E-Book, Deutsch, 332 Seiten
Rubel Migration
1. Auflage 2024
ISBN: 978-3-17-045452-1
Verlag: Kohlhammer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Eine Kulturgeschichte der Menschheit
E-Book, Deutsch, 332 Seiten
ISBN: 978-3-17-045452-1
Verlag: Kohlhammer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Seit es Menschen gibt, erschließen sie sich neue Gebiete, begeben sich auf Wanderschaft und wechseln ihre Aufenthaltsorte. Manche freiwillig, um ihre Lebenssituation zu verbessern oder aus Neugier und Abenteuerlust. Andere unfreiwillig, um einer drohenden Gefahr zu entgehen.
Migration und Mobilität sind eine historisch fassbare Konstante der Menschheitsgeschichte und wohl Teil unseres biologischen Programms. Ja, sie charakterisieren uns Menschen geradezu und sind durch alle Zeiten hindurch integraler Bestandteil unseres Menschseins, der conditio humana. Hunderttausende von Jahren, in welchen der homo sapiens und seine aufrechten Vorfahren durch Savannen und Steppen wanderten, haben sich vielleicht mehr in unser Erbgut und unsere kulturellen Muster eingeprägt, als wir das aus "wüstenrotscher Bausparerperspektive" wahrhaben wollen.
Daher verfolgt Alexander Rubel die Migrationsgeschichte der Menschheit bis zu deren Anbeginn und nicht lediglich bis zur Neuzeit zurück, in der die Wanderungsbewegungen weltweit in aller Deutlichkeit sichtbar werden. Migrationsgeschichte wird von ihm vor allem kulturgeschichtlich gedeutet: Durch von Migranten vermittelten Kulturkontakt und -austausch entsteht Neues. Ja man kann sogar sagen, der "Fortschritt" und die Entstehung neuer Kulturtechniken sowie ihre Verbreitung sind Konsequenzen menschlicher Wanderungen.
In knappen Zügen streicht der Autor die Entwicklungslinien der Migration über die Jahrhunderte und Jahrtausende heraus, zeigt Konstanten und Verwerfungen auf und entwickelt so klare Sichtachsen von der Gegenwart bis in die fernste Vergangenheit. Gerade die Darstellung von Wanderungsbewegungen in der Ur- und Frühgeschichte sowie die einem breiten Publikum wahrscheinlich weniger bekannten Belege für Migration aus klassischem Altertum und Mittelalter können für eine Akzentverschiebung bei der Beurteilung von Migration führen, die oft weitgehend oder gar ausschließlich auf neuzeitliche oder gegenwärtige Aspekte gegründet ist. Ein absolutes Muss für jeden, der sich für Migration interessiert.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Warum wandern Menschen und wohin? Grundbegriffe der Migration
Was ist eigentlich »Migration«? Eine einigermaßen um Systematik bemühte Darstellung kommt nicht darum herum, zu Beginn ein paar definitorische Klarstellungen zu versuchen. Das sollte im Falle des alltäglich gebrauchten Begriffs »Migration« eigentlich recht einfach sein. Ein Blick in die einschlägige Literatur zeigt jedoch, dass dem gar nicht so ist, besonders wenn soziologische Arbeiten mit reichlich Fachjargon konsultiert werden. Gerade hinsichtlich einer allgemeingültigen, über Epochengrenzen hinweg anwendbaren Definition dessen, was wir unter Migration zu verstehen haben, wird nicht immer Einigkeit zu erzielen sein. Die niederländischen Migrationshistoriker Jan und Leo Lucassen, die zu den renommiertesten Vertretern ihres Faches gehören, beklagen in einem Aufsatz aus dem Jahre 2015, dass es Historikern und Sozialwissenschaftlern nicht einmal in Schlüsselfragen des Arbeitsgebiets gelungen sei, Einigkeit zu erzielen. Nicht einmal über Definitionen und Typologien zur vergleichenden historischen Betrachtung des Phänomens Migration habe man sich verständigt. Der aus dem Lateinischen abgeleitete Begriff selbst hat sich im deutschen Sprachgebrauch eigentlich erst Mitte des 20. Jahrhunderts gegen den früher üblichen (und synonymen) Terminus »Wanderung« durchgesetzt. In den 1930er Jahren