Pelzer | Niemand | E-Book | www.sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, Band 489, 352 Seiten

Reihe: Frederike Suttner

Pelzer Niemand

Roman
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-95441-618-9
Verlag: KBV
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, Band 489, 352 Seiten

Reihe: Frederike Suttner

ISBN: 978-3-95441-618-9
Verlag: KBV
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Langsam kriechen die Schatten der Vergangenheit heran Als an einem Wintertag ein ausgesetzter Säugling auf den verschneiten Feldern am Nordrand der Eifel gefunden wird, tauft man den Jungen auf den Namen Martin Niemand - sein Schicksal scheint vorherbestimmt. Doch dank seines unbändigen Willens und der fürsorglichen Zuwen-dung einiger Dörfler gelingt es ihm, zu einem erfolgreichen Mann heranzuwachsen und eine Familie zu gründen. Dann fallen die Bomben, und das Glück findet ein jähes Ende. Als Martins Sohn Kaspar Jahre später aus der amerikanischen Kriegsgefangenschaft zurück-kehrt, steht er fassungslos vor den Trümmern seines Elternhauses, und obwohl auch er sich bemüht, sein Leben zum Guten zu wenden, gerät es zu einer Achterbahnfahrt: Er betätigt sich als Schwarzmarkthändler, schuftet in der Brikettfabrik und verfällt als Brauereiarbeiter dem Alkohol. Eine Leiche, die eines Tages vor seinem Wohnhaus gefunden wird, weckt grausame Erinnerun-gen. Es ist nicht der erste geheimnisvolle Tote im Umfeld seiner Familie. Kaspar sieht keinen anderen Ausweg, als im zwielichtigen Milieu der Dürener Nordstadt unterzutauchen ...

Herbert Pelzer, geb. 1956, lebt und schreibt auf dem platten Land vor den Toren Kölns. Zuletzt hat er bis zum Frühjahr 2020 in der Film- und Fernsehausstattung gearbeitet, daneben widmet er sich seit einigen Jahren dem Schreiben. Seit 2008 verfasst er Beiträge zur Regionalgeschichte, 2017 erschien mit Durch die Jahre sein Debütroman. 2021 veröffentlichte er bei KBV Es wird jemand sterben, die erste Kriminalerzählung, die - wie viele seiner Texte - in die Nachkriegszeit seiner Heimat, der Voreifel, führt.
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1. KAPITEL


Feldmann


Wie an jedem Abend lief die alte Moni voran, und alle anderen folgen ihr in immer gleichem Trippelschritt. Strahlend hell wie der Vollmond sei ihr Fell, hatte der Großvater bei ihrer Geburt gesagt, weshalb seine Enkel dem Zicklein sofort den Namen Moni gaben. Mittlerweile hatte sie selbst schon einige Zicklein geboren und gab ihren Besitzern schon seit vielen Jahren zuverlässig an jedem Abend ihre fette Milch. Die kleine Herde näherte sich dem Dorf vom Teufelsmaar her, hierhin trieb sie der Junge immer erst am späten Nachmittag. Die besten Kräuter sollten sie erst ganz zum Schluss bekommen. 23 Ziegen zogen jetzt vor ihm auf das Dorf zu, köttelten auf den staubigen Feldweg, und wie immer achtete der Junge darauf, dass seine Schuhe sauber blieben.

Hinter dem Dorf stand die Sonne schon tief, ihr grelles Licht ließ die schwarz glasierten Dachpfannen auf den Dächern der exakt 87 Wohnhäuser glänzen. In etwa zwei Stunden würde es dunkel sein, das wusste der Junge, und wie an jedem Tag würde er müde und hungrig auf sein Nachtlager sinken. Das Dorf, sein Dorf, lag umgeben von Feldern und Wiesen in der flachen Börde, die so flach war, dass man bei gutem Wetter die Eifel und in der entgegengesetzten Richtung das Siebengebirge ausmachen konnte. Der stramme Westwind nahm über die freie Ebene derart an Kraft zu, dass er in jedem Herbst und Frühjahr schwarz glasierte Dachpfannen durch die Luft wirbeln und an Mauern und auf Wegen zerplatzen ließ. Die meisten Dorfbewohner waren Bauern – mit einer Reihe schmaler Ackerparzellen um das Dorf herum, einer Handvoll dünner Kühe, ein paar Schweinen und Hühnern im Stall und einem brutal harten Tagwerk, das sie früh altern und schon bald sterben ließ. Daneben gab es die Handwerker: den Schreiner, den Schmied, den Metzger, den Bäcker, den Schuster und noch andere mehr. Jedes Gewerk war vertreten, und genau wie die Bauern, so schufteten auch sie von früh bis spät, ohne mehr als nur ein paar Mark auf ihrem Konto bei der Raiffeisenkasse zu besitzen.

