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E-Book, Deutsch, 318 Seiten, Format (B × H): 130 mm x 200 mm
Polunin She Works Hard For No Money
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-949598-19-7
Verlag: Palomaa Publishing
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Noch mehr unbezahlte Arbeit für Frauen: eine feministische Kritik sozialer Medien
E-Book, Deutsch, 318 Seiten, Format (B × H): 130 mm x 200 mm
ISBN: 978-3-949598-19-7
Verlag: Palomaa Publishing
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Alexandra Polunin wurde 1983 in Sibirien geboren und ist in einer hessischen Kleinstadt aufgewachsen, wo das Thermometer zum Glück nicht mehr minus 50 Grad zeigte. Sie studierte Germanistik, Philosophie und Medienwissenschaften in Marburg, Oslo und Heidelberg und startete nach dem Studium eine Promotion, die sie nach ein paar Jahren erfolgreich abbrach, um sich als Social-Media-Beraterin selbstständig zu machen. 2020 hatte sie dann genug davon, ständig online und für die ganze Welt verfügbar zu sein, löschte nach und nach alle ihre Social-Media-Kanäle und orientierte sich beruflich neu. Inzwischen arbeitet sie als Kommunikationsberaterin für Selbstständige, die ebenfalls keine Lust mehr auf Social Media haben - und als Autorin. Nach zwei Marketingfachbüchern widmet sie sich nun endlich ihrem Lieblingsthema: der Schnittstelle von Social Media und Feminismus.
Autoren/Hrsg.
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Ästhetische Arbeit
Es muss so abgelaufen sein:
„Hey John, ich hab’ da eine Wahnsinnsidee, wie wir noch mehr Produkte verkaufen können!“
„Lass hören, Harry!“
„Was hältst du davon, wenn wir Frauen glauben machen, dass einige ihrer Körperteile hässlich sind und dass sie unsere Produkte brauchen, um sich wieder schön zu fühlen?“
„Ich mag, wie du denkst, buddy! Aber warum nur einige Körperteile? Denk an all das Geld, das uns so durch die Lappen geht. Wir sagen ihnen einfach, dass ihre Körperteile ohne unsere Produkte hässlich sind.“
„Ja, mate, alle! Vom Ellbogen bis zum Knie. Von den Augenbrauen bis zu den Zehen.“
„Genial!“
„Cheers.“
Ja, so muss es Anfang des 20. Jahrhunderts gewesen sein. Anders kann ich es mir nicht erklären, dass die Hälfte des Drogerieladens will, dass ich anders aussehe, als ich es tue. Dass mein Haar eine andere Farbe hat, definiertere Locken und weniger Frizz. Dass es blumiger riecht, sich weicher anfühlt und mehr glänzt – auf meinem Körper hingegen jedes einzelne Haar zuviel ist. Dass meine Haut jünger aussieht, straffer, rosiger, weniger Falten hat. Dass Rötungen, Pickel, Augenringe „kaschiert“ gehören. Dass meine Wimpern länger, dunkler und geschwungener sind und dass die winzigen Lücken zwischen den Härchen meiner Augenbrauen mit einer Farbe angemalt werden sollen. Dass meine Lippen voller sind, glänzender und eine andere Farbe haben. Dass meine Wangen rosiger sind, meine Nase unauffälliger, die Wangenknochen dafür stärker betont. Dass meine Nägel roter sind, meine Füße weicher, meine Hände zarter. Also tue ich wie befohlen und schminke mich jedes Mal, bevor ich eine story mache. Zumindest ein bisschen. Zumindest die Basics: Primer, Puder, Foundation, Puder, Concealer, Puder, Blush, Augenbrauenstift, Eyeliner, Lidschatten, Mascara, Primer, Lipliner, Lippenstift, Finish. Nichts Großes. Ganz . Ohne diesen Look würde ich besorgte Nachrichten bekommen:
„Du siehst müde aus. Alles in Ordnung bei dir?“
„Na, anstrengende Nacht gehabt?“ Zwinkersmiley.
„Geht’s dir nicht gut? Du siehst fertig aus …“
Ich müsste mich erklären, mich rechtfertigen. Ich müsste wieder und wieder betonen, dass ich nicht krank bin, nicht müde, dass alles in Ordnung ist und ich immer so aussehe, dass so aussehen, wenn man es genau nimmt. Ich würde mich in Rage reden und sagen, dass Frauengesichter, die nicht geschminkt sind, einfach nur werden, während Männer weiterhin Lücken zwischen ihren Augenbrauenhärchen haben können. Aber ich will das nicht. Also schminke ich mich jedes Mal, bevor ich eine Story mache. Und dann bügele ich die letzten Unebenheiten, die Make-up nicht beseitigen konnte, mit einem Filter glatt. Und dann baue ich ein Ringlicht auf, das mein Gesicht optimal ausleuchtet. Und dann – nachdem ich mein Beautyprogramm absolviert und mein ausgeklügeltes Beleuchtungssystem aufgebaut habe – sage ich den Satz, den schon Millionen Frauen vor mir sagten und vermutlich für die nächsten Jahrzehnte immer wieder sagen werden: „Hallo meine Lieben, ich wollte mich bei euch melden …“
#WokeUpLikeThis: Wie soziale Medien ästhetische Arbeit vermehren
Die Wurzeln meiner ästhetischen Arbeit für liegen nicht in sozialen Medien selbst, sondern in patriarchalen, heteronormativen, kapitalistischen Strukturen. Emilia Roig beschreibt das in ihrem Buch so: „Von früh an lernen Mädchen, dass sie schön aussehen müssen, um Jungs und später Männern zu gefallen und in der Gesellschaft als wertvoll angesehen zu werden. Das erotische Kapital zu pflegen, verlangt eine andauernde, unsichtbare Arbeit, die unbezahlt ist und dennoch eine Menge Geld kostet in Form von Kosmetika, Friseurbesuchen, Kleidung usw. Männer begehren Frauen, und Frauen begehren es, von den Männern begehrt zu werden.“70
Soziale Medien haben die ästhetische Arbeit also nicht – das ist courtesy of Patriarchat und Kapitalismus –, aber sie haben sie entscheidend . Denn nun reicht es nicht mehr, sich, wie Emilia Roig es formuliert, „für Männer“, den Job oder eine Verabredung außer Haus zu schminken. Nun wird vorausgesetzt, dass Frauen Make-up auftragen, sobald sie sich auf Social Media zeigen und ein Selfie oder Video hochladen. Selbst wenn sie gerade für sich und daheim sind, selbst abends, am Wochenende oder in ihrem Urlaub. Sobald die Frontkamera angeht, wird gefälligst der Concealer gezückt, Baby!
