E-Book, Deutsch, Band 6, 270 Seiten
Reihe: Ostwind
Schmidbauer Ostwind - Der große Orkan
Originalausgabe 2018
ISBN: 978-3-641-23480-5
Verlag: cbj
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, Band 6, 270 Seiten
Reihe: Ostwind
ISBN: 978-3-641-23480-5
Verlag: cbj
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Lea Schmidbauer wurde 1971 in Starnberg am Starnberger See geboren. Sie studierte ein paar Semester Amerikanische Kulturgeschichte, bevor sie sich an der Filmhochschule in Mu¨nchen bewarb. Seit 2007 schreibt sie Drehbu¨cher fu¨r Kinofilme und die Pferdeabenteuerreihe »Ostwind«. Lea Schmidbauer lebt und arbeitet in Mu¨nchen und als Teilzeitlandwirtin in einem kleinen Dorf in Mittelfranken, wo auch ihr Islandpony Penny zu Hause ist.
Autoren/Hrsg.
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1. Kapitel
W ie flüssiges Blei schoben die Wolken den Himmel zu, erstickten die Spätsommersonne und hinterließen ein fahles Zwielicht. Der warme Wind, der eben noch in den Blättern der Bäume geraschelt hatte, erstarb. Die Vögel verstummten. Die Luft wurde plötzlich kalt. Alles um sie herum schien den Atem anzuhalten. Sie wusste, es würde jetzt nicht mehr lange dauern. In der Stille hörte sie ihr Herz schlagen, immer lauter und kräftiger. Auch das Kribbeln in ihrem Nacken war ein untrügliches Zeichen. Gefahr! GEFAHR!
Sie wusste, was sie tun musste. Sie spürte es. Aber irgendetwas ließ sie trotzdem zögern. Das kniehohe Gras knisterte, als wäre die Luft um sie herum elektrisch. Das dunkle Pferd, das bis jetzt ruhig neben ihr gegrast hatte, hob den Kopf und sah sie an, aber immer noch bewegte sie sich nicht. Und in diesem Moment hörte sie die Stimme. So laut und klar, dass sie zusammenzuckte. Bring ihn in Sicherheit! Sie fuhr herum, aber da war keiner. JETZT! befahl die Stimme und diesmal schüttelte sie trotzig den Kopf. Nein. Noch nicht. Wieder sah sie zum Horizont, wo sich immer mehr Wolken auftürmten und zu einem riesigen, düsteren Ungetüm zusammenschoben. Das Pferd schnaubte unruhig und scharrte mit dem Huf, doch noch konnte sie sich nicht losreißen. Sie spürte jeden einzelnen Muskel in ihrem Körper, jede Nervenbahn, durch die jetzt Energie bis in ihre Fingerspitzen pulsierte. Sie schloss die Augen, um das Gefühl nur noch einen Moment länger zu genießen, bevor … DER STURM KOMMT!, donnerte die Stimme und sie riss die Augen auf. Und dann raste die Dunkelheit auf sie zu.
»Jawohl, der Sturm kommt, liebe Leute, soviel ist sicher. Also bringt eure Schäfchen und den Rest der Familie schon mal ins Trockene! Ich liefere dazu die passende Musik!« Die aufgekratzte Stimme schepperte gespenstisch über den verlassenen Hof. Sie kam aus einem altmodischen Radio, das so verstaubt und verdreckt war, dass es kaum noch als Radio zu erkennen war. Jemand hatte den fehlenden Drehknopf durch einen grob zurechtgeschnitzten Holzknopf ersetzt, und statt der Antenne ragte ein rostiger Eisendraht in die Luft. So stand es auf dem Fenstersims einer der drei flachen Baracken, die sich um einen quadratischen Innenhof duckten. Vor vielen Jahren einmal hatte jemand den Hof mit Sand befestigt, doch der Wald, der das Gehöft an allen vier Seiten umgab, holte sich den geraubten Boden Stück für Stück zurück. Flechten kletterten die Wände der Gebäude empor, zarte hellgrüne Fichten hatten die Schotterdecke von unten aufgesprengt, Gras zwängte sich aus allen Ritzen und Fugen des gesprungenen Mauerwerks.
