E-Book, Deutsch, 160 Seiten
Rubel Migration in der Antike
1. Auflage 2024
ISBN: 978-3-534-61007-5
Verlag: wbg Academic in Herder
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Von der Odyssee bis Mohammed
E-Book, Deutsch, 160 Seiten
ISBN: 978-3-534-61007-5
Verlag: wbg Academic in Herder
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Alexander Rubel ist Inhaber einer Forschungsprofessur am Archäologischen Institut der Rumänischen Akademie in Jassy (Rumänien), dem er seit 2011 als Direktor vorsteht. Neben Arbeiten zu Archäologie und Alter Geschichte publiziert er regelmäßig zu breiteren kulturgeschichtlichen Themen. Seine Forschungsschwerpunkte sind das klassische Griechenland, antike Religionsgeschichte, Romanisierung in den Provinzen des Römischen Reiches und die Rezeption der Antike in Mittelalter und Moderne.
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Einleitung
Überblick
In dieser Einleitung werden Grundbegriffe aus der Migrationsforschung vorgestellt, um diese dann auf die antike Migrationsgeschichte anwenden zu können. Dabei ist wichtig zu betonen, dass unsere modernen Vorstellungen von Migration anhand nationalstaatlicher Realitäten des 19. Jahrhunderts gebildet wurden. Deswegen hat man vormodernen Epochen lange Zeit gar kein Migrationspotential zuschreiben wollen. Dieses Buch tritt den Gegenbeweis an.
Odysseus und Migration
Odysseus war ein internationaler Langzeitmigrant. Zumindest erfüllte er die aktuellen Kriterien der Vereinten Nationen für diesen Status geradezu in idealtypischer Weise. Gemäß der UNO-Richtlinien ist ein Migrant zunächst einmal jemand, der seinen gewöhnlichen Aufenthaltsort dauerhaft verlässt. Wenn er darüber hinaus Landesgrenzen überschreitet, wird der einfache Migrant zum internationalen Migranten. Jemand, der sein Heimatland länger als ein Jahr verlässt, wird nach Definition der Vereinten Nationen zum Dauer- oder Langzeitmigranten (long-term-migrant).
Stichwort
UNO-Definitionen von Kernbegriffen zum Themenfeld Migration
Die IOM, die „International Organization of Migration“ der UNO, verweist in mehreren Publikationen auf gängige Definitionen für Migration und Migranten: Ein internationaler Migrant ist nach UNO-Definition: „Jede Person, die sich außerhalb des Staates aufhält, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt, bzw. im Falle von Staatenlosen in dem Staat, in dem sie geboren wurde oder ihren gewöhnlichen Aufenthalt hat.“ Ein Langzeitmigrant ist demnach „eine Person, die für einen Zeitraum von mindestens einem Jahr in ein anderes Land als das ihres gewöhnlichen Wohnsitzes umzieht, so dass das Zielland tatsächlich zu ihrem neuen gewöhnlichen Wohnsitz wird“.
(https://publications.iom.int/system/files/pdf/iml_34_glossary.pdf).
Odysseus erfüllt all diese modernen Kriterien aufs Vorbildlichste. Bereits sein einjähriger Aufenthalt bei der Zauberin Kirke lässt ihn das letztgenannte Kriterium erfüllen, die sieben Jahre bei der Nymphe Kalypso machen ihn sogar zum „very-long-term migrant“, ganz zu schweigen von seinem zehnjährigen Kriegsdienst vor den Mauern Trojas. Die abendländische Kultur- und Literaturgeschichte beginnt also mit einem lupenreinen Migrationsepos.
Quelle
Homer, Odyssee VII. Gesang, 255–264 (Übersetzung: W. Schadewaldt):
Die Götter brachten mich zur Insel Ogygia, wo Kalypso wohnt, die flechtenschöne, die furchtbare Göttin. Sie nahm mich auf und tat mir sorgsam Liebes an und ernährte mich und sagte, dass sie mich unsterblich und alterslos machen wollte alle Tage. Doch konnte sie niemals den Mut in meiner Brust bereden. Dort blieb ich sieben Jahre unablässig, und immer benetzte ich die Kleider mit Tränen, die unsterblichen, die mir Kalypso gegeben hatte. Doch als mir nun das achte umlaufende Jahr kam, da trieb sie mich und befahl mir heimzukehren, auf eine Botschaft des Zeus hin.
Will man Migration in der Antike genauer beschreiben, so eignen sich allerdings die Kriterien der Vereinten Nationen nicht wirklich, da sie vom modernen Nationalstaat als Referenzrahmen ausgehen. Auch hat ein moderner Migrant vor seiner Wanderung gefälligst einen festen gewöhnlichen Aufenthaltsort vorzuweisen. Nomaden wie auch antike Seefahrer passen hier nicht ins Konzept. Für vormoderne Migranten war allerdings in erster Linie das Überschreiten von Kultur- und Sprachgrenzen entscheidendes Kriterium für ihren „internationalen“ Status, da staatliche Grenzen, wenn es sie gab, nicht mit den Grenzen heutiger Nationalstaaten verglichen werden können.
Moderne Konzepte und antike Migration
Viel nützlicher für die Beschreibung antiker Migrationsphänomene ist der Ansatz des amerikanischen Migrationsforschers Patrick Manning (geb. 1941). Migration ist demnach zunächst einmal ganz einfach nur die Bewegung von Individuen oder Gruppen von einem Ort an den anderen. Entscheidender Faktor ist dabei, dass Grenzen (boundaries) im weitesten Sinne, nicht unbedingt Staatsgrenzen, überschritten werden. Manning betont dabei, dass diese Grenzen in erster Linie sprachlich, kulturell und sozial gezogen sind, es kann sich im Einzelfall (bei Beispielen aus der Moderne oder der Gegenwart) auch um Staatsgrenzen handeln.
