Pitt | Vier erfinden ihren Vater | E-Book | www.sack.de
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E-Book, Deutsch, 308 Seiten

Pitt Vier erfinden ihren Vater

Roman-Essay
1. Auflage 2018
ISBN: 978-3-7528-0090-6
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman-Essay

E-Book, Deutsch, 308 Seiten

ISBN: 978-3-7528-0090-6
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Vier Brüder, geboren in den Jahren des so genannten Dritten Reichs, wachsen unter dem Bild des aus dem Krieg nicht heimgekehrten Vaters auf. Pitt erzählt, wie die Jungen als Kinder und Männer ihre Vaterlosigkeit erlebt haben, jeder auf seine individuelle Weise. Das Band zwischen den episodischen Erlebnissen ist der Versuch einer Philosophie der Familie. In seinem Kern steht der anschauliche Begriff des Elternleibes. Die Folgen seiner Zerstörung vor dem 17. Lebensjahr, dem Jahr der zweiten Geburt, werden in vielen Facetten beleuchtet. Mit zahlreichen Erfahrungen aus der Psychologie, der Anthropologie, der Belletristik und der Lebenswirklichkeit vieler Menschen reflektiert der Essay, was der Roman in spannenden Geschichten erzählt. Der Roman-Essay könnte auch den Titel tragen: Parzival im XX. Jahrhundert.

Pitt ist ein fiktiver Autor, unter dessen Namen Armin Peter, 1939 in Hannover geboren, in Hamburg lebend, seit den 1980er Jahren Bücher veröffentlicht. Zuletzt erschien von Pitt der Roman "Die Pamir, der Kapitän und der Kadett", 2017. Über weitere Titel informiert die Agentur am Aspersort auf ihrer Website.
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2
Im Blitzlicht


Armin hatte seine älteren Brüder immer um ihre Erinnerungen an die leibhaftige Erscheinung des Vaters beneidet. Lambert, der drei Jahre alt war, als der Vater eingezogen wurde, und knapp fünf, als er starb, brüstete sich, vom Vater einmal verhauen worden zu sein (hatte aber einen Klaps, wie die Mutter meinte, aufgebauscht). Willi präsentierte ein Arsenal von Erinnerungen, deren Glanzstück die Beerdigung des Vaters auf dem Stöckener Ehrenfriedhof im frühen März 1942 war: Soldaten hätten mit ihren Gewehren in die Luft geschossen, und eine Kapelle sei mit klingendem Spiel abgezogen (dass sie das Lied vom lustigen Hannoveraner intoniert hätte, glaubte Armin ihm nicht). Da der Vater das von Gottfried Benn melancholisch beschriebene Unglück hatte, nicht im Sommer zu sterben, , sondern in einem verspäteten bitterkalten Winter, musste sein Grab in den Boden gesprengt und die gefrorenen fragmentarischen Schollen über dem Zinksarg geradezu gestapelt werden, und als die unvollständige Familie das Grab zum ersten Mal besuchte, hatten die Jungen das Grün des Grabschmucks in die Hohlräume gestopft, um das ein strömende Tauwasser daran zu hindern, den Vater in der Tiefe zu überfluten.

Nicht einmal zweieinhalb Jahre alt war Armin, als der Vater starb – und wie oft hatte er ihn schon gesehen? Oder bewusst wahrgenommen: einmal, zweimal? Er fand nicht die leiseste Spur eines Eindrucks in seinem episodischen Gedächtnis, das ja persönliche Erlebnisse und konnotierte Gefühle aufbewahren soll. Die hirnlichen Schaltzentralen Hippocampus und Amygdala, deren Zusammenspiel manchem Menschen ein frühes, ein lückenloses oder fotografisches Erinnerungsvermögen schenkt, hatte Mnemosyne, die Mutter der Musen, für ihn nicht zu bedienen gewusst. Auch die später in der Schule Anstoß erregende Linkshändigkeit, die ja angeblich die rechte Hirnhälfte als den Speicherplatz für autobiografische Informationen weitet, half ihm nicht auf den Weg ins frühe Ich. Waltraut, Armins Frau, ist eine Favoritin Mnemosynes: Nach über fünfzigjähriger Abwesenheit konnte sie in Kiel, in dem die Zweieinhalbjährige an der Hand ihres Kapitänvaters spazieren gegangen war, die Haustür der Wohnung am Probsteier Platz wiedererkennen und mit nachtwandlerischer Sicherheit eine Treppe finden, auf der sie mit dem Vater zu einem tiefer gelegenen Stadtteil hinabgetippelt war.

