E-Book, Deutsch, 280 Seiten
Pitt Wir ungläubigen Christen
1. Auflage 2019
ISBN: 978-3-7504-6402-5
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Eine Bittschrift
E-Book, Deutsch, 280 Seiten
ISBN: 978-3-7504-6402-5
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Pitt ist ein fiktiver Autor, unter dessen Namen Armin Peter, geboren 1939 in Hannover und in Hamburg lebend, in mehr als drei Jahrzehnten einige Bücher veröffentlicht hat. Seine Arbeiten werden betreut von der Agentur am Aspersort (www.agentur-aspersort.hamburg).
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
1
Der Tropfen, der eine Tonne wiegt
Wäre Pitt der Pastor von St. Gabriel, würde er das Erste bitten, ein „Wort zum Sonntag“ sprechen zu dürfen. Er würde den Millionen der berufenen und ungläubigen Christen zwischen den Welt- und Traumgeschichten des Tages die kleine Begebenheit erzählen, die sich an einem Sommermorgen in einer kleinen Kirche ereignet hatte.
„Stellen Sie sich einen Mann und eine Frau vor, die von Freunden eingeladen worden sind, sie in meinen Gottesdienst zu begleiten. Ich begrüßte die mir wohlbekannten Gemeindemitglieder und freute mich, neue Gesichter in meinem Kirchlein zu sehen, spürte aber schon an einer gewissen Hast und Scheu des Händedrucks, dass es wohl nicht der Glaubenseifer sei, der die Fremden in unseren Gemeindegottesdienst führte.
Nun haben wir in St. Gabriel – aus der Not der kleinen Gemeinde eine schöne Tugend machend – das Einvernehmen, gelegentlich den Gottesdienst nach einer Weile bei einem Frühstücks- und Morgenmahl im lichterfüllten Seitenraum unserer Kirche fortzusetzen. Dort hört die Gemeinde meine Predigt bei Saft und Tee, Käsebrot, Kuchen und Keksen, und das Hantieren mit Flaschen und Kannen und die vollen Münder stören mich nicht, wenn Ohren und Augen offen sind, auch nicht das Plappern der Kinder, denn Gottes Wort braucht nicht immer Andacht und Stille in einer fröhlichen und bunten Welt. Die Tische stehen in einem großen Geviert. Aus der ziemlich leeren Kirche wird ein voll besetzter Tisch, und Predigt und Schmaus beginnen.
Ich bemerkte eine gewisse Ratlosigkeit im Blick und Tuscheln des fremden Paares. Über den Tisch hinweg sprach ich es an und erfuhr, dass es zu einer benachbarten Gemeinde gehöre. Die Regie des Vierecks und des Zufalls hatte es gefügt, dass ich den Fremden gerade gegenübersaß. Wir feierten das Abendmahl, wie Jesus Christus es tat, zu Tische sitzend. Ich sandte zur Linken und zur Rechten die Schalen mit dem Brot, die Kelche mit dem Saft nach beiden Seiten um den Tisch herum, und sie wanderten in der Ordnung des Vierecks zu dem Paar, das ich mit besonderer Aufmerksamkeit im Auge hatte. Gleichzeitig wurden die Schalen und die Kelche dem Mann und der Frau von ihren Tischgenossen zugereicht: ‚Christi Leib, für dich gegeben.‘ Zögernd hielten sie ihre Schale in der Hand. Sie nahmen das Brot nicht. Hilfesuchend blickten sie sich an, dann stellten sie die Schalen, die ja ihren Endpunkt erreicht hatten, neben den Kuchenteller. ‚Christi Blut, für dich vergossen‘ – die Kelche erreichten das Paar, und ich spürte, wie sich Hand und Kelch in einer Spannung berührten.
Meine Gemeinde schaute auf ihre Gäste. Der Mann und die Frau stellten die Kelche neben die Kaffeekanne. Als sie so hinter den Kelchen und den Schalen saßen, war es, als verwalteten sie für einen Moment das allen Christen zukommende Priesteramt. Die Helfer kamen und brachten die Gefäße zurück. Gabriel war durch den Raum geschwebt. Lukas sagt: Er ist ein Bote Gottes. Er kündigte die Geburt des Täufers und Jesu an. Er, der Erzengel des Alten Testaments, der Daniel die Schrift auslegte, zeichnete im jüdischen Talmud Gottes Urteil auf, und er ist einer der sieben Engel der Offenbarung, die Mohammed zur Niederschrift des Korans inspirierten. Und so frage ich denn Sie, meine Zuschauerinnen und Zuhörer, was wohl wollte Gabriel uns in seiner Kirche in der Stunde unseres Morgen- und Abendmahls sagen?“
Als Pastor von St. Gabriel hätte Pitt sein Wort zum Sonntag, mit Gabriels Hilfe, gewiss in eindringlich-klugen Gedanken zu einem guten telegenen Ende gebracht. Er ist aber nicht St. Gabriels theologischer Mitarbeiter. Er ist ein Mann, der sich am Ende eines mittlerweile achtzigjährigen Lebens an eine ihm peinvolle Szene aus der Lebensmitte erinnert.