Nicht Landegrenzen, sondern Kultur- und Sprachgrenzen
Diese Kultur- und Sprachgrenzen überschreitende Bewegung, die verschiedene Adaptionsleistungen von Migranten wie auch von den Aufnahmegesellschaften verlangt, unterscheidet einfache Mobilität von Migration. Mit diesem Konzept einer „cross-community migration“ lassen sich die meisten Fälle historischer, aber auch moderner Wanderungen erfassen und mit dem Kriterium sprachlich-kultureller Grenzüberschreitung auf einen kleinsten gemeinsamen Nenner bringen. In diesem Buch wird nur von dieser soziale, kulturelle und sprachliche Grenzen überschreitenden Migration die Rede sein, zu der bisweilen auch Formen der modernen „Binnenmigration“ zu rechnen sind, die in den Statistiken der UNO übrigens nicht aufgenommen sind. Damit bezeichnet man im Kontext moderner Staatlichkeit Wanderungen, bei denen keine Staatsgrenzen überschritten werden, etwa Arbeitsmigration innerhalb Deutschlands (Schwaben in Berlin), aber auch über tausende von Kilometern hinweg (etwa in Indien oder Russland). Dabei werden allerdings kulturelle und sprachliche Grenzen überwunden, die bisweilen größer sind als etwa bei einer „internationalen“ Wanderung zwischen Belgien und Frankreich. Wer etwa als „Binnenmigrant“ vom indischen Punjab in den Bundesstaat Tamil Nadu (Madras) übersiedelt, findet sich in einer kulturell wie auch kulinarisch völlig anderen Welt wieder. (Ähnliches gilt für den Schwaben in Berlin.) Das Panjabi (ein indoiranischer Sprachzweig des Indogermanischen) gehört allerdings – anders als Schwäbisch und Berlinerisch – nicht einmal entfernt der gleichen Sprachfamilie an wie das in Madras gesprochene Tamil (eine dravidische Sprache).
Moderne Migrationskonzepte und die Antike
Das moderne Konzept ist daher unter den Gegebenheiten der Antike nicht anwendbar, da so etwa sämtliche Wanderungen innerhalb des römischen Reiches, eines viele Völkerschaften umfassenden Rechtsraums, als derartige „Binnenwanderungen“ gelten müssten. Die eingangs erwähnte enge UNO-Definition verweist mit ihrer Beschränkung auf nationalstaatliche Konzepte indirekt bereits auf einen wichtigen Sachverhalt: Migration wird in der allgemeinen Wahrnehmung wie auch in Teilen der sozialwissenschaftlichen Migrationsforschung als ein Problem der Gegenwart (sogar als „das Problem der Gegenwart“ Tagesspiegel 30.7.2019) oder allenfalls der Neuzeit betrachtet. Beide Grundannahmen sind falsch. Weder ist dauerhafter Ortswechsel über große Distanzen oder kulturelle Grenzen hinweg auf jüngere Epochen beschränkt, noch handelt es sich bei Migration grundsätzlich um ein Problem. Denn Wanderungen gehören von Anbeginn zum menschlichen Wesen dazu und kennzeichnen unsere Art, kennzeichnen den homo sapiens, der sich nur durch Migration über den Erdkreis ausbreiten konnte. Unsere eigene jüdischchristliche Mythologie beginnt sogar mit einer Migrationsgeschichte: Der Vertreibung aus dem Paradies (ein Fall von Zwangsmigration). Darüber hinaus sind gerade in vormodernen (und damit schriftlosen) Zeiten die Verbreitung und der Austausch von Wissen und Kulturtechniken (etwa Ackerbau in der Jungsteinzeit) nur durch gewaltige Mobilität und Migration möglich gewesen.
Beschränkungen moderner Migrationsforschung
Bis vor kurzem hat man allerdings vormodernen Epochen überhaupt jedwedes Migrationspotential absprechen wollen. Diese Phasen der Menschheitsgeschichte seien allenfalls, so der einflussreiche Kulturgeograph und Soziologe Wilbur Zelinsky (1921–2013), von Mobilität (etwa in Form von Nomadismus) geprägt gewesen. Erst seit den 1980er Jahren hat die historische Migrationsforschung Fahrt aufgenommen und wichtige Ergebnisse vorlegen können (in Deutschland vor allem durch die einschlägigen Arbeiten von Klaus J. Bade, geb. 1944, und Dirk Hoerder, geb. 1943). Jedoch beschränkt sich die „klassische“ Migrationsgeschichte weitgehend auf die Epochen, für die reichlich empirisch auswertbare Quellen sprudeln, also auf die Segmente der Neuzeit. Deswegen setzen die meisten Migrationsgeschichten selten vor dem 18. Jahrhundert mit ihren Untersuchungen an, oder beziehen allenfalls noch die frühe Neuzeit seit dem 16. Jahrhundert mit ein (Eroberung der „Neuen Welt“). Erst langsam beginnt sich in der Migrationsforschung die Tendenz durchzusetzen, dass Migration über die ganze Menschheitsgeschichte hinweg ein in hohem Maße wiederkehrendes, zeitübergreifendes und weltweites Phänomen war und ist, und sich dies auch anhand des – in der Tat schwieriger zu erfassenden – Quellenmaterials aufzeigen lässt.
Antike und prähistorische Migration
In den letzten beiden Dekaden geriet daher auch die griechisch-römische Antike in den Sog der Migrationsforschung, und einzelne Studien nahmen – vor allem mit...