Die Häufung und wachsende Massivität der Bombenangriffe auf Hannover ließen auch den grünen Vorort Kirchrode nicht ohne eindrucksmächtige Treffer, die in ihrer Bedrohung existentiell einprägsam waren. Armin meint sich erinnern zu können, dass seine Brüder ihm den in der Ferne brennend einstürzenden Turm der Marktkirche zeigten, und auch der metallische Leib der nicht gezündeten Bombe, die sich hart an der Wand des Nachbarhauses in die Erde gebohrt hatte und bei einer Explosion wohl das Doppelhaus wegge rissen hätte, haftet in seiner Erinnerung, wie auch das unter Druckwellen und Granatsplittern geborstene Dach und die mit Pappe vernagelten Fenster, und auch der klagende nächtliche Ruf eines Bekannten der Familie auf der Straße vor dem Haus: „Unser Haus ist kaputt!“ hat noch ein Echo in seinem Ohr.

Zu Armins 75. Geburtstag revanchierte sich Willi für seinen Geburtskalender mit einem Familienfoto: die Mutter, Rainer auf dem Schoß, die drei Brüder, stehend hinter ihnen Christa, die schon zehnjährige Tochter eines Nachbarn, die im Team mit ihrem Vater am Heiligen Abend als Christkind erschien. Armin kannte das Bild. Er hatte es früher flüchtig betrachtet: Er ist nie ein Augenmensch gewesen, immer nur ein Stimmen- und Wortmerker, und er würde die Haufen der Fotos, die sich in einem Leben ansammeln, nicht in den Koffer mit der lebensnotwendigen Habe packen. Jetzt, am 75. Geburtstag, betrachtet er das Foto so aufmerksam, wie Willi sein Geschenk, den Kalender, betrachtet hatte.

Willi hatte das Bild zum Aufhängen rahmen lassen, Armin wollte es jedoch gern aufstellen, und so rahmte er es neu. Er sah die Rückseite des Fotos, und es traf ihn der Blitz. Er hatte ihn schon einmal getroffen.

Ein Blitz – was Wunder – war die stärkste Erinnerung an seine frühe Kindheit. Das Blitzlicht hatte mit seiner Helle den Raum und sein Gesichtsfeld erfüllt, er glaubt, den brennenden Schlag des Lichts noch auf seiner Haut zu spüren. Er konnte sich erinnern, dass der Blitz von einer Stehlampe ausgegangen war, die immer im Herrenzimmer gestanden hatte – und Pitt hat später recherchiert, dass die Fotografen früher ihren Magnesiumblitz durch einen elektrischen Impuls an einer Lampe zündeten. Ein zischender, ein rauchender, ein splitternder Blitz: So liegt er als Erinnerung auf Armins Sinnen. Da die Familie bis 1945, bis in sein 6. Lebensjahr, noch im Erdgeschoss des Mutterhauses lebte, dessen verlassenes Herrenzimmer in eine Stube verwandelt worden war, hatte Armin immer gedacht, Christas Vater oder der Großvater oder Willi mit Hilfe eines Selbstauslösers hätten – Weihnachten, an einem Geburtstag – eine Blitzlichtaufnahme gemacht und das unauslöschliche, fast traumatische Erinnerungsbild in seinem limbischen System deponiert.

Auf der nie gesehenen Rückseite des Bildes im Postkartenformat die kraftvolle, in breiten Pelikanstrichen fließende Hand schrift des Vaters: „Schönste Stunden während unseres so ‚inhaltsreichen‘ längsten Urlaubs Weihnachten 1941. Mit vielen Grüßen u. Küssen von Euerm Vati! 9. II. 42.“ Der Vater war am 18. Februar, neun Tage nach diesem Datum, gestorben. Wenn er das Foto auf den langen Feldpostwegen nach Hause geschickt hat, ist es dort zusammen mit der Todesnachricht eingetroffen.