taucht »Migration« erstmals neben bzw. anstelle von »Wanderung« in der Fachliteratur auf. Migrare meint im Lateinischen tatsächlich genau den Sachverhalt, den der moderne Begriff meistens beschreiben möchte: »Mit seiner Habe nach einem anderen Orte ziehen, um da zu wohnen«, so der Georges, ein einschlägiges Latein-Wörterbuch. Wie bereits in der Einleitung kurz angesprochen, ist der Migrationsbegriff auch nicht ganz leicht von dem der Mobilität abzugrenzen, man kann ihn durchaus als eine Funktion des letzteren betrachten. Migration wäre also ein Sonderfall von Mobilität: Mobilität unter bestimmten räumlichen und zeitlichen Voraussetzungen. Eine vielzitierte und für ihren Zweck auch nützliche Definition stammt von der UNO. Danach ist »das Verlassen des gewöhnlichen Wohnsitzes (place of usual residence)« zentrales Kennzeichen von Migration, die dann – bei den Vereinten Nationen naturgemäß – unter dem Gesichtspunkt von Nation weiter ausdifferenziert wird: entweder als »internationale Migration« oder als »Binnenmigration«, je nachdem ob Migranten Staatsgrenzen überschreiten. Annäherungen
Für unsere Zwecke und vor dem Hintergrund des hier betonten historischen Interesses müssen wir noch ein wenig vereinfachen und verallgemeinern. Einerseits geht die den politischen Gegebenheiten der internationalen Gemeinschaft entsprechende UNO-Definition von der Existenz klar definierter Staatsgrenzen aus, andererseits unterstellt sie grundsätzlich die Sesshaftigkeit als Normalfall der Lebensform. Beide Elemente dieser Definition sind für einen historischen Zugang ungeeignet: Nationalstaaten sind eine Form der Vergesellschaftung, die historisch betrachtet sehr spät entstanden und auch keineswegs alternativlos ist. Der zweite Aspekt hat darüber hinaus einen leicht ideologischen Beigeschmack: Migration wird als Ausnahme, als Abweichung von der Norm beschrieben, da die Migranten per definitionem über einen place of usual residence verfügten. Jemand, der sein Heimatland länger als ein Jahr verlässt, wird nach der Definition der Vereinten Nationen zu einem »Dauer- oder Langzeitmigranten (long-term migrant)«. Diese Bedingung erfüllten wie erwähnt allerdings bereits sowohl Odysseus – nach seinem genau einjährigen Aufenthalt bei der Zauberin Kirke, die sieben Jahre bei der Nymphe Kalypso machen ihn vielleicht zum very-long-term migrant – als auch Goethe, der seinen Geheimratspflichten in Weimar entfloh und 16 Monate in Italien weilte. Viel nützlicher und auch aus historischer Sicht für unterschiedliche Formen und Ausprägungen von Migration anwendbar erscheint mir der Ansatz des amerikanischen Migrationsforschers Patrick Manning zu sein, den in der Forschung auch die Gebrüder Lucassen aufgegriffen haben. Migration ist demnach zunächst einmal ganz einfach nur die Bewegung von Individuen oder Gruppen von einem Ort an den anderen. Entscheidender Faktor ist dabei, dass Grenzen (boundaries) im weitesten Sinne, nicht unbedingt Staatsgrenzen (borders), überschritten werden. Manning betont, dass diese Grenzen in erster Linie sprachlich, kulturell und sozial gezogen sind, nur im Einzelfall (bei Beispielen aus der Moderne oder der Gegenwart) handelt es sich auch um Staatsgrenzen. Diese Kultur- und Sprachgrenzen überschreitende Bewegung, die verschiedene Adaptionsleistungen von Migranten und auch von den Aufnahmegesellschaften verlangt, unterscheidet nach Manning einfache Mobilität von Migration. Mit diesem Konzept einer cross-community migration lassen sich die meisten Fälle historischer, aber auch moderner Wanderungen erfassen und mit dem Kriterium sprachlich-kultureller Grenzüberschreitung auf einen kleinsten gemeinsamen Nenner bringen. Auch können auf diese Weise Formen der Migration, welche die Vereinten Nationen als Binnenmigration werten würden, sozialgeschichtlich