Rigg / Klischat | Zeitlang | E-Book | www.sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 624 Seiten

Rigg / Klischat Zeitlang

Roman | Ein großes Familienepos über Wege und Irrwege mehrerer Generationen
24001. Auflage 2024
ISBN: 978-3-8437-3232-1
Verlag: Ullstein Taschenbuchvlg.
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman | Ein großes Familienepos über Wege und Irrwege mehrerer Generationen

E-Book, Deutsch, 624 Seiten

ISBN: 978-3-8437-3232-1
Verlag: Ullstein Taschenbuchvlg.
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



»Was geschieht, wenn Lücken des Erinnerns, Ängste und Verleugnung die Gegenwart bestimmen?« Der Journalist Benedikt bekommt nach dem Studium keinen Fuß in die Tür und wird schließlich Kommunikationsberater eines populistischen Politikers. Diese neue Aufgabe führt ihn so stark in die Nähe eines reaktionären Lagers, dass er sich von den Frauen in seinem Leben, seiner Partnerin Marianne, seiner Schwester Agnes und seiner Mutter Edith, fragen lassen muss, wo er eigentlich steht. Was treibt ausgerechnet ihn, Sohn liberaler und antiautoritärer Erziehung, dorthin, und was hat das mit der unbewältigten Trauer und Verleugnung der Wirklichkeit zu tun, Familienmustern, die seit Jahrzehnten totgeschwiegen werden?  Die Antwort darauf führt nach Herzach, den Ort im Bayerischen, wo Benedikt die Sommerferien seiner Kindheit verbracht hat, und zu der Fischerei, die seit Generationen in Familienbesitz ist - und wo jetzt alles den Bach hinuntergeht. In welche Fußstapfen wird er treten, wo doch alles wiederkehrt, nur in anderer Gestalt - von Ewigkeit zu Ewigkeit, wie seine Großmutter sagen würde? 

Donata Rigg wurde 1976 in Konstanz geboren. Sie studierte Theaterwissenschaft/Kulturelle Kommunikation, Neuere deutsche Literatur und Philosophie und am Deutschen Literaturinstitut. Sie hat u. a. zwei Romane veröffentlicht und lebt in Berlin.
Rigg / Klischat Zeitlang jetzt bestellen!

Weitere Infos & Material


1


Jemand musste das Go bereits gegeben haben. Benedikt ahnte es, als er, von der Promenade kommend, das Ding dort stehen sah, ein riesiger Bagger neben dem Fischladen. In dem am Boden liegenden Arm und der Schaufel, die wie eine offene, eiserne Faust auf dem Kies lag, türmten sich zerbrochene Ziegel. Er drehte am Knauf des Holzgatters und betrat das Grundstück. Sein Blick fiel auf das Wohnhaus rechter Hand, das unberührt und verschlossen schien. Auf der linken Seite begrüßte den Gast wie eh und je ein Holzpfeil an der Fassade der vorgelagerten Werkstatt, in Form eines Fisches, auf dem »Laden« stand. Die Tür stand sperrangelweit offen. Als er über die Schwelle trat, sah er nur noch die Spuren der ehemaligen Kühltheke auf den Fußbodenkacheln und, an der Wand, einen hellen Fleck, den der ausgestopfte 20-Pfund-Zander, ein großer Fang seines Großvaters von 1993, hinterlassen hatte. Er ging nach hinten in den Verarbeitungsraum. Die gusseiserne Arbeitsfläche war entfernt worden, ebenso die beiden Kühltruhen und die Schupp- und Filetiermesser. Selbst die Magnetschiene, an der die Messer gehangen hatten, war nicht mehr da, zu sehen nur drei schwarze Löcher in der Wand. Aus einem ließ ein Weberknecht die stelzigen Beine hängen. In der Räucherkammer sah er die Schürze des Großvaters am Haken hängen, davor seine Gummistiefel, als sei nichts gewesen, als würde er jeden Moment die Tür öffnen, auf den Ofen zugehen, die Hand auf ihn legen, um die Temperatur zu prüfen, sich vor die Luke hocken, die Handschuhe aus dem Holzkorb greifen, die Luke öffnen und Holz nachlegen.

Unvorstellbar, einfach unvorstellbar. Es war alles vorbei.

