Rech Hotel Excelsior
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-95602-068-1
Verlag: CONTE-VERLAG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 230 Seiten
ISBN: 978-3-95602-068-1
Verlag: CONTE-VERLAG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
1934, wenige Monate vor der Abstimmung, die darüber entscheidet, ob das Saargebiet den Status Quo behält oder an Hitlerdeutschland fällt.
Im Hinterhof des Saarbrücker Hotels Excelsior geschieht ein Mord. Heiner Lawall, Oberkellner des mondänen und berühmten Hauses, wird erschlagen. Der Mordfall wird nicht aufgeklärt. In den Wirren der Geschichte gerät er in Vergessenheit.
73 Jahre später, 2007, erhält der Sohn Lawalls einen mysteriösen Brief. Er scheint endlich Licht ins Dunkel der Vergangenheit zu bringen. Kommissar Sebastian Keller, der erst vor wenigen Monaten von Stuttgart nach Saarbrücken gezogen ist, und die Privatdetektive Laura und Udo Cappel versuchen gemeinsam, der Geschichte auf die Spur zu kommen. Doch die Suche nach der Wahrheit fordert neue Opfer …
Autoren/Hrsg.
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18. November 1934, 3.00 Uhr 1 Die Musiker hörten auf zu spielen und packten ihre Instrumente ein. Für einen Moment herrschte vollkommene Stille, und den anwesenden Gästen in den beiden Speisesälen wurde auf einmal bewusst, dass eine Kapelle, bestehend aus sieben jungen Musikern, den ganzen Abend und die halbe Nacht gegen ihr aufreizendes Gelächter und prahlerisches Reden angespielt hatte. Aber so unvermittelt die Stille eingesetzt hatte, so unvermittelt knüpften die lauten Unterhaltungen just an den Punkten wieder an, wo sie aufgehört hatten. »Hier in Saarbrücken, davon konnte ich mich persönlich überzeugen, werden die Geschäfte der Juden nicht boykottiert«, war der erste Satz, der nach der allgemeinen Stille zu vernehmen war. Gesprochen vom Erbsweiler Bürgermeister Schmidt und unterstrichen von einer eleganten Handbewegung (er fuhr mit der Stoffserviette über die Tischplatte), ganz wie er es vor ein paar Monaten bei Willy Fritsch im Gloriapalast gesehen hatte. Seine Begründung »Das ist nämlich verboten …« ging bereits im neu entstandenen allgemeinen Geräuschpegel unter und sein an den Schluss gestelltes und als lakonischer, aber dennoch grandioser Schlusseffekt gedachtes Wörtchen »… noch!« war selbst seinen Tischnachbarn nicht mehr vernehmlich. Die Augen der vier Anwesenden am Tisch des Bürgermeisters wanderten wie zufällig zu den Landesflaggen des Völkerbundes, die hinter der provisorischen Bühne aufgehängt und als zuvorkommende Geste des Hotels gegenüber seinen ausländischen Gästen gedacht waren, und von dort weiter zu zwei schwedischen Offizieren, die am Nachbartisch saßen und mehr an ihrem Whisky und ihrem Gegenüber als an der scheinbar vorbildlichen ethischen Gesinnung des Bürgermeisters interessiert waren. »Wohl wahr, aber ein deutsches Geschäft erkennt man an den Fähnchen, Herr Bürgermeister. Mein Lebensmittelhändler steckt niedliche kleine Hakenkreuzfähnchen in die Erbsenwürste.