Dass Medien diese Verstärkereffekte haben, hat Marshall McLuhan bereits 1964 in seinem Buch 71 festgestellt. Darin stellt er die These auf, dass Medien nicht einfach nur neutrale Werkzeuge sind, sondern das Denken, die Wahrnehmung, Interaktionen und Fähigkeiten der Menschen beeinflussen. Und so haben sich auch die Zeitfenster, in denen Frauen ungeschminkt sein können, aufgrund sozialer Medien dramatisch verkleinert. Um nicht zu sagen: Sie sind vor allem für diejenigen, die mehrmals täglich online gehen und ihr Gesicht in die Kamera halten, nahezu nicht existent geworden. Vor einigen Jahren gab es mit dem Hashtag #WokeUpLikeThis sogar den Trend, sich morgens direkt nach dem Aufstehen im Bett zu fotografieren. Nur hieß das in der Realität nicht, dass Frauen sich mit Augenringen oder Pickeln ablichteten, sondern dass sie gleich nach dem Aufstehen ins Bad huschten, um sich ein Make-up aufzulegen, und danach wieder ins Bett gingen, um ein #WokeUpLikeThis-Selfie zu schießen. heißt in diesem Zusammenhang nicht automatisch . heißt, dass Frauen sich so schminken, dass sie nicht geschminkt . Es gibt inzwischen unzählige Anleitungen für diesen Look und bei den meisten wird deutlich: Dahinter stecken ein Haufen Arbeit und ein Haufen Produkte, die einen Haufen Geld kosten.
Ich google nach einer Anleitung für ein und lande auf der Website einer bekannten Kosmetikmarke. Hier soll ich erfahren, wie ich „ganz leicht einen zarten, natürlichen Look kreieren“ kann. Eine Foundation gibt es hier für 58 Euro, einen Full Cover Concealer für 40 Euro, einen Korrektor für 43 Euro, ein Bronze-Puder für 26,50 Euro, ein dezentes Rouge für Lippen und Wangen für 44 Euro, einen Lidschatten für 37 Euro, einen Eyeliner für 39 Euro und schließlich einen Lippenstift für 38 Euro. „Dieser Beauty-Trend wird zwar gerne als No-Make-up-Look bezeichnet“, heißt es bei „deswegen muss man aber nicht komplett auf Foundation und Co. verzichten.“72 Und auf lernen wir: „Wenn ihr gerne ein sehr natürliches Make-up wollt, dann tauscht eure schwarze Mascara gegen braune Mascara aus. Biegt eure Wimpern mit einer Wimpernzange und tragt höchstens zwei Schichten Mascara auf – sonst wird es klumpig.“73 Ah ja. Nun will ich damit weder dir noch mir dieses Make-up verbieten. Denn ich finde es alles andere als zielführend, sich auf ein individuelles Verhalten von einzelnen Frauen zu fokussieren und von Feministinnen zu unterscheiden. Die Frage, ob sich Feministinnen schminken oder rasieren, finde ich mindestens genauso unnötig wie die Frage, ob eine Frau, die sich Botox spritzen lässt, dem Patriarchat in die Hände spielt. Wichtiger als das individuelle Verhalten einzelner ist eine strukturelle Perspektive auf die ästhetische Arbeit von Frauen und die Erkenntnis: Wenn sogar ein Look 325 Euro kostet und 27 Schritte benötigt, zeigt uns das, dass Geschminktsein inzwischen der nicht mehr verhandelbare Normalzustand für Frauen ist. Es ist die Norm, die Frauen selbst dann nicht überwinden können, wenn sie sich direkt nach dem Aufstehen auf Social Media als ungeschminkt inszenieren. Ungeschminkt zu bedarf nach wie vor Zeit, Energie und Geld. Ungeschminkt zu bedeutet hingegen meist eine Wahrnehmung als krank.
Das ungeschminkte Gesicht ist die Abweichung von der Normalität, wie uns in unzähligen -Artikeln immer wieder deutlich gemacht wird.74 Denn wenn es nicht so verdammt ungewöhnlich wäre, dass Pamela Anderson ungeschminkt zu einer Preisverleihung kommt, warum dann überhaupt darüber berichten?75 Das gilt natürlich auch außerhalb sozialer Medien. Doch innerhalb sozialer Medien wird diese Norm durch Empfehlungsalgorithmen verstärkt. Wir liken ein Video mit einem Make-up-Tutorial und...
Aus dem Vorwort von Mareice Kaiser:
"Das Internet ist ein Raum, der von Männern für Männer gemacht wurde. Wie unsere analoge Welt. Deshalb braucht es dringend feministische Kritiken wie dieses Buch, das viele wichtige Fragen stellt. Zum Beispiel: Sollten wir soziale Medien verlassen, wenn wir mehr Gerechtigkeit wollen?"




