Sacheri | In ihren Augen | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 320 Seiten

Reihe: Piper Spannungsvoll

Sacheri In ihren Augen

Roman
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-492-98298-6
Verlag: Piper ebooks in Piper Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 320 Seiten

Reihe: Piper Spannungsvoll

ISBN: 978-3-492-98298-6
Verlag: Piper ebooks in Piper Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Buenos Aires, 30. Mai 1968. Eine junge Frau wird vergewaltigt und erschlagen. Dem Justizbeamten Benjamín Chaparro gelingt es, den Mörder zu überführen, der Fall scheint abgeschlossen - bis die Militärjunta sich einmischt ... Fünfundzwanzig Jahre später, im Ruhestand, beschließt Chaparro, die Ereignisse von damals in einem Buch zu verarbeiten - ohne zu ahnen, wie sehr ihn die Vergangenheit einholen wird.

Eduardo Sacheri wurde 1967 in Buenos Aires geboren. Er ist Professor für Geschichte und unterrichtet an Universitäten und Gymnasien. Mitte der 1990er Jahre las der Radiomoderator Alejandro Apo drei Erzählungen des bis dato unbekannten Autors ins einer Sendung Todo conafecto vor. Das Publikum fragte begeistert, wo es diese und andere Geschichten nachlesen könne. So erschien im Jahr 2000 der Erzählungsband 'Esperándolo a Tito', von dem bis heute mehr als 30 000 Exemplare verkauft wurden. Sein Debütroman 'In ihren Augen' (Bloomsbury Berlin 2012) wurde verfilmt und erhielt 2010 den Oscar für den besten fremdsprachigen Film. Außerdem erschienen 2010 im Berlin Verlag sein Roman 'Warten auf Perlassi' und seine Fußballgeschichten 'Die Hand Gottes und andere Tangos'.
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DER ABSCHIED

Benjamín Miguel Chaparro bleibt abrupt stehen. Er wird nicht hingehen, Punktum. Zum Teufel mit den anderen. Er hat es versprochen, ja, sein Abschied wird seit drei Wochen vorbereitet, ja, der Tisch im El Candil ist bestellt, ja, Benítez und Machado kommen extra hin, um die Pensionierung des Urgesteins zu feiern, ja. Trotzdem.

Er bleibt so plötzlich stehen, dass der Mann, der hinter ihm geht, fast in ihn gerannt wäre und nur ausweichen kann, indem er mit einem Fuß auf die Straße tritt. Chaparro hasst die engen Bürgersteige, die lärmigen, dunklen Straßen. Seit vierzig Jahren geht er hier entlang, von der Calle Talcahuano in Richtung Avenida Corrientes, und er wird ihn nicht vermissen, diesen nahezu täglichen Weg, wenn er am Montag aufhört, bestimmt nicht. Diese Bürgersteige nicht und auch vieles andere nicht in dieser Stadt, in der er nie ganz heimisch geworden ist.

Nein, er darf sie nicht enttäuschen. Er muss hingehen. Und sei es nur, weil Machado extra aus Lomas de Zamora gekommen ist, trotz seiner Gebrechen. Und Benítez aus Palermo. Von Palermo zum Justizpalast Tribunales ist es zwar nicht so weit, aber der Arme ist nicht mehr gut zu Fuß. Trotzdem, Chaparro will nicht hingehen. Er ist sich nur sehr weniger Dinge sicher, aber dies gehört dazu.

Im Schaufenster eines Papierwarengeschäfts betrachtet er sich in der Scheibe. Die Hakennase, das schmale Gesicht. Oje, sagt er sich. Er mustert seine Augen. Über seine Manie, sich ständig im Schaufenster zu betrachten, hat sich schon in Jugendtagen eine Freundin lustig gemacht. Aber weder ihr noch sonst einer Frau, die später in sein Leben trat, hat er je den wahren Grund dafür genannt. Seine Angewohnheit hat nichts mit Koketterie zu tun, nichts mit Eitelkeit. Es geht ihm nur um eins: Er will ergründen, wer er ist.