Ganz unten in der Hierarchie standen die Tagelöhner. Ohne Besitz, ohne Bildung und ohne jede Chance, ihre Situation zu verbessern. Sie alle ertrugen ihre Armut mit Gelassenheit, in dem festen Glauben an die von Gott gewollte Form ihres Daseins. Dem Kaiser und dem lieben Gott schuldete man Gehorsamkeit, jeder an seinem Platz, ein Leben lang.

Bald hatte Moni die ersten Häuser des Dorfes erreicht. Hier und da bröckelte der Lehmputz zwischen den Fachwerkbalken von den Wänden, vor denen alte Männer mit runzelig gewordener Haut und zahnlosen Mündern auf groben Holzbänken saßen, um die letzten wärmenden Sonnenstrahlen des Tages aufzunehmen. Jede Ziege kannte den Weg in ihren Stall. Nach und nach verließen sie die kleine Herde, um durch die offenstehenden Hoftore zu ihrem Besitzer zurückzukehren.

In der Mitte des Dorfes, wo die Wasserpumpe neben dem alten Kastanienbaum stand, dort scherten die beiden Gescheckten aus. Mit lautem Gemecker eilten sie ihrem Stall zu, und der Junge wollte schon weiterziehen, als er ihnen nachsah und stutzte. In der Hofeinfahrt lag ein Hund auf dem Boden, er winselte laut und schien nicht mehr auf die Beine zu kommen. Vor ihm stand der Bauer, er war aufgebracht, immer wieder stieß er das Tier mit seinen groben Stiefeln an. Neugierig ging der Junge näher heran.

»Los, auf mit dir«, brüllte der Bauer, doch der braune Mischlingsrüde hob nur seinen Kopf und winselte kläglich.

»Was ist mit ihm?«, wollte der Junge wissen.

Der Bauer sah ihn kurz an, dann wendete er sich wieder dem Hund zu, stieß ihn noch einmal, jetzt schon kräftiger, mit der Stiefelspitze an und sagte: »Er ist mir vor die Karre gelaufen, ein Rad hat ihn überrollt. Sieht so aus, als hätt’ er sich was gebrochen.«

Als der Hund seinen Kopf wieder auf den schmutzigen Boden abgelegt hatte, scharrte er – anscheinend vom Schmerz gequält – mit den Vorderläufen. Sein Hinterteil lag völlig reglos da, ein Bein war unnatürlich verdreht.

»Los! Mach, das du wegkommst«, herrschte der Bauer den Jungen an, dann ging er hinüber zum Stall und langte nach der schweren Schaufel, die dort an die Wand gelehnt stand.

Der Junge begriff sofort. »Das dürfen Sie nicht, er wird bestimmt wieder gesund«, ging er den Bauern an, doch der stellt sich in Position, bereit zum Zuschlagen. »Ich nehm ihn mit, ich kümmer mich um ihn«, bettelte der Junge. Mit einem Satz war er vor das Tier gesprungen, hielt die Arme ausgebreitet und sah den Bauern flehend an.

Der zögerte, dann ließ er ab von seinem Vorhaben. Langsam wich die Härte aus seinem Gesicht, ein feines Grinsen zeigte sich sogar darin, als er sagte: »Meinetwegen kannst du ihn mitnehmen, auf einen Hungerleider mehr oder weniger kommt es bei Kroppens jetzt auch nicht mehr an.« Damit ließ er den Jungen stehen. Sein rauer Husten drang neben dem warmen Muhen der Kühe aus dem Stall, als der Junge den Hund vorsichtig aufnahm und davontrug.

Die alte Scheune stand schon so lange dort, wie er denken konnte. Gleich hinter ihrem Haus, am Ende der Gasse, war das windschiefe Gebäude zum Schandfleck für das Dorf geworden. Das Dach hing durch, an mehreren Stellen fehlte die Eindeckung, und der verbretterte Westgiebel war so löchrig, dass Regen und Schnee ungehindert eindringen konnten. Behutsam legte Martin Niemand den verletzten Hund auf einem alten Lumpen ab, den er über einem Haufen faulen Strohs ausgebreitet hatte. Regungslos blieb das Tier dort liegen, sah seinen Retter mit großen Augen an und winselte unentwegt vor sich hin. Da versuchte Martin ihn abzutasten, doch der Hund jaulte laut auf und schnappte nach seinen Händen.