In der Mitte des Bildes steht Armin, noch nicht zweieinhalb Jahre alt, zu seiner Rechten sitzen Willi und Lambert, lachend, zur Linken die Mutter mit dem Kleinkind Rainer auf dem Schoß, er steht unter den langen Zöpfen Christas, die seinen Nacken zu kitzeln scheinen. In allen Augen die Lichtpunkte des Blitzes. Armin hat den Kopf – er sitzt so unförmig groß auf den schmalen Schultern, unter denen sich Hosenträger kreuzen – in den Nacken gehoben, seine Augen schielen leicht, der Mund ist wie zu einem „Ah“ geöffnet. Das Gesicht verrät Staunen und Überraschung und Schrecken. Es ist auf die Quelle des blitzhaften Lichts gerichtet. Und hinter der blendenden Helle des Lichts, in der Aura des explodierenden Blitzes, ein Schatten, eine erahnte Kontur: der Fotograf. Der Vater. Armin hat doch eine Erinnerung an die Nähe des Vaters. Er hat sie durch sein Leben getragen im Bild eines Blitzes. Da war der Vater, ganz nah bei ihm, im Licht. Der Urheber des Blitzes. Pitt fügt hinzu: sein Zeus, der Blitzeschleuderer.

Als das Mutterhaus in Kirchrode aufgelöst wurde, erbat Armin sich von der Mutter einen gerahmten Spruch, der unverrückbar an der Wand des Treppenflurs gehangen hatte. Armin hat Pitt den Spruch für die schönste seiner , die vom Glückskäfer handelt, geschenkt. Die Skriptolfeder des Vaters hat die Verse in gotischen Minuskeln, doch modernen Großbuchstaben geschrieben, auf ein Blatt, das wie ein Holzfurnier anmutet:

Das junge Paar hatte in den ersten beiden Ehejahren in der Wohnung der Großmutter Peter, unweit der Goseriede, gewohnt. Immer noch lebten von den sechs Schwestern des Vaters drei in der großen Wohnung der verwitweten Mutter. Es hatte Reibereien und familiäres Mobbing gegeben, die Frau des einzigen Bruders, der in der großen Wirtschaftskrise von seinem Gehalt die Familie unterstützen musste, war nicht sehr willkommen gewesen. Anna Peter hatte nur einen Wunsch: die eigene Wohnung. Und als sie sie endlich gewonnen hatte, eine kleine in einem Neubau an der Tiefenriede in der Südstadt, hatte ihr Mann als Einzugsgeschenk sein kleines grafisches Kunstwerk geschaffen. Die Götter, die Laren, hatten sich vor ihrem Willen verneigt. Die Rückseite ist sorgfältig verklebt, und kein Staubkorn ist in Jahrzehnten unter dem Glas sichtbar geworden. Wie oft hat Armin vor dem Bild mit dem Brieföffner gespielt: Sollte er das Klebeband aufschlitzen? Aber es gehört zum Kunstwerk wie der Talgbalg zur Beuys’schen Badewanne. Er vermutet, dass auf der Rückseite des Bildes die Handschrift des Vaters zutage treten wird wie die Schrift auf Dokumenten, die in den Grundstein eines Hauses eingelassen sind. Eines Tages – vielleicht in zehn Jahren – wird er der archäologischen Versuchung nicht widerstehen können: Er erwartet wieder eine Überraschung.

In den Fotoalben und auf den Bildschirmen von Millionen von Familien diese Bilder: Mütter und Kinder, und der Vater, der fotografiert, fehlt. Der Vater ist für einen kreativen Moment aus dem Bild getreten. Das Bild, das Armin an seinem 75. Geburtstag betrachtete, hatte schon diese Eindeutigkeit: Der Vater wird nie wieder in das Bild treten. Er wird immer fehlen. Was...



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