Dieser Gedanke macht ihn noch trauriger. Er geht weiter, als könnte er so diese zusätzliche Traurigkeit wieder abschütteln. In aller Ruhe schlendert er den Bürgersteig entlang, der nachmittags immer im Schatten liegt, schielt aber nach wie vor zu den Schaufenstern. Schräg gegenüber, auf der linken Seite, in etwa dreißig Meter Entfernung, erspäht er das Schild El Candil. Er sieht auf die Uhr: Viertel vor zwei. Wahrscheinlich sind die anderen längst da. Er selbst hat die Mitarbeiter seines Sekretariats um zwanzig nach eins losgeschickt, damit sie nicht hetzen müssen. Das Arbeitspensum für diesen Monat ist geschafft, das neue Pensum steht erst im nächsten Monat an. Chaparro ist zufrieden. Es sind gute Mitarbeiter. Fleißig. Fix im Kopf. Der nächste Gedanke: Ich werde sie vermissen. Weil Chaparro nicht in Nostalgie versinken will, bleibt er stehen. Diesmal ist niemand hinter ihm, der ihn umzurennen droht: Alle Passanten, die in diese Richtung unterwegs sind, können dem hochgewachsenen Mann in blauem Sakko und grauer Hose, der sich in der Scheibe eines Lottogeschäfts betrachtet, rechtzeitig ausweichen.

Plötzlich wirbelt er herum. Nein, er wird nicht hingehen. Wenn er sich beeilt, erwischt er die Frau Doktor noch, bevor sie zu seinem Abschiedsessen aufbricht. Vielleicht ist sie spät dran, weil sie noch einen vorläufigen Haftbefehl ausstellen muss. Er denkt nicht zum ersten Mal daran, aber es ist das erste Mal, dass er genügend Mut aufbringt, es zu tun. Vielleicht ist aber auch nur die Vorstellung, was ihn sonst erwartet, eine Hölle, in der er nicht schmoren will. Sich zu Benítez und Machado ans Kopfende des Tisches setzen? Das Trio ehrwürdiger Mumien vervollständigen? Hören, wie der knausrige Álvarez seine typische Frage stellt »Wir teilen die Rechnung, oder?« , um dann peinlich genau jedem gleich viel von dem guten Wein einzuschenken? Laura fragen hören, ob jemand die Cannelloni mit ihr teilen möchte, weil sie am Montag wieder mal eine Diät begonnen hat? Mitansehen, wie Varela sich systematisch betrinkt und am Ende rührselig alle Freunde, Bekannte und Kellner umarmt? Dieser Albtraum treibt ihn an. Er steigt die Treppe zum Haupteingang hinauf, der noch nicht geschlossen ist, und nimmt den erstbesten Fahrstuhl. Er muss der Fahrstuhlführerin nicht erklären, dass er in den fünften Stock möchte, denn im Justizpalast kennen ihn sogar die Steine.

Die Sohlen seiner Mokassins hallen dumpf auf den schwarz-weißen Fliesen wider, als er entschlossen den Flur entlanggeht, der parallel zur Calle Tucumán verläuft. Schließlich steht er vor der schmalen hohen Tür seines Sekretariats. Kurz denkt er über dieses Possessivpronomen nach. Jawohl, es ist »sein« Sekretariat, mehr jedenfalls als das von García oder dessen Vorgänger, und mehr, als es je das seiner Nachfolger sein wird.

Als er die Tür öffnet, klirrt der Schlüsselbund in der Stille des leeren Flurs. Lautstark schließt er die Tür hinter sich, damit die Frau Richterin bemerkt, dass jemand das Büro betreten hat. Moment: Wieso »Frau Richterin«? Weil sie Richterin ist natürlich. Aber warum nicht Irene? Darum. Das, worum er bitten will, ist schon schwer genug, da muss er sich das Leben nicht noch zusätzlich erschweren, indem er Irene darum bittet statt Frau Doktor Hornos.

Sachte klopft er zweimal an und hört, wie sie »Herein« sagt. Als er eintritt, blickt sie erstaunt auf und fragt, wieso er noch nicht im Restaurant sei. Tatsächlich fragt sie: »Wieso bist du noch nicht im Restaurant?« Was nicht das Gleiche ist. Doch Chaparro will sich von diesem intimen »du« nicht aus dem Konzept bringen lassen, denn dann liefe er Gefahr, seinen Vorsatz über den Haufen zu werfen, sie um das zu bitten, was er vor ein paar Minuten beschlossen hat, in der Calle Talcahuano, kurz vor der Avenida Corrientes. Auch so sinkt ihm der Mut, weil diese Frau ihn über die Maßen verwirrt. Doch er reißt sich zusammen, sagt sich, dass er es durchziehen muss, koste es, was es wolle, dass er sich ein Herz fassen und sie endlich bitten muss um das, was ihn hierher geführt hat. »Die Schreibmaschine«, sagt er schließlich, einfach so, ganz direkt. Blödmann, Idiot. Wie plump. Kein: Hör mal, Irene, ich dachte, wir könnten vielleicht mal, was hältst du davon, wenn Keine Floskeln, wie sie das Spanische in solchem Übermaß bietet, um genau dem vorzubeugen, was Chaparro in Irenes Miene abliest, oder vielmehr in der Miene der Frau Doktor oder der Frau Richterin: Verblüffung über dieses merkwürdige Ansinnen.