Wenn die Gemeindemitglieder an den Tisch des Herrn geladen werden, gehen die einen zum Altar, und die anderen bleiben in ihren Bänken sitzen. Die, die nach vorn gehen, legen sichtbar vor allen ein Zeugnis ihres christlichen Glaubens ab, und die, die sitzenbleiben, werden nicht beachtet und bleiben hinter den Milchglasscheiben ihrer Privatheit. Ganz anders die Intimität der Tischgemeinschaft in der unkonventionellen Feier eines Abendmahls. Hat der Pastor von St. Gabriel sich vielleicht ohne Absicht einer Nötigung oder Indiskretion schuldig gemacht? Wurden die Gemeindemitglieder im Weiterreichen von Kelch und Schale in ihrer gläubigen Hingabe an den sakralen Moment, auch wenn er sehr alltäglich daherkam, durch eine Abweisung verschreckt, als das von ihnen gesprochene „für dich“ auf leere, irritierte Blicke traf? Wird nicht jeder Gast einer Gemeinschaft aus ihr für immer und ewig vertrieben oder verlässt er sie nicht panisch, wenn er sich – aus welchen Gründen auch immer – genötigt oder isoliert sieht? Natürlich ist jeder Gemeinschaft das Recht unbestritten, gemäß dem Binde- und Scheidewort der Offenbarung zu sagen: weil du aber lau bist, will ich dich ausspeien aus meinem Mund.
Am Tisch der Gemeinschaft speist man nicht à la carte. Das glaubenslose Paar in der Kirche von St. Gabriel hat sich in formaler Berechtigung in eine Gemeinschaft begeben, deren Sprache es nicht spricht und für die es in Kopf und Herz keinen Dolmetscher hat – vielleicht noch einen Mittler im Lied, das die Melodie einer Gemeinschaft ist. Aber da sind auch zwei Menschen, die sich guten Willens auf die Gemeinschaft eingelassen haben, und da ist eine Gemeinschaft, die guten Willens die ihnen fremden Menschen empfängt. Da ist die Sprache jenseits aller Sprachen: die Gemeinschaft, die selber eine Sprache und ein Gedanke ist. Im Anfang war das Wort, und das ist seit Jahrtausenden das Gesetz einer Gemeinschaft.
Die Gemeinschaft von St. Gabriel sitzt bei einem Gedächtnismahl. Das ist keine private, familiäre Zusammenkunft in der Gemütlichkeit warmer Stuben, man gesellt sich zu ihr nicht spontan in verschwisternder Sympathie. Aber ein öffentlicher Raum ist der Kirchensaal von St. Gabriel nicht. Unter einem Kruzifix verbinden sich das private Glaubensbekenntnis und – um mit Ferdinand Tönnies1 zu sprechen – das Feld gesellschaftlicher Satzung. St. Gabriel ist die Zelle einer Organisation, die gesellschaftlich bedeutend ist. Als gesellschaftlich relevante Gruppe steht ihr im Fernsehen, dem audiovisuellen Substrat der Gesellschaft, eine Wort zum Sonntag zu.
Die Kirche steht in der Konkurrenz. Das Wort zum Sonntag konkurriert mit der Neujahrsansprache des Kanzlers (ja, er war ein Mann damals), mit der Maiansprache des Gewerkschaftsvorsitzenden, mit den Statements der Parteien, dem Stimmenkonzert der Verbandschefs, mit den Sprechern all der illustren Versammlungen, in denen organisierte Gruppen (die sich heute oft in gleichstellend-abgrenzender Selbstüberschätzung „Nicht-Regierungsorganisationen“ nennen) im Amalgam von Leidenschaft, Dogma und Satzung „gesellschaftlich relevant“ werden.
Wenn der Pastor von St. Gabriel das „Wort zum Sonntag“ spräche, hätte er seine Gemeinde, Kanzel und Altar, verlassen, um über die berühmten „magischen Kanäle“ Marshal McLuhans, die über große Entfernung Intimität begründen, zu einer fremden Gemeinde, zur Öffentlichkeit ohne Gesicht und Namen, zu sprechen. Warum bliebe er nicht in seiner Gemeinde? Er wolle sie zu Menschenfischern machen, hat Jesus zu den Fischern Petrus und Andreas gesagt (Matth. 4,19).
Vor den Kameras und Mikrophonen werfen ihre Nachfahren wie die Caprifischer „im weiten Bogen“ ihre Netze auf das Gewimmel unbekannter Wesen – als Meister des Worts, Magier der Mimik, Genies der Gestikulation, Virtuosen jener kalkulierten Spontaneität, die den Puls, den lebhaften wie den trägen, eine Spur höher schlagen lassen sollen. Der geistliche Prediger wird zum säkularen Öffentlichkeitsarbeiter.
Ein Rundfunkrat passt auf, dass alle gesellschaftlich relevanten Gruppen ihre Funkstimme haben und ihren medialen Charme in Verträglichkeit entfalten können. Auch der Pastor von St. Gabriel hat dort seinen Vertreter, wie die Gewerkschaften und die Bauern, die Frauen und die Vertriebenen, die Ökologen und die Ökonomen, die Parteien und die Sportler. Im vielköpfigen Gremium, das über die Spielregeln der Meinungs- und Bekenntniskonkurrenz wacht, haben Jesu Menschenfischer nur eine dünne, in konfessioneller Brechung verdoppelte Stimme, um die Singularität ihrer Botschaft in der Pluralität des säkularen Meinens zu behaupten.
Wenn die Geistlichen, diagonal, in ihrer charismatischen Enthobenheit auf schwebenden Kanzeln (die selten geworden und häufig durch moderne Ambos auf Augenhöhe ersetzt sind) auf ihre Gemeinden schauen, erblicken sie einige Dutzend Gesichter. Steigen sie herab in das Fernsehstudio, um sich dort an ein Millionenpublikum zu wenden, dann gehen sie einen langen Weg von dreitausend Jahren. Auf dem Weg von der Kirche zur Kamera begleitet sie ihr Gott auf seinem langen Weg herab vom Weltenthron zu Menschen, die ihn mit einem Tastendruck oder einem Wischer abschalten können, vom Berg Sinai in die Massenarena.
Gabriel, der Engel der Offenbarung, hat sich elektronisch verfügbar gemacht. Wir lauschen seinem Wort, wenn es spannend ist. Wir fallen ihm ins Wort, wenn wir über...




