das Gedicht laut vor. Seine Stimme hatte ein Timbre, das sie an Abend, vielleicht Nacht denken ließ. Schon oft hatte sie sich vorgestellt, welche Fülle an Luft in einer Männerbrust doch herrscht und sich dort hin und her bewegt. Streicht sie dann über die kurzen Kehlkopfsaiten, wird aus ihr ein wundervolles sekundäres Geschlechtsmerkmal.

Deine Stimme erinnert mich genauso an Abend, sagte Philip.

Dies ist das Gedicht, das er vorlas:

Ich finde keine Ruhe mehr, seitdem die Liebe

mich verließ,

und keinen Schlaf, seit ich zum Meeresgrund gelangte

und bis ans Ende dieser Frau, die meine ist.

Meine Lungen sind voll Wasser. Ich kann nicht atmen.

Noch immer aber sehn ich mich, im Frühling

durch die Wirklichkeit zu segeln.

Da ist ein junges Mädchen, das wartet immerzu

auf eine Zeit und einen Ort,

um mich zu lieben, um meine Freundin zu sein

und neben mir zu liegen bis zum Morgen.

Wer ist das Mädchen?, fragte Philip.

Wer schon, meine Mutter natürlich.

Du bist süß, Faith.

Natürlich ist das meine Mutter, Phil. Meine Mutter, in Jung.

Ich glaube, das ist ein ganz und gar anderes Mädchen.

Nein, sagte Faith. Es muss meine Mutter sein.

Ach komm, Faith, ist doch egal, wer sie ist. Worüber ein alter Mann Gedichte schreibt, ist doch wirklich egal.

Na dann, tschüss, sagte Faith. Ich kenn dich sowieso schon einen Tag zu lang.

Ist gut. Themenwechsel, bitte lächeln, sagte er. Ich bin wirklich verrückt nach alten Leuten. Immer schon gewesen. Als es mit Anita und mir auseinanderging, waren es diese großartigen sonntäglichen Schachpartien mit ihrem Dad, die ich am meisten vermisste. Sie unterhalten sich nicht mit mir, weißt du. Die Leute nehmen alles persönlich. Ich nicht, sagte er. Hör mal, ich würde gern deinen Daddy und deine Mom kennenlernen. Vielleicht komm ich morgen mit dir mit.

Wir sagen nicht Mom, wir sagen nicht Daddy. Wir sagen Mama und Papa, und wenn keine Zeit ist, sagen wir Pa und Ma.

Mach ich genauso, sagte Philip. Hab ich bloß vergessen. Was hältst du davon, wenn ich morgen mitkomme, hm? Verdammt, wenn ich nur schlafen könnte. Die ganze Nacht lieg ich wach. Ich kann nicht aufhören zu kochen. Mein Kopf. Der reinste Perkolator. Plopp! Plopp! Vielleicht liegt’s an meinem Alter, die Blüte meines Lebens, weißt du. Hab ich nicht irgendwo gehört, dass der Vater deiner Kinder, entschuldige, wenn ich das erwähne, sich deinem Papa als Mittelsmann andient?

Wie wär’s mit einer schönen Tasse Gutenachttee?

Komm schon, Faith, ich hab dich was gefragt.

Ja, stimmt.

Also, ich könnte das besser, als der das zu träumen wagt. Kenne halt – beste Kontakte – mehr Leute. Wen bitte kennt der Penner schon. Vier alte Schabracken aus der Werbung, drei Seventh-Avenue-Models, zwei Tucken aus dem Fernsehen, eine literarische Lesbe …

Philip …

Ich erzähl dir mal was. Mein bester Freund ist Ezra Kalmback. Er hat sich in dem ganzen Bastel-und-Baumarkt-Boom eine goldene Nase verdient – der bringt einem vierjährigen Knirps bei, wie man sich einen antiken griechischen Kunstschatz zusammenzimmert. Der hat ein System und die Ausrüstung dafür. Auf diese Weise stärkt er sein anderes Anliegen, weißt du, sein kulturelles Erbe. Damit werden diese armen alten Träumer in dieser oder jener toten Sprache veröffentlicht. Hey! Das ist doch was! Ein Titel für deinen Papa. »Träumer in einer toten Sprache«. Gib mal einen Stift. Muss ich gleich aufschreiben. Okay. Faith, ich überlass dir diesen Titel, gratis, auch wenn du dich entschließt, mich außen vor zu lassen.

Außen vor was?, fragte sie. Hör auf, hin und her zu rennen. Der Raum ist zu klein. Du weckst noch die Kinder auf. Phil, wieso kriegst du so eine quiekende Stimme, wenn du vom Geschäft redest? Sie geht immer höher. Jetzt bist du schon überm hohen C.

Er hatte über Druckkosten und Prozente nachgedacht. Eine Antwort bekam er eine halbe Oktave tiefer hin, mehr ging nicht. Das ist nur so, weil ich mich beim Englischstudium nur mit reinem Denken befasst habe – doch ach, leider zwangen mich schlechte Organisation, gedankenloses Kinderzeugen und die Plage der Alimente in die Niederungen des Machbaren.

Faith ließ den Kopf sinken. Es wurmte sie, die ersehnte Nacht aufgeben zu müssen, in der sich Schlaf, Sex und Zärtlichkeit friedlich abgewechselt hätten. Was mach ich nur, dachte sie. Wie kannst du so mit mir reden, Philip? Plage … echt scheiße von dir, Phil. Das mir. Anitas alter Freundin. Bist du bescheuert? Sie wollte ihn nicht schlagen. Stattdessen traten ihr Tränen in die Augen.

