E-Book, Deutsch, 176 Seiten
Schmid Die hängende Säge
1. Auflage 2024
ISBN: 978-3-7152-7534-5
Verlag: Atlantis Literatur
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 176 Seiten
ISBN: 978-3-7152-7534-5
Verlag: Atlantis Literatur
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Die hängende Säge erzählt von einem traumatischen Erlebnis in einem Mädchenleben und der Selbstbehauptung einer jungen Frau, die eine Heirat genauso wenig interessiert wie die Stelle als Grundschullehrerin in ihrem Heimatdorf. Im Ton eigen und frisch, besticht der Roman auch atmosphärisch mit der Präsenz einer bizarren Bergwelt. Starke, wunderschöne Bilder lassen die Filmerin Alice Schmid durchscheinen.
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Als Mädchen wollte ich immer werden. So etwas gebe es nicht, sagte man mir. Ich war das jüngste Mitglied im Handorgelclub . Mein Instrument war diatonisch. Jeder Knopf gab zwei Töne, einen beim Ziehen, einen beim Stoßen. Die Erwachsenen spielten chromatisch, mit doppelt so vielen Knöpfen. Ob ziehen oder stoßen, bei ihnen hatte jeder Knopf nur einen Ton. Ich wollte meine Handorgel und keine andere. Vater hatte sie mir an meinem neunten Geburtstag geschenkt. Seither versteckte ich mich hinter dem Luftbalg, wenn Mutter ihre Laune an mir ausließ. Das wollte ich jetzt ändern und ans Lehrerseminar gehen. Ich hoffte, sie damit glücklich zu machen.
Am Küchenschrank hing mein Foto von der VW-Schwester und den Schwarzen Mädchen, mit Francine vor der Afrika-Karte. Vater nahm die Mundharmonika aus der Küchenschublade. Da packte ich die Handorgel aus. Wir spielten .
Es war wie immer. Mutter setzte sich nach dem Nachtessen an die Heimarbeit. Vater schickte Bless in seine Hundehütte, schob am Hühnerhaus den Riegel herunter und fuhr mit dem Töff zur Nachtschicht in die Fabrik. Nach der obersten Kurve gab er Gas. Der Lichtstrahl seiner Lampe tauchte zwischen den Tannen auf wie die Taschenlampe der VW-Schwester, wenn sie nachts Hunger hatte und wir uns in der Küche trafen.
Ich zog die spitzen Schuhe aus, ging im Dunkeln mit nackten Füßen über die feuchten Stoppeln der gemähten Wiese zum Lindenbaum, dem ich schon als kleines Mädchen meinen Kummer anvertraut hatte. Ich lehnte mich mit dem Rücken an den Stamm. Ich spürte das weiche Fell von Bless an meiner Seite. Belgien war schon weit weg. Aber das Foto am Küchenschrank erinnerte mich an Francine. Es war so schön gewesen, eine Freundin aus Afrika zu haben.
Der warme Südföhn raschelte durch die Blätter, es roch nach frisch geschleudertem Honig. Drüben in den Bergen donnerte es. In Bälde würde der Föhn zusammenfallen und das Gewitter ausbrechen.
Auf Zehenspitzen ging ich durch den langen Gang, streifte den gusseisernen Holzofen vor dem Badezimmer und fühlte die Kälte am Arm. Das Licht von der Stube spiegelte sich in der gläsernen Küchentür. Ein Schatten bewegte sich. Mutter ging mit einer Handvoll Seidenkrawatten herüber zum Bügelbrett.
In der Stube blieb ich neben der Pendeluhr stehen und schaute mit dem Rücken zu Mutter auf das Ölbild mit dem Fischer auf stürmischer See und dem Lichtstreifen am Horizont. Ich wusste nicht, wo und wie beginnen. Jetzt entdeckte Mutter bestimmt jeden missglückten Nadelstich an meinem Kleid. Sie musste doch sehen, wie alles an mir zitterte. Dampf zischte aus dem Bügeleisen.
– Karl holt dich morgen ab. Er will mit dir das Wochenende verbringen, sagte Mutter.