« »Das sind eben die Menschen von der Saar, meine liebe Frau Kaiser«, entgegnete der Bürgermeister so hochdeutsch wie nie und sah sich mit stolzer Miene nach dem Ober um, der sehr beschäftigt wirkte. »Gaff nohher net so rom wie e Bauer, wenn mir do drin in dem feine Saal sinn«, hatte ihn seine Frau am frühen Abend ermahnt, als sie im Foyer des Hotels standen und nicht wussten, wohin sie ihre Mäntel hängen sollten, und keiner der Laffen ihnen zu Diensten war. So behandelte man doch keinen Bürgermeister! Er hatte in diesem Moment inbrünstig gehofft, dass Louise, die Tochter seines Nachbarn Winterbach, ihn nicht so verlegen und unbeholfen zu sehen bekam. Denn das dumme Mädchen, das hier eine Anstellung gefunden hatte, würde es bestimmt seinem Vater erzählen und dann ging die Geschichte vom dummen Dorfbürgermeister, der sich nicht zu helfen wusste und die schweißnassen Hände an seinem Mantel abtrocknete, im ganzen Dorf herum. Als wäre je ein Erbsweiler so weit gekommen wie er, außer Memmersch Wirtschaft hatten die doch nichts gesehen in ihrem Leben. Wie würden die Erbsweiler Mannsbilder und Weibsleut staunen, wenn sie die mit Stoff bespannten Säulen hier drinnen sehen könnten, oder das Clubzimmer, in dem sogar bis an die Decke Ölgemälde hingen. Nein, nein. Er brauchte sich nicht zu schämen, für gar nichts. Jetzt nutzte er die Gelegenheit, um sich ein wenig in dem festlichen Saal des Hotel Excelsior umzusehen. Das Weiß der Tischtücher erinnerte ihn an gestärkte Bettlaken und an seine Kindheit in Erbsweiler, als der Montag der Waschtag war – jede Woche die kleine Wäsche und einmal im Monat die große. Schon am Vorabend hatte seine Mutter die Wäsche in heißem Seifenwasser eingeweicht. Dann wurde die Weißwäsche gekocht und gestampft, mit Kernseife gerieben und gewalkt, in klarem Wasser gespült und ausgewrungen. Und das Feuer in dem Wasserkessel ging nicht aus, das Wasser brodelte und die Haare hingen ihr ins Gesicht, das rot und aufgedunsen war von der Hitze und der Feuchtigkeit. Und ein anderes Bild schob sich vor das Gesicht seiner Mutter, das Bild einer hochgewachsenen schönen Dame, mit einem großen Hut auf dem Kopf. Sie war die Frau des Saarbrücker Bankiers Siegmund. Sie war mit Freunden in einem Vierspänner unterwegs auf einer Landpartie. Ausgerechnet in Erbsweiler brach die Mittelachse der Kutsche. Es war einmal mehr ein Montag. In seinen Erinnerungen waren die Jahre seiner Kinder- und Jugendzeit angefüllt mit Montagen. Und die hochgewachsene schöne Dame klopfte an die Tür und seine Mutter öffnete. Die Haare hingen ihr ins Gesicht, das rot und aufgedunsen war. Und die Frau des Bankiers Siegmund schaute auf diese kleine Frau herunter, die seine Mutter war, und er hatte sich geschämt, er hatte sich so unglaublich geschämt. Und eines schwor er sich, als er älter wurde: Nie mehr würde ihn jemand dazu bringen, sich zu schämen. Er war jemand geworden, immerhin Bürgermeister von Erbsweiler. Und er würde noch mehr werden, er war in der richtigen Partei. Er war in der Partei, der die Zukunft gehörte. Und bald schon würde es keine Siegmunds mehr im Saargebiet geben. Der Gedanke versetzte ihm einen Stich ins Herz, der sich anfühlte wie Trauer, was er sehr merkwürdig fand. Wie lange war es schon her, dass er nicht mehr an Frau Siegmund gedacht hatte. An diese wunderschöne Frau, die er einmal in seinem Leben gesehen und in die er sich damals unsterblich verliebt hatte. Und jetzt saß er hier im Hotel Excelsior, zum ersten Mal in seinem Leben, und die Sehnsucht nach dieser schönen Frau überwältigte ihn beinahe. Hier mit ihr zu sitzen, ihre Hand zu halten und mit ihr Champagner zu trinken. Ihre Hand zu seinem Mund zu führen und sie zu küssen. Er nahm sein Taschentuch aus der Hosentasche und wischte sich über die Stirn. »Heiß hier drin«, sagte er, bevor ihn jemand fragen konnte, was ihm denn fehle. Mein Gott, dachte er erschrocken, ich bin jetzt fast ein alter Mann und sie war schon