Wie überall in der Provinz war auch der Bahnhof von Herzach Anfang der 2000er-Jahre umgestaltet worden, als rund um die großen Städte sogenannte Metropolregionen entstanden. Der Verkaufsschalter war nur mehr von 12 bis 15 Uhr besetzt, außerhalb der Saison ganz geschlossen, dafür gab es nun zwei Ticketautomaten am Bahnsteig. Die Fahrradständer waren großzügig aufgestockt worden, wozu im Dorf die Meinungen stark variierten, zumal auch die Kneipe mit ihren nikotinschweren Vorhängen, das letzte Mal vermutlich in den 1990er-Jahren gewaschen, nach dem Ableben des Wirtes geschlossen geblieben war. Von ihr waren nur noch ein Stehtisch in Form eines Holzfasses, zwei um die Wette gurrende Tauben und ein vollgepisster Eingangsbereich übrig. So eröffnete sich dem Besucher, kam er mit der Bahn im Fremdenverkehrsort Herzach an, ein für den über die Jahre angehäuften Wohlstand des Ortes unverhältnismäßig ungastliches Bild. Erst im letzten Jahr hatte der Gemeinderat die Umnutzung der ehemaligen Wirtschaft als Club abgelehnt, vordergründig, um sich nächtliche Scherereien zu ersparen, in Wahrheit aber, um den Konsum anderer Rauschmittel als Alkohol und Zigaretten im Privaten zu belassen, sei es in einem gewöhnlichen Partykeller oder im eigenen Gewächshaus, in dem Gemüse und anderes zur Selbstversorgung angebaut wurde; in den eigenen vier Wänden also, wo nicht selten konsumiert wurde, was das Zeug hielt.

»Bin gut da, im Kaff. Ich küsse Dich«, tippte er bei seiner Ankunft ins Telefon und trat aus dem Bahnhofsgebäude.

Auf dem Vorplatz standen zwei Taxis und warteten auf die Gäste, denen der Fußweg zur Wallfahrtskirche zu weit war, die aber die Fastenzeit im hochgelegenen Restaurant mit Panoramablick bei einem guten Räucherfisch ausklingen lassen wollten. Er setzte seine Tasche auf der Bank neben dem Zigarettenautomaten ab. Während er seinen Ausweis hineinsteckte und sich eine Schachtel zog, fiel sein Blick auf ein Graffito an der Fassade des Bahnhofsgebäudes, das, mit den krummen Buchstaben der Adoleszenz, neben einer Werbetafel, auf der die Ärzte, Kosmetikerinnen und Fußpflegerinnen des Dorfes ihre Dienste anzeigten, einen Hauch urbaner Sehnsucht erweckte: »I wish I was cold and dead.«

Von einem Fischer- und Bauerndorf, wie es immer noch in einigen Tourismusbroschüren hieß, konnte schon lange keine Rede mehr sein. Auch in Herzach hatten sich über Jahrzehnte nach dem Krieg durch Migrationsbewegungen, ein Wort, von dem man neuerdings immer mehr im Fernsehen hörte, Fremde angesiedelt, eine Tatsache, der die Gemeinde und allen voran die Steinbacherin, eine Grüne, vor Kurzem mit der Benennung einer Dorfstraße nach der Partnergemeinde in Italien Rechnung getragen hatte. Vor allem die Zugereisten aus dem oberen Dorf sahen in dem Städtchen im Trentino ihr erweitertes Wohnzimmer. An den Stammtischen wurde das argwöhnisch kommentiert. Das Wort »Globalisierung« gar behandelte man so wie eine Diagnose beim Arzt: so viel beachten wie nötig, so gut ignorieren wie möglich. Längst hatte man vergessen, wie es gewesen war, als die eigenen Vorfahren selbst als Flüchtlingsgauner beschimpft worden waren.

Man bestellte lieber noch ein Helles, um sie nicht wach werden zu lassen, die Erinnerungen, als man mit wenig oder gar nichts dagestanden war, nach dem Krieg; oder nach einem Hochwasser, das zugleich immer auch das eine Hochwasser vor dem nächsten war, oder nach einer Missernte, die einem nicht zuletzt auch immer die Vorahnung auf eine, irgendwann, folgende in die Glieder kriechen ließ; oder wie man bei einer Krankheit der Frau dagestanden war oder, später, beim Ausbleiben eines männlichen Nachfolgers und beim Wegzug der Jungen in die Stadt oder, noch später, bei der Rationalisierung im Betrieb, für den man arbeitete, war man nicht sein eigener Herr; oder bei der Umstellung auf den für immer fremd bleibenden Computer, den man eher als eine Zumutung empfand denn als eine Arbeitserleichterung. Die neuen Entwicklungen in Richtung Überwachung, von denen man hörte, überraschten hier niemanden, im Gegenteil, man hatte schon immer gewusst, dass die Dinger nicht ganz koscher sein konnten, und überhaupt: Auch die Frauen seien nicht mehr die Frauen, hieß es nun am Stammtisch, und neuerdings greife das auf die Männer über, jeder ließe sich beim kleinsten Zipperlein krankschreiben und nannte es etwas Psychisches, und genau das war es, was den Dorfbewohnern suspekt war, das Fremde nämlich und das Psychische. Früher sei man in die Kirche, um etwas loszuwerden, oder habe sich ordentlich gekeilt, aber heutzutage, eben: das Psychische. Darin war man sich einig und auch darin, dass das wärmste Jackerl immer noch ein gutes Conjackerl war, und bestellte eines, denn der Alkoholkonsum war über all die Jahrzehnte gleich geblieben, um nicht zu sagen, gestiegen.