Sie legte die gebügelten Krawatten in die Schachtel, die sie morgen für fünfzig Rappen das Stück abliefern würde. Ich schlich in mein Zimmer, tunkte den Zeigefinger ins Weihwassergefäß. Es war ausgetrocknet. Das Licht löschte ich selber.
Ich kletterte die Leiter des Doppelstockbetts hoch, kroch unter meine Federdecke, gewohnt, dass Mutter vor dem Schlafen kommen würde, um mit mir zum schwarzen Herzen zu beten. Es blieb still. Das Bett unter mir blieb leer. Meine Schwester war inzwischen ausgezogen. Blitze erhellten mein Zimmer, leuchteten im Sekundentakt durch die Spalte der hölzernen Jalousieläden. Ich zählte die Sekunden, bis der Donner kam. Das Gewitter war noch weit entfernt.
Ich konnte es kaum glauben, Mutter erlaubte mir ein Wochenende mit Karl.
Ich hatte Mühe einzuschlafen. Ich gähnte, ich schluckte, ich drückte die Hände an die Ohren. Die Uhr schlug Mitternacht. Ein letztes Zischen aus Mutters Bügeleisen.
Über Nacht hatte der Regen die Erde aufgeweicht und Steine angeschwemmt. Ich wartete mit Herzklopfen auf Karl, stand vorne an der Kurve neben einer Pfütze, und in meinen spitzen Schuhen, die mir inzwischen passten, trauerte ich meinen alten Lederschuhen nach.
Ein Motorengeräusch kam das Tal hoch. Es tönte wie Vaters Töff. Ein roter Deux Chevaux holperte auf dem Schotterweg um die Kurve. Am Steuer saß Karl. Er hupte, ich rannte voraus, legte Bless an die Kette. Karl drehte eine Schlaufe vor unserem Haus. Da stand er vor mir. Ich stellte mich auf die Zehenspitzen, wollte ihn nach Belgien-Art begrüßen. Er reichte mir die Hand, schaute auf den Ausschnitt an meinem selbst genähten Kleid, wo es vor einem Jahr noch flach war wie eine Hühnerbrust. Zum Glück verspielte sich mein Speckbauch unter dem Falt an meinem neuen Kleid.
– Ich habe das Meer noch nicht gesehen, sagte ich.
– Aber rote lachende Kühe, sagte Karl.
Er beugte sich vor. Für einen Moment glaubte ich, jetzt küsst er mich. Da öffnete Mutter das Küchenfenster.
– Unsere Lilly wird Lehrerin, grüßte sie Karl.
Mit dem Deux Chevaux fuhren wir ins Welschland, wo Karl an der Uni Fribourg studierte und sein Freund Orleo uns zu seinem Licfest eingeladen hatte. Mich fröstelte, ich hatte nasse Füße. Das Datum meiner letzten Mens hatte ich auf die Innenhand geschrieben. Soll mir nie mehr nichts mehr mit niemandem passieren.
Das Motorengeräusch verschluckte unser Schweigen. Bei jeder Kurve nahm ich einen Anlauf, war bereit, Karl alles zu erzählen. Auf Französisch hätte ich es gekonnt.
Wir verließen unten im Tal die Bergstraße Richtung Bern. Karl schaltete mit dem Knebel, der zwischen unseren Sitzen hin- und herruckelte, einen Gang höher. Er fragte nicht, was war vor einem Jahr. Auch wenn mir in seinem Deux Chevaux kein Schiff in die Schläfe drückte, in diesem Moment wäre ich lieber mit der VW-Schwester über die Pflastersteine nach Afrika gefahren.
– Ich träume sogar auf Französisch, sagte ich.
Karl zeigte mir sein altes Lächeln. Geschafft, dachte ich. Er nahm die rechte Hand vom Steuer und klappte das Schließfach vor meinen Knien herunter.
– Das rosarote ist noch vom letzten Jahr, sagte er.
Er hatte zwei Geburtstagsgeschenke in rosarotes und hellblaues Seidenpapier verpackt und beide mit einer gelben Schlaufe umwickelt. Vor uns teilte sich die Straße. Karl nahm die nach rechts zu den Protestanten ins Emmental.