»It’s Raining Men – Halleluja!«, sang es inbrünstig aus dem Radio als plötzlich ein Schrei die Luft zerriss.
»ARRRHHHHGGH!«
Das schwarze Pferd, das am Rand des Hofes stand und genüsslich ein paar Brombeerblätter aus einem Mauervorsprung gezogen hatte, riss den Kopf hoch und sah zu einer kleinen Gestalt, die in diesem Moment wie ein Schachtelteufel aus dem hohen Gras fuhr. Sie schüttelte heftig den Kopf, als müsse sie ein Insekt vertreiben, das sich in ihren wilden Locken verirrt hatte. Ostwind schnorchelte vorwurfsvoll und Ari sah ihn schuldbewusst an.
»Oh. Tut mir leid.« Sie hob entschuldigend die Hände und wieder schüttelte der Hengst empört seinen langen Hals. Diesmal musste sie grinsen.
»Ja, Mann. Ich weiß doch. Keine ruckartigen Bewegungen.«
Sie trat zu ihm, streckte behutsam die Hand aus und kraulte ihn hinter einem Ohr. »Und keine Störungen der Mittagsruhe. War so abgemacht. Aber ich hab blöd geträumt. Es war …« Sie kniff die Augen zusammen und versuchte, sich ihren Traum noch einmal zurückzuholen. Sich an ihre Träume zu erinnern, gelang ihr erst seit ein paar Monaten. Früher war sie einfach nur schreiend aufgewacht – jetzt wachte sie schreiend auf und wusste immerhin noch warum. Nur ob das so viel besser war? Ari schüttelte seufzend den Kopf. »Egal.«
»Und liebe Hörer, habt ihr denn schon die Wäsche reingeholt? Noch ist der Himmel babyblau, aber ihr wisst ja«, die ölige Stimme des Radiomoderators senkte sich dramatisch, »dieser Sturm wird auch euch nicht verschonen! Also macht die Schotten dicht, klappt die –«, aber weiter kam er nicht, denn Ari war mit drei Sätzen bei dem alten Radio und schaltete es aus. Der Sturm. Sie konnte es nicht mehr hören. Seit Tagen redeten alle auf Kaltenbach über nichts anderes, seit Tagen wurden Pläne geschmiedet, welche Pferde sie wie und wohin umtreiben mussten, um sie rechtzeitig vor dem Unwetter in Sicherheit zu bringen. Okay, ein Tropensturm, der sich nach Mittelhessen verirrte, war vielleicht nicht alltäglich, aber am Ende des Tages war es doch einfach nur ein bisschen mehr Wasser und Wind als sonst. Und die Aufregung war einfach übertrieben. Ari ging zurück zu Ostwind, ließ sich schwer in den orange-braun karierten Campingstuhl fallen, den sie zusammen mit dem Radio in einem der Schuppen gefunden hatte und sah sich zufrieden um. Das hier war ihr Reich. Hier konnte sie tun und sein, was und wer sie wollte. Niemand sah sie schräg an, nur weil sie mit einem Bogen über der Schulter herumlief. Niemand legte ihr nahe, doch bitte nur dann damit zu üben, wenn keine Kunden in der Nähe waren. Und vor allem erinnerte niemand sie daran, dass das Pferd an ihrer Seite gar nicht ihres war.
Sie hatte diesen verlassenen Hof vor ein paar Wochen gefunden, als sie mit Ostwind durch den Wald gestreift war, auf der Suche nach einem Ort, an dem sie trainieren konnte, ohne jemanden zu stören. Denn das war nicht leicht, wenn trainieren bedeutete, aus großer Entfernung von einem galoppierenden Pferd aus mit Pfeil und Bogen auf ein Ziel zu schießen. Bis vor Kurzem hatte sie manchmal den großen Reitplatz in Kaltenbach dazu nutzen dürfen. Doch nachdem sich immer wieder Pfeile verirrten und zuletzt durch ein offenes Fenster eine kostbare Porzellanfigur vom Kaminsims holten, wurde Ari nahegelegt, ihre »Indianer-Tricks«, so nannte es Frau Kaltenbach, doch bitte an einem anderen Ort zu üben.