St. Georg begann mit dem Mittagsläuten. Benedikt, der den 6-Uhr-Zug vom Wiener Westbahnhof nach München und anschließend die S-Bahn genommen hatte, brauchte, nachdem er die Fahrt über an einem faden Artikel für ein Designmagazin geschrieben hatte, einen Kaffee. Er fragte einen der Taxifahrer, ob der Bäcker, wie er es von früher kannte, immer noch über Mittag geschlossen habe. Sofort erkannte er in dem silberhaarigen Mann, der an seinem Wagen lehnte, den Wenz. Vor Jahren, als er selbst noch ein Kind gewesen war und jede Sommerferien bei seiner bayerischen Verwandtschaft verbracht hatte, hatte sich der Wenz die Zeit am Bootsverleih seines Großvaters vertrieben. Wenz schüttelte den Kopf und deutete die Straße hinunter.

Im Grunde hatte alles und vor allem der sogenannte Wandel mit dem Bau der Bahnstrecke Anfang des letzten Jahrhunderts begonnen. Das Fremde nämlich war nicht nur der Fremdsprachige, nein, das Fremde kam vor allem aus der Großstadt, aus München. Anfangs waren es die Urlauber mit ihren Badelatschen und Sonnenhüten gewesen, den Dorfbewohnern zunächst willkommen, weil sie Geld brachten. Später jedoch fingen ebenjene Urlauber an, Grundstücke zu kaufen und zu bauen, fuhren in ihren dicken Wagen vor und versuchten, im Gemeinderat mitzureden.

»Der kommt aus Minga, wo die Leut’ stinga«, hatte Benedikts Großvater immer gesagt, wenn er beim Autofahren ein entsprechendes Kennzeichen sah – eine Anekdote, mit der Benedikt vor allem Marianne erheitern konnte.

Er war froh, unerkannt geblieben zu sein. Dann aber, als er losgehen wollte, hob der Wenz das Kinn in seine Richtung.

»Geh, bist du nicht der Bub von der Bader Edith? Na, sauber.«

Und dann setzte sie ein, die Stimme seiner Mutter, wie er sie vor ein paar Wochen am Telefon vernommen hatte: »Glaubt man es«, hatte sie in den Hörer gerufen, bevor sie zu einem ihrer Arbeitsmonologe angesetzt hatte, wie er diese jetzt aufbrechende, regelrecht manische Seite seiner Mutter nannte, diese jähen, verbalen Bewältigungsversuche, die ihn neuerdings überraschten, sobald er sich durchrang, die Anrufe seiner Mutter anzunehmen.

»… und dann, stell dir vor, hat sie gesagt, das wäre dann mein Bier, es ginge hier um ihre Existenz, ausschließlich um ihre, natürlich rein finanziell habe sie es gemeint, hat sie gesagt, und sie hätte ein Recht darauf. Sie, nur sie. Ein Recht. Das stell dir mal vor. Da ist mir der Kragen geplatzt, und ich habe sie unterbrochen. Worauf hast du ein Recht, habe ich gefragt. Darauf, dass ich mit in deinen Schulden hänge, aber alles, was auf der Habenseite ist oder sein wird, allein dir gehört? Das ist ja interessant, habe ich gesagt, hast du dir das von den Managern abgeschaut? Aber ich sag dir eines, hab ich zu ihr gesagt: Ich bin nicht der deutsche Staat oder die Bank oder sonst irgendeine Instanz, hab ich gesagt. Ich bin deine Schwester, und egal, wie du das siehst, wir müssen das hier gemeinsam über die Bühne bringen, ob es dir nun passt oder nicht. Das ist die Realität, und dieses Mal, jetzt, habe ich gesagt, musst auch du Verantwortung übernehmen. Interessiert dich denn überhaupt nicht, was der Letzte Wille der Mutter gewesen ist? Und dann hat sie gesagt, das muss man sich mal vorstellen, sie hat gesagt, es gäbe ja überhaupt kein...



Ihre Fragen, Wünsche oder Anmerkungen
Vorname*
Nachname*
Ihre E-Mail-Adresse*
Kundennr.
Ihre Nachricht*
Lediglich mit * gekennzeichnete Felder sind Pflichtfelder.
Wenn Sie die im Kontaktformular eingegebenen Daten durch Klick auf den nachfolgenden Button übersenden, erklären Sie sich damit einverstanden, dass wir Ihr Angaben für die Beantwortung Ihrer Anfrage verwenden. Selbstverständlich werden Ihre Daten vertraulich behandelt und nicht an Dritte weitergegeben. Sie können der Verwendung Ihrer Daten jederzeit widersprechen. Das Datenhandling bei Sack Fachmedien erklären wir Ihnen in unserer Datenschutzerklärung.