Chaparro begreift, dass er ins Fettnäpfchen getreten ist, wieder einmal. Also kommt er auf das zurück, was sie gefragt hat, zu dem Essen, das in diesem Augenblick zu seinen Ehren stattfindet. Er sagt, er fürchte sich davor, nostalgisch zu werden, am Ende über das Gleiche wie immer zu reden, mit den gleichen Leuten, in peinliche Rührseligkeit zu versinken. Und weil er ihr dabei in die Augen sieht, kommt irgendwann der Moment, in dem ihm flau im Magen wird, ihm kalter Schweiß ausbricht, sein Herz wie wild zu schlagen beginnt. Dieses Gefühl ist so intensiv, so alt und so sinnlos, dass er zum Fenster eilt, um es zu schließen, Hauptsache weg von diesen kastanienbraunen Augen. Das Fenster ist aber bereits geschlossen, also öffnet er es. Eiskalte Luft strömt herein, so dass er das Fenster sofort wieder zumacht. Schließlich bleibt ihm nichts anderes übrig, als wieder an seinen Platz zurückzukehren, nur dass er klug genug ist, sich nicht zu setzen, damit er ihr nicht über den Tisch hinweg, über die vor ihr liegende Akte hinweg in die Augen sehen muss. Irene nimmt alles, was er tut, all seine Blicke, all die Nuancen seiner Stimme, aufmerksam zur Kenntnis. Chaparro verstummt, weil er weiß, dass er sonst unwiderrufliche Dinge sagen wird. Er kriegt gerade noch die Kurve und kommt lieber wieder auf die Schreibmaschine zurück.

Er sagt, er habe keine Ahnung, was er jetzt mit seinem Leben anfangen solle, aber er trage sich mit dem Gedanken, ein altes Projekt aufzugreifen: ein Buch zu schreiben. Kaum hat er es ausgesprochen, kommt er sich töricht vor. Ein alter Mann zweimal geschieden, pensioniert mit literarischen Ambitionen. Der Hemingway des dritten Lebensalters. Der García Márquez der Vorstädte. In Irenes Augen blitzt jedoch Interesse auf, oder, besser gesagt, in den Augen der Frau Doktor oder, noch besser, in den Augen der Frau Richterin. Für einen Rückzieher ist es jetzt zu spät, also murmelt er etwas davon, es noch einmal wissen zu wollen, von einem alten Projekt, von der vielen Zeit, die er von nun an haben wird, und warum nicht. Damit erhält auch die Frage nach der Schreibmaschine ihren Sinn. Chaparro ist es jetzt wohler in seiner Haut, er hat wieder festeren Boden unter den Füßen. »Wie du dir denken kannst, habe ich nicht vor, mich auf meine alten Tage noch mit diesem Computerkram zu beschäftigen. Die Remington kenne ich aus dem Effeff, wie eine vierte Phalanx.« (Vierte Phalanx? Wie kommt er nur auf diesen Schwachsinn?) »Sie ist wie ein Panzer: der fünf Millimeter dicke Stahl, die olivgrüne Farbe und dieses Artilleriegeräusch bei jedem Anschlag. Ich werde wohl zwei, höchstens drei Monate brauchen, vorausgesetzt, ich komme nicht ins Stocken, soll ja schließlich kein Wälzer werden, wo...


Strobel, Matthias
Matthias Strobel studierte Germanisitk, Hispanistik und Geshcichte in Tübingen, Leeds, Madrid und Hamburg. Seit 200 übersetzt er aus dem Spanischen, u.a. Alfredo Bryce Echenique, Eduardo Sacheri, Alonso Cueto und Élmer Mendoza.

Sacheri, Eduardo
Eduardo Sacheri wurde 1967 in Buenos Aires geboren. Er ist Professor für Geschichte und unterrichtet an Universitäten und Gymnasien. Mitte der 1990er Jahre las der Radiomoderator Alejandro Apo drei Erzählungen des bis dato unbekannten Autors ins einer Sendung Todo conafecto vor. Das Publikum fragte begeistert, wo es diese und andere Geschichten nachlesen könne. So erschien im Jahr 2000 der Erzählungsband "Esperándolo a Tito", von dem bis heute mehr als 30 000 Exemplare verkauft wurden. Sein Debütroman "In ihren Augen" (Bloomsbury Berlin 2012) wurde verfilmt und erhielt 2010 den Oscar für den besten fremdsprachigen Film. Außerdem erschienen 2010 im Berlin Verlag sein Roman "Warten auf Perlassi" und seine Fußballgeschichten "Die Hand Gottes und andere Tangos".



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