Ari wohnte seit vier Monaten auf dem Gestüt. Nach acht Pflegefamilien war Kaltenbach ihr neuntes Zuhause – aber zum ersten Mal in ihrem Leben fühlte sie sich tatsächlich daheim. Immer noch schlich sie ehrfürchtig durch die holzvertäfelten Flure. Aber jedes Mal wenn sie durch das hohe Fenster mit den weißen Holzsprossen aus ihrem Zimmer in den weitläufigen Hof sah, fühlte sie sich ein bisschen mehr zu Hause.
Vor allem hatte sie sich fest vorgenommen, alles zu tun, um sich Kaltenbachs würdig zu erweisen. Ihr umjubelter Auftritt mit Ostwind am Tag der offenen Tür war ein guter Anfang gewesen. Seitdem waren viele Wochen vergangen und langsam beschlich Ari das Gefühl, dass es gar nicht so leicht werden würde, ihren Platz hier zu finden. Früher war es ihr egal gewesen, dass ihre Mitmenschen sie einfach nicht verstanden – sie hatte es ohnehin nicht ändern können. Aber jetzt hatte SIE sich verändert. Unwillkürlich sah sie zu Ostwind und bemerkte überrascht, dass der Hengst sie die ganze Zeit über angesehen hatte. Seine wachen bernsteinfarbenen Augen leuchteten in der Nachmittagssonne, und als sie sich ihm zuwandte, hielt er ihren Blick fest. Ich sehe dich, schien er zu sagen. Trotz ihrer düsteren Gedanken musste Ari lächeln. Ostwind hatte sie verändert. Oder sie hatte sich für ihn verändert. Sie hatte das Kribbeln im Griff, hatte keine Wutausbrüche mehr und wenn sie jetzt jemand im Schulbus anrempelte, dann gab es keine blauen Augen oder gebrochenen Nasen mehr, sondern schlimmstenfalls ein: »Ey, pass doch auf, Mann!« Wieso nur fiel das Sam und Frau Kaltenbach nicht auf? Wieso wollten sie nicht, dass Ari ihren Teil beitrug? Im Stall mithalf? Sich nützlich machte? Das war eine Frage, auf die sie einfach keine Antwort fand. Auch Herrn Kaan hatte sie gefragt, der eigentlich immer alles wusste, doch der hatte nur mild gelächelt und mit einem seiner rätselhaften Sätze geantwortet, deren Sinn man – wenn überhaupt – erst nach tagelangem Grübeln verstand.
»Wenn du einen Weg von 1000 Schritten zu gehen hast, bist du auch nach 999 noch nicht angekommen.«
Toll. Vielen Dank!, dachte Ari bitter und kickte mit dem Fuß gegen die verblichene Plastikwanne, in der sie die Fundstücke aufbewahrte, die sie bei ihren Streifzügen durch die Baracken gesammelt hatte und vielleicht noch gebrauchen konnte. Immerhin hatte sie jetzt einen Ort gefunden, an dem sie niemanden störte oder peinlich war. An dem es egal war, wenn ein Pfeil sein Ziel verfehlte – was immer seltener vorkam. Der Innenhof bestand aus einer großen nach drei Seiten begrenzten Fläche. Der weiche Sandboden war, nachdem sie ihn akribisch von Unkraut befreit hatte, der perfekte Untergrund zum Reiten. Ari hatte ihr Glück kaum fassen können, als sie in einer Ecke der alten Scheune ein ganzes Bündel verwitterter Hindernisstangen gefunden hatte. Wer immer hier früher gelebt hatte, hatte offenbar Pferde gehalten! Mit einem Jubelschrei hatte sie die mächtigen rot-weiß gestreiften Pfähle ans Licht gezerrt, sie von Spinnweben befreit, um dann in tagelanger Arbeit eine windschiefe, aber dennoch maßstabsgetreue Kopie des Reitplatzes in Kaltenbach zu errichten. Ihr neuer Übungsparcours war bei Weitem nicht so perfekt, aber Ari war stolz auf ihr Werk. Als sie fertig war, war ihr erster Gedanke gewesen, ihn Herrn Kaan zu zeigen. Zusammen mit ihm hatte sie schon einmal einen improvisierten Übungsplatz gebaut. Den Platz, auf dem sie gelernt hatte, mit Pfeil und Bogen umzugehen. Der Parcours auf der Wiese hinter Herrn...