Was hab ich jetzt wieder gemacht?, fragte er. Ach, ich weiß schon. Ich weiß es genau.

Welchen Dichter fandest du denn besonders großartig, als du ein reiner Denker warst?

Milton, sagte er. Er war selber überrascht. Bis zu dieser Frage hatte er nicht gewusst, dass er dieses ganze lateinische Moralisieren überhaupt vermisste. Weißt du, Faith, Milton stand auf der Seite des Teufels, sagte er. Bei mir ist das anders, glaub ich. Vielleicht, weil ich Geld verdienen muss.

Ich mag zwei Gedichte, sagte Faith, und abgesehen von dem Kram meines Vaters sind es die einzigen, die ich mag. Das stimmte zwar nicht unbedingt, nur war ihr Gesicht noch immer streng und sie beleidigt, während ihr das durch den Kopf ging. Ich mag Heil dir froher Geist du Vogel warst du nie, und ich mag O was nur fehlt dir Rittersmann streifst du allein und schwach umher. Und das ist alles.

Also hör zu, Philip, solltest du je meine Familie kennenlernen, sollte ich dich je mit rausnehmen zu ihnen, dann erwähne Anita Franklin nicht … meine Eltern waren verrückt nach ihr, sie dachten, sie würde ihren Doktor machen und Ärztin werden. Behalt’s für dich, dass du der Kerl bist, der sie abserviert hat. Ehrlich, sagte sie traurig, am liebsten will ich auch selber kein Wort mehr davon hören.

Faiths Vater hatte ungefähr eine halbe Stunde lang am Tor gewartet. Gelangweilt hatte er sich nicht. Mit Chuck Johnson, dem Pförtner, hatte er den Slogan »Black Is Beautiful« diskutiert. Wer ist wohl auf den gekommen, Chuck?

Kann ich Ihnen nicht sagen, Mr. Darwin. Eines Tages stand er einfach an der Hauswand, zack, war er da.

Ist brillant, sagte Mr. Darwin. Wäre der uns eingefallen, hätte er vielen Nasen das Leben gerettet, glauben Sie mir. Sie wissen, wovon ich rede?

Dann fing er an zu lächeln. Faithy! Richard! Anthony! Ihr wolltet kommen, und da seid ihr. Nicht doch, nicht doch, das ist kein Sarkasmus – ist nur eine Tatsache. Ich bin glücklich. Chuck, erinnern Sie sich an meine Jüngste? Faithy, das ist Chuck, der fürs Kommen und Gehen Verantwortliche. Richard! Anthony! – sagt Chuck guten Tag. Faithy, sieh mich an, sagte er.

Ist ja irre!, sagte Richard.

Eine Burg!, sagte Tonto.

Nett von euch, dass ihr euren Opa besucht, sagte Chuck. Ich wette, er war sein Lebtag nett zu euch.

Von Tag wollen wir mal gar nicht reden. Für mich ist Morgen. Stimmt’s, Faith? Ich bin als Erster auf Achse.

Auf Achse wohin?, fragte Faith. Es tat ihr leid, dass vor dem eigentlichen, dem erfreulichen Besuch so vieles zu erledigen war.

Um ehrlich zu sein, hab ich neulich mit Ricardo geredet.

Hab ich mir schon gedacht. Womit hat er dich denn zugemüllt?

Faith, erstens rede vor den Jungen nicht so über ihren Vater. Tu mir den...


Bonné, Mirko
Mirko Bonné, geboren 1965 in Tegernsee, lebt in Hamburg und der Provence. Fu¨r seine Übertragungen aus dem Französischen und Englischen, u. a. von Joseph Conrad, John Keats, Grace Paley und Oscar Wilde, erhielt er zuletzt den Hamburger Literaturpreis fu¨r Übersetzung 2020. Fu¨r sein schriftstellerisches Werk, das neben vielbeachteten und wiederholt fu¨r den Deutschen Buchpreis nominierten Romanen auch Lyrik und Essays umfasst, wurde er u.a. mit dem Prix Relay (2008), dem Marie Luise Kaschnitz-Preis (2010), dem Rainer Malkowski-Preis (2014) und einer Nominierung fu¨r den Alfred-Döblin-Preis (2019) ausgezeichnet. Von der Hansestadt Hamburg erhielt er den Hubert-Fichte-Preis 2024 für sein Gesamtwerk.www.mirko-bonne.de

Paley, Grace
Grace Paley, 1922 als Tochter russisch-jüdischer Einwanderer in New York geboren, war neben ihrer schriftstellerischen Tätigkeit in der Friedens-, Frauen- und Bürgerrechtsbewegung aktiv. Sie veröffentlichte zahlreiche Shortstorys und Gedichtbände und erhielt mehrere bedeutende Auszeichnungen und Preise für ihr Lebenswerk. Grace Paley starb 2007 in Vermont.

Grace Paley, 1922 als Tochter russisch-jüdischer Einwanderer in New York geboren, war neben ihrer schriftstellerischen Tätigkeit in der Friedens-, Frauen- und Bürgerrechtsbewegung aktiv. Sie veröffentlichte zahlreiche Shortstorys und Gedichtbände und erhielt mehrere bedeutende Auszeichnungen und Preise für ihr Lebenswerk, das vollständig in Neuübersetzungen bei Schöffling & Co. erscheint. Grace Paley starb 2007 in Vermont.



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