viel besser erfasst werden. Man kann hier etwa an Menschen denken, die aus der chinesischen Provinz Sichuan nach Shanghai an die Ostküste wandern. Sowohl sprachlich als auch kulturell liegen dazwischen Welten. Indien, wo über 120 grundverschiedene Sprachen aus teils unterschiedlichen Sprachfamilien gesprochen werden, zählte 2011 etwa 450 Millionen Binnenmigranten, etwa 15 % davon wanderten zwischen den kulturell sehr unterschiedlichen Bundesstaaten. Diese fast 70 Millionen Menschen tauchen in den Statistiken der UNO jedoch nicht als Migranten auf, im Gegensatz etwa zu den ca. 5,8 Millionen Nachkommen der rund 700.000 Araber, die im Jahr 1948 aus Palästina geflüchtet sind und seit drei Generationen in den arabischen Nachbarstaaten leben: Gleichwohl gelten sie für die UNO als Flüchtlinge. Manning betont überzeugend die Rolle von Sprachgemeinschaften, als die sich gesellschaftliche Gruppen in der Regel grundsätzlich konstituieren. Die Tatsache, dass nur die Zugehörigkeit zu einer Sprachgemeinschaft es den Menschen möglich macht, untereinander auf komplexe und symbolische Weise zu kommunizieren, verweist auf die soziale Bedeutung dieser Kulturtechnik. Dennoch bleiben einige definitorische Unschärfen bestehen. So bleibt es im Einzelfall oft schwierig, exakt zwischen Mobilität und Migration zu unterscheiden. Ein italienischer Stahlarbeiter, der um 1900 auf Anraten ausgewanderter Landsleute nach Pittsburgh übersiedelt, um dort für mehrere Jahre im Stahlwerk an der Seite von italienischen Arbeitern aus der gleichen Herkunftsregion zu malochen, und der in einer italienischen community im Stadtviertel Bloomfield seine Bleibe gefunden hat, muss weniger Adaptionsleistungen erbringen als ein dem Gesinde angehörendes mittelloses Mädchen aus Oberösterreich, für das auf dem Berghof kein Auskommen mehr ist, und das sich als Dienstmagd in einem bürgerlichen oder gar adligen Haushalt in der Hauptstadt verdingt. Auf dem geographisch gar nicht so weiten Weg in die Stadt überschreitet sie mehrere Grenzen: vom Land in die Stadt, von der ländlichen Unterschicht in eine völlig andere soziale Klasse, von einem Dialekt und einem Soziolekt in einen gänzlich anderen. Derartige historische Nuancen lassen erahnen, dass je nach historischer Landschaft, Epoche und Zeitstellung die Auswirkungen und auch die Wahrnehmungen von Migrationsformen ganz unterschiedlich sein können. Was heute als weitgehend unproblematische Binnenwanderung gesehen werden könnte, wenn etwa ein junger Arbeitssuchender aus einer ländlichen Gegend in eine Kreisstadt oder Großstadt in der näheren Umgebung zieht, war im Mittelalter unter Umständen mit der Änderung des Rechtsstatus und mit großen kulturellen Anpassungsleistungen verbunden. Ein Höriger etwa, der seine Grundherrschaft verlassen hatte, trat in ein neues und anders Herrschaftsgefüge ein und veränderte auch seinen sozialen Status. Historische und aktuelle Fragen
Dennoch wird in diesem Buch diejenige Perspektive dominieren, die wir im Kontext der Moderne als »internationale Migration« bezeichnen würden. In deren Verlauf überschreiten Migranten Sprach- und Kulturgrenzen und müssen komplexe Integrationsleistungen erbringen, Prozesse, die in der Alltagssprache gerne vereinfachend als Aus- oder Einwanderung bezeichnet werden. Diese Begriffe implizieren jedoch einen einmaligen Wanderungsvorgang mit Ausgangspunkt und klarem Ziel. Der Herkunftsort (das Geburtsland in Zeiten moderner Staatlichkeit) wird verlassen, um an einem neuen Ankunftsort dauerhaft zu verweilen. Dass die Sachlage wesentlich komplizierter ist, wurde bereits angedeutet und wird im Verlauf der Darstellung noch deutlicher werden. Migrationen erfolgten und erfolgen oft prozesshaft, über Etappen, manchmal mit dem (verwirklichten oder aufgegebenen) Wunsch...