Später behielt Martin eine Handvoll Brei von seinem spärlichen Abendmahl zurück, hockte sich in der Scheune vor das verletzte Tier und hielt ihm den Brei unter die Nase. Der Hund schnupperte daran, zögerte nur kurz und schleckte dann Martins Hand gierig bis auf den letzten Krümel ab. Auch vom Regenwasser, das Martin ihm in der alten Emaille-Schüssel anbot, trank er. Mit niemandem im Haus hatte der Junge über den Hund gesprochen, sie würden es nicht dulden, darum wollte er ihn hier versteckt halten, bis er wieder gesund war.

Behutsam streichelte Martin den Kopf des Hundes; er befürchtete, dass der braune Rüde schwer verletzt war. Vermutlich hatte das eisenbeschlagene Rad der Karre seine Hüfte zertrümmert, vielleicht aber auch nur ein Bein gebrochen. Um ganz sicher zu sein, wollte er ihn am nächsten Morgen ganz früh zum alten Schang bringen. Schang mochte ihn, das wusste Martin. Jedes Mal, wenn sie sich im Dorf begegneten, lächelte der Alte den Jungen an, grüßte freundlich, und manchmal zwinkerte er ihm sogar zu. Hin und wieder saßen sie am Abend gemeinsam auf der Bank am Dorfrand und blickten schweigend hinaus auf die Felder. Dann tat Schang einen kräftigen Schluck aus seiner Schnapsflasche und begann, über die großen und kleinen Geheimnisse der weiten Welt da draußen und über die schreiende Ungerechtigkeit zu reden, die sich wie ein hässliches Geschwür unter der Menschheit ausgebreitet hatte. Martin saß daneben, folgte aufmerksam seinen Worten, während er in das runzelige Gesicht des alten Mannes blickte, und registrierte fasziniert, wie viel Wissen ein Mensch in einem langen Leben anzuhäufen vermochte. Darum vertraute Martin dem alten Knecht, der ständig nach Kuhstall roch und über den manche Leute lachten, weil sie den alten Trunkenbold für dumm hielten. Schang ist schlau, dachte Martin, er wird es schaffen, er wird mir helfen den Hund wieder auf die Beine zu bringen.

Martin Niemand war jetzt zwölf Jahre alt; dass er eigentlich nicht zu den Kroppens gehörte, wusste er schon immer. Warum er trotzdem bei ihnen lebte, das hatte ihm bis zu diesem Tag allerdings noch niemand gesagt. Finstere Vermutungen hatten sich in seinem Kopf eingenistet. Vielleicht waren seine Eltern tot oder krank und konnten sich darum nicht um ihn kümmern. Oder, und diese Vorstellung war die Furchtbarste von allen, sie hatten ihn nicht gewollt. Die Ungewissheit nagte an seiner kleinen Seele, und irgendwann hatte er sich getraut, danach zu fragen. Doch anstelle einer Antwort hatte er Prügel bekommen.

»Du bist jetzt hier, und gut ist!«, hatte Gerald Kroppen Martin angebrüllt, nachdem er mit einem Holzprügel auf ihn eingedroschen hatte. Wenn Martin seinen Ziehvater ansprach, dann sagte er wie von ihm verlangt, so wie alle anderen Kinder auch, Vater zu ihm. Doch in seinem Kopf war dieser Mensch immer nur der Kroppen. Kroppen! Der leibhaftige Teufel, der Martin ebenso erbarmungslos schlug, wie er seine leiblichen Kinder schlug. Der trank, bis er das Bewusstsein verlor. Der seine Frau ins Grab gebracht hatte, weil er auch sie brutal schlug, ohne Rücksicht auf ihre Gebrechlichkeit, die eine Folge ihrer vielen Schwangerschaften war. Vierzehn Kindern hatte sie das Leben geschenkt, davon waren drei schon im Säuglingsalter verstorben. Ihr Letztgeborenes war neun Jahre zuvor...


Herbert Pelzer, geb. 1956, lebt und schreibt auf dem platten Land vor den Toren Kölns. Zuletzt hat er bis zum Frühjahr 2020 in der Film- und Fernsehausstattung gearbeitet, daneben widmet er sich seit einigen Jahren dem Schreiben.
Seit 2008 verfasst er Beiträge zur Regionalgeschichte, 2017 erschien mit Durch die Jahre sein Debütroman. 2021 veröffentlichte er bei KBV Es wird jemand sterben, die erste Kriminalerzählung, die – wie viele seiner Texte – in die Nachkriegszeit seiner Heimat, der Voreifel, führt.



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