eine erwachse Dame, als ich noch ein Kind war. Die Erkenntnis der Vergeblichkeit traf ihn wie ein Schlag und erfüllte sein Herz mit einer Schwermut, die er noch nie gefühlt hatte. Wie lächerlich, wie lächerlich ich bin. Als wären wir ein Liebespaar geworden, wenn wir gleichaltrig gewesen wären. Sei es drum, wenn Hitler die Saar heim ins Deutsche Reich geführt hatte, würde er sich für das alte Ehepaar Siegmund verwenden. Es würde ihnen kein Leid geschehen. Aber dafür müsste er sicher sein, dass sein Wort Gewicht haben würde in der Partei. Er nahm sein Glas, trank es in einem Zug leer und füllte sich sofort wieder nach. Seine Tischnachbarin Frau Kaiser und seine Ehefrau beobachteten dies mit hochgezogenen Augenbrauen. Nur Kaiser lachte, sagte: »Guter Tropfen, was?«, und tat es ihm nach. Schmidt schaute sich nach bekannten Köpfen um. Doch nur wenige, ihm vom Hörensagen bekannte, Mitglieder der Deutschen Front waren an diesem Abend anwesend. Und vom Führerrat waren weder Hermann Röchling noch Jakob Pirro überhaupt gekommen. Dabei war es doch Samstagabend, und es wurde stets darüber gesprochen, dass jeder, der im Saargebiet Rang und Namen hatte, im Hotel Excelsior zum Tanzvergnügen sein würde. Und er war doch extra hergekommen, um einige, für seine Zukunft wichtige, Kontakte zu knüpfen. Stattdessen musste er nun an diesem Tisch bei den Kaisers (außer Kaiser kannte er niemanden hier und auch ihn nur flüchtig von einer Versammlung der Deutschen Front) sitzen bleiben und auch noch mit ansehen, wie die Gräfin von Roedern, die dem Führer Adolf Hitler so nahe stand wie keine andere hier im Saargebiet, mit einem englischen Offizier flirtete und sogar den Saal mit ihm verließ. Mit einem Engländer! Verstehe einer die Frauen. Er winkte dem Ober erneut, der ihn aber wieder einmal ignorierte. Bürgermeister Schmidt spürte, wie ihm das Blut ins Gesicht schoss und er wütend wurde. Bedient lieber die Ausländer, dieser Vaterlandsverräter! Aber warte nur ab, Freundchen, in zwei Monaten, wenn wir hier endgültig das Sagen haben, werde ich dich persönlich abholen und dir Benehmen beibringen. Seine Wangenknochen mahlten und er wusste, dass er morgen wieder Zahnschmerzen haben würde. Verdammter Judenbengel! Verdammter Kommunist! schimpfte er im Geiste und war sich sicher, dass mindestens eine von den beiden Bezeichnungen, wenn nicht sogar beide, auf den anmaßenden Ober zuträfen. »Bei welchem Lebensmittelhändler kaufen Sie denn ein, liebe Frau Kaiser?«, fragte die Frau des Bürgermeisters, die schon lange keinen Namen mehr hatte und in Erbsweiler nur Frau Bürgermeisterin genannt wurde, und die extra für den heutigen Abend hochdeutsch und ein paar Benimmregeln eingeübt hatte. »Beim Kolonialwarenhändler Kammerer. In der Augustiner Straße. Er führt sogar Südfrüchte«, antwortete Frau Kaiser. »Südfrüchte? Tatsächlich? Do sieh hien. Dann ist es ein guter Laden.« Die Bürgermeisterin bekräftigte ihre Worte mit einem wissenden Nicken. Die Cousine von Emsersch Lotte, verheiratete Winterbach, Gott hab sie selig, deren Tochter Louise sich jetzt hier im Excelsior als Zimmermädchen verdingte …, die Bürgermeisterin überlegte, wie hieß die Cousine nur, … ach ja, Emsersch Herta. Die Herta hatte einmal von Südfrüchten gesprochen, als sie letzten Sommer in Erbsweiler zu Besuch war. Und Herta wusste, wovon sie sprach, sie war immerhin bei feinen Leuten in Saarbrücken in Stellung. Die Bürgermeisterin schüttelte sich ein wenig bei dem Gedanken an Hertas Besuch im letzten...