Pitt | Die Heimsuchung des Lesers | E-Book | www.sack.de
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E-Book, Deutsch, 284 Seiten

Pitt Die Heimsuchung des Lesers

Literaturgeschichten
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-7526-9533-5
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Literaturgeschichten

E-Book, Deutsch, 284 Seiten

ISBN: 978-3-7526-9533-5
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Heimsuchung vor der Bücherwand: Lesen zwischen Anziehung und Abwehr, Offenheit und Widerstand, Verheißung und Bedrohung. Auf der Endstrecke einer langen Lesepraxis erzählt Pitt Geschichten aus dem Spannungsfeld zwischen Literatur und Leben, im "Ineinander von Fiktion und Wirklichkeit". Hinter dem Transparent der Bücherwand leuchtet die höhere Tatsächlichkeit der Literatur auf und legten ihren Schleier über die Tatsachen des Alltags und der Arbeit. Der Zauber der Wortwelt dringt irritierend in die Sachwelt ein, wenn Autoren von den Bücherborden in unser Leben springen. Letzten Endes haben sie mit der so genannten "schönen Literatur" die Schlüsselgewalt im Leserheim.

Pitt ist ein fiktiver Autor, unter dessen Namen Armin Peter, 1939 in Hannover geboren und in Hamburg lebend, seit bald vierzig Jahren Bücher veröffentlicht, zuletzt "Wir ungläubigen Christen - Eine Bittschrift an die Leitenden der Christenheit und die Gemeinden", 2019. Eine Übersicht über Pitts Bücher bietet die Agentur am Aspersort auf ihrer Website.