Die Emme hatte Hochwasser. Sie war angeschwollen, kam braun daher, wie immer nach einem Gewitter, und trug ganze Baumstämme mit sich. So heftig schweigen, das war ich nicht mehr gewohnt.
Wie eine Sache beginnt, so wird sie auch enden, hatte Grosi mich schon früh gelehrt. Jetzt fuhren wir an ihrem Haus vorbei mit der typischen Dachründe, die es nur im Emmental gab. Auf den Fenstersimsen standen blutrote Geranien. Ich wollte Karl nicht sagen, dass meine Mutter hier aufgewachsen und früher eine Protestantin war. Ich nahm einen neuen Anlauf, um mit ihm ins Gespräch zu kommen.
– Tendre et cruel, réel et surréel, terrifiant et marrant, sagte ich.
– Du hast eine komische Aussprache, sagte Karl.
Wir näherten uns dem Welschland. Die Ortstafeln waren jetzt deutsch und französisch beschriftet. Krähen flogen auf, Schwaden von Bodennebel zogen über die Stoppelfelder. Ein Signal blinkte rot auf, und eine Glocke klingelte beim Bahnübergang. Die Zugbarriere ging herunter. Karl stellte den Motor ab.
– Unter meinem Fenster drehte eine Frau im Kreis, sagte ich.
Aus der Ferne ertönte der Warnpfiff der Lokomotive. Der Bernerzug donnerte heran. Ein heftiger Windstoß. Der Deux Chevaux kam ins Schwanken. Ich schloss die Augen und machte sie erst wieder im Welschland auf.
Ich packte die Geschenke aus. Im rechten war ein Buch von Heinrich Böll, . Ich war froh, stellte Karl keine Fragen zur von Camus. Das Geschenk vom letzten Jahr war rund und schwer. In einer Glaskugel wirbelten Schneeflocken durcheinander, und darin tauchte ein Mädchen auf mit einem gelben Bikini und einer gelben Masche im Haar. An der Unterseite der Kugel klebte eine Etikette: . Ich umarmte Karl und küsste ihn auf beide Wangen.
Wir gingen über eine Pflastersteinstraße durchs historische Quartier der Universitätsstadt Fribourg. Karl nahm meine Hand. Sie war warm. Jetzt hätte ich sagen können, warum man mich vor einem Jahr beinahe ins Welschland geschickt hatte. Eine schwarze Katze huschte von links nach rechts über die Gasse. Besser noch nicht jetzt, sagte mein Gefühl.
Vor einem der Altstadthäuser blieb Karl stehen. Ich folgte ihm über die durchgetretenen Stufen der Holztreppe hoch bis unters Dach, wo Orleo und seine Freundin uns in ihrer Studentenbude erwarteten.
Du bist vorlaut und eine andere geworden, das war das Einzige, was Karl zu mir gesagt hatte, als ich mich in der Nacht an ihn schmiegte. Am Morgen erwachte ich neben ihm auf dem Sofa. Die Tür zum Nebenzimmer knarrte leise in den Fugen. An der Decke bewegte sich wieder der Schatten der hängenden Säge.
Ab Mittag standen alle Türen offen. Die Zimmer füllten sich mit Studenten, die zu Orleos Licfest kamen. Sie sprachen französisch, debattierten, rauchten und spielten um Geld. Ich machte mit und setzte mein Pokerface auf. Das lag mir im Blut. Mit Karten in der Hand war ich aufgewachsen. Im Entlebuch spielten wir mit Eicheln, Kuhschellen, Rosen und Schilten. Im Welschland jedoch waren es Kreuz, Herz, Pik und Karo.
Orleo war anders als Karl. Eine Gauloise wippte zwischen seinen sinnlichen Lippen wie bei Jean-Paul Belmondo. Sein Blick machte mir Herzklopfen. Ich sagte, Bier, als er fragte, was ich trinken möchte. Es war hell und klar wie das in Belgien. Mitten in der Nacht legte er eine Single auf den Plattenteller.