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Die Steine aus dem Goethehaus
Am Himmelfahrtstag öffnete sich ein Himmel: ein Schaukelstuhl in ledernem Patchwork auf anmutig schwebendem Gestell, ein Bett, ein Stuhl vor einem runden Tisch, ein Holzspind, geschmückt mit zwei untereinander stehenden Spindeln, ein Waschbecken vor blanken Fliesen unterm Spiegel, ein Südfenster im Kirschbaumschatten, ein Regal darunter, exakt vermessen an der Zahl der Bücher, die im Koffer Platz gehabt hatten. An der Schrägwand würden Goethe, Nietzsche, Benn aus ihren Bilderrahmen herabschauen auf den Leser, wenn er in seinem Himmel (das meinte der: „und alle Lust will Ewigkeit“) erst angekommen wäre. In drei Tagen. Den Himmel hatte der Zufall geöffnet. Wie? Hat nicht der Physiker des Jahrhunderts erklärt, Gott würfele nicht, und der berühmte Biologe, aus Steinwürfen lasse sich kein Pantheon erbauen? Und nun dieser Himmel: ein Zufallsgewölbe? Pitt, Erstsemester, hatte in der studentischen Zimmervermittlung das Los Nr. 111 gezogen, auf den ersten Blick eine schiere Niete, denn die preiswerte Mansarde lag, wie der Hamburg-Plan im Astabüro verriet, in einem abschreckend fernen Vorort. Und wirklich: Nicht enden wollte die Fahrt mit der U-Bahn, auch die Straße vom Bahnhof zum Häuschen in der Siedlung streckte sich. Das Zimmer könne erst in drei Tagen bezogen werden, sagte der Hauswirt, dessen Frau verreist war. Keine Herberge in der fremden Stadt, 1959, die Wohnungsnot nach dem Kriege war noch nicht am Ende. Die Jugendherberge auf dem Stintfang war überbelegt, und die kleinste Pension war zu groß fürs Portemonnaie. Die Mansarde war das große Los. Der Hausherr, alt, doch noch nicht so alt wie Pitt heute, zierlich gebrechlich, war scheu-befangen gegenüber dem Obdachlosen, mit dem er ohne seine Frau nicht resolut verhandeln mochte. Im Wohnzimmer stand wandhoch, im rechten Winkel aufgeschlagen, die bunte Collage aus zweitausend Bücherrücken. Im Winkel der Bücherwände stand oben, schimmernd in einem dunkel metallischen Glanz, der Kopf des Kerubs, der die Bücherflügel zu regieren schien, das Büstenhaupt Goethes. Der alte Mann, der den staunenden Eindringling jetzt mit einem versonnenen Lächeln betrachtete, sagte: „Da könnten Sie sich bedienen, junger Mann. Ich lese nicht mehr viel.“ Ja, das große Los: eine Lesezelle über einer großen Bibliothek. Pitt hatte sich an der Hamburger Universität für die Volkswirtschaftslehre eingeschrieben, und der alte Mann lachte freudig, als er das hörte: das sei auch sein Fach gewesen, in der Kaiserzeit, in Berlin, nur habe man das damals Staatswissenschaften genannt, „phänomenal, ein Kommilitone.“ Der Gast war an das Regal getreten, und als er die huschenden Blicke hier und da an die Rücken vertrauter Bücher heftete, ertönte hinter einem Vorhang neben dem Regal ein Blechscheppern. „Einen Moment, junger Mann, ich muss in den Laden“, sagte der alte Mann, auf dessen Gelehrtengesicht ein Zug schmerzlicher Resignation erschienen war, „ja, ich muss wohl.“ Schon war er hinter dem Vorhang verschwunden. Die Wanderung durch das Bücherpanorama war durch das Bimmeln nicht gestört worden. Dostojewski, Goethe, Heidegger, Hölderlin, Ludwig Klages, Oswald Spengler, „sogar der verrückte Weininger“, Hamsun. „Das war nur ein Bote. Wissen Sie, meine Frau betreibt diesen kleinen Laden, Süßwaren, Kaffee und so“ – auch Tee und Zigaretten im Sortiment? Ja. Das große Los, der Himmel, die Stimulantien, das Paradies für Logophagen. Fern lagen die Volkswirtschaft und der graugrüne Kuppelbau der Universität mit seinem erhaben plakatierten Versprechen: „Der Forschung, der Lehre, der Bildung.“ Arthur Ohlsen war kein lebenspraktischer Mann und hatte sich keine Gedanken über die akute Wohnungsnot seines neuen Hausgenossen gemacht. Der tippelte mit einem Alb zum U-Bahnhof zurück. Doch es fand sich, am späten Abend, eine Bleibe für ihn in der Baracke der Bahnhofsmission neben den Gleisen. Auf seinem Pritschenlager unter dem quietschenden Lattenrost des Bettes über ihm, auf dem sich ein Heimatloser wälzte, träumte er sich in die Mansarde: in das erste eigene Zimmer, das er bewohnen würde. Unter seinem Bett lag der Koffer mit seinen von Wäschebündeln gepolsterten Büchern. Viele waren es nicht, doch der Koffer war schwer – „ist da Gold drin?“ hatte die Heimleiterin gefragt. Zuhause war er in der Stadtbibliothek ein Kunde mit beachtlichen Umsätzen gewesen. Zuhause, in einer für eine große Familie viel zu kleinen Wohnung, hatte er seine Bücher in der Küche lesen müssen, im Winter tapfer der kostspieligen Versuchung widerstehend, die erstarrten Hände am Gasherd zu wärmen. Die Staats- und Universitätsbibliothek hatte er gleich nach der Immatrikulation besichtigt, auch eine kleine Fakultätsbibliothek am Nonnenstieg. Überall Vorräte in Hülle und Fülle. Es gibt einen Himmel für Leser. Er hatte ihn gefunden, in einer begeistert „Studio“ genannten Kammer für 60 Mark Miete. Heute, sechzig Jahre später, steht die Büste Goethes, metallisch dunkel glänzend, in Pitts Arbeitszimmer, das er immer noch sein Studio nennt. Arthur Ohlsen hatte sie ihm vermacht. (Im vollgestopften Studio fand sie ihren Platz nur auf der Fensterbank, und die Insassen der Busse, die von der Thomas-Mann-Straße aus vorbeifahren, schauen auf den dunklen Kopf und wundern sich, dass einer zu allen Tageszeiten am Fenster sitzen kann). Sie ist eine Gipskopie des Werks von Christian Daniel Rauch aus dem Jahre 1820, das Goethe „wirklich grandios“ fand. Die Augen über den leicht hängenden Wangen sind leer. Dennoch scheinen kritische Blicke auf die Regale zu fallen, als missbilligte Ohlsens Kerub das Sammelsurium. Die Bücher lassen kein Ordnungsprinzip erkennen, keine Rangnachbarschaften, kein Muster von Wahlverwandtschaften, nicht den Ansatz einer Fächerlogik. Auch die Menge der Bücher kann ein Zeichen von Unordnung sein. Fünfzig Bücher, meinte George, sollten reichen, aber es müssten heilige Bücher sein. Goethe hatte am Frauenplan mehr Bücher, genau 5424 Titel, und er hatte doch die großherzogliche Bibliothek zu seiner Verfügung. Doch das Regal birgt Dinge, die das tote Auge Goethes in höchster Neugier aufflammen lassen könnten. Vielleicht die zweiundzwanzig weinroten Cotta-Bände, die den Primaner nachhaltig ruiniert und ihn gezwungen hatten, in der Baracke der Bahnhofsmission zu nächtigen? Oder die Borde der Goetheana? Oder gar das kleine Buch1, in dem Pitt Goethes Meriten als Manager und seine Führungslehre beschrieben hat? Nein, die Gegenstände auf dem Bord, die in Goethes Augenhöhlen Funken des Wiedererkennens aufglimmen lassen könnten, sind von grober irdener Natur. Es sind zwei Steine aus hart gebranntem Ton, der eine massiv, der andere flacher, von Mörtelresten befreit wie von der Hand ordentlicher Trümmerfrauen, Backsteine, hingestellt als Bücherstützen, die eine feinkrümelige Spur auf das Holz legen. Es sind Mauersteine aus Goethes Vaterhaus am Großen Hirschgraben, das am 22. März 1944 in Schutt und Asche gefallen war, am Todestag Goethes. Vielleicht war einer der Steine aus der Wand der Kammer gebrochen, aus der Werther seinen Lauf um die Welt angetreten hat. Hatte er vielleicht das Echo des ersten Lebensschreis geworfen in dem Zimmer der gefährlichen Geburt, die den Großvater inspirierte, in amtlicher Eigenschaft die Geburtshilfe zu reformieren? Der flache Stein könnte seinen Platz in Frau Ajas Küche gehabt haben: steigt nicht ein feiner Duft empor zur Nase, der Rauch den edlen Schwung gegeben hat? Nach dem deutschen Krieg, dem zweiten, hatte ein Liebhaber der Literatur das zerstörte Haus in fetischistischer Begierde heimgesucht. Er konnte der Versuchung nicht widerstehen: er klaubte die Steine aus Trümmern und Staub. Fast zwanzig Jahre später war der Dr. Rehden, Chefvolkswirt eines Unternehmensverbandes, Pitts erster Chef. Es hatte in seinem Lebensplan gelegen, ein Buch zu schreiben über ein berühmtes Buch des George-Kreises, Friedrich Gundolfs Goethe, denn auch er fühlte sich diesem Kreis verbunden, als ein „Enkel“ Stefan Georges. Er wollte die Steine nicht stehlen, er wollte sie „bergen“. Als Ernst Beutler 1947 zum Wiederaufbau des Goethehauses aufrief, hatte er den Gedanken verworfen, die Steine mit einem Reuebekenntnis an ihren historischen Standort zurückzuschicken: das sei ihm doch peinlich gewesen, und ohnehin habe der Bombenhagel Tausende von Steinen zu Staub und Splitter zermalmt. „Wenn Sie ein Haus bauen, mauern Sie die Steine in eine Wand“, hatte er gesagt, als er sie Pitt schenkte. Der hat sie nur mobil in seine Bücherwand gebaut, denn er ist nicht der Eigentümer der Goethesteine; er wird sie zurücktragen nach Frankfurt, wo er lange gewohnt hat, wenn das Freie Deutsche Hochstift es verlangt. Ob Flickenteppich oder Masterplan des Weltgeistes: in Pitts Bücherwand wird es immer ein Zentrum geben, unverrückbar, bis die Bücher nach dem Tod zum Trödler gehen. Auf zwei ihrer Etagen reihen sich in der Mitte die Bücher Goethes...



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