Sebald | Unheimliche Heimat | E-Book | www.sack.de
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E-Book, Deutsch, 208 Seiten

Sebald Unheimliche Heimat

Essays zur österreichischen Literatur
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-10-490452-8
Verlag: S.Fischer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Essays zur österreichischen Literatur

E-Book, Deutsch, 208 Seiten

ISBN: 978-3-10-490452-8
Verlag: S.Fischer
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In neun Studien untersucht Sebald den Themenkomplex Heimat und Exil, der für die österreichische Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts so charakteristisch ist. Seine Arbeiten setzen im frühen 19. Jahrhundert ein, bei dem nur wenig bekannten Charles Sealsfield und schlagen den Bogen über die gleichfalls vernachlässigten Schtetlgeschichten Leopold Komperts, über den Wiener Fin-de-siècle-Literaten Peter Altenberg, über Franz Kafka, Joseph Roth bis hinein in die Gegenwart, die durch Jean Améry, Gerhard Roth und Peter Handke vertreten ist. All diesen Autoren ist gemeinsam, daß sie an der »Unheimlichkeit der Heimat« gelitten haben bzw. noch immer leiden. Behutsam macht Sebald deutlich, wie oft dieses Leiden an der Heimat sowie die vage Sehnsucht nach ihr für österreichische Autoren zum Thema, wenn nicht sogar Anlaß des Schreibens geworden sind. Leseprobe

W. G. Sebald, geboren 1944 in Wertach im Allgäu, lebte seit 1970 im ostenglischen Norwich, wo er als Dozent für Neuere Deutsche Literatur an der Universität lehrte. Er starb 2001 bei einem Autounfall. Zu seinen Werken gehören die Prosabände ?Schwindel. Gefühle?, ?Die Ringe des Saturn?, ?Die Ausgewanderten? und ?Austerlitz? sowie der Nachlassband ?Campo Santo?; weiterhin die Essaybände ?Logis in einem Landhaus? und ?Luftkrieg und Literatur? sowie die beiden Bände zur österreichischen Literatur ?Unheimliche Heimat? und ?Die Beschreibung des Unglücks?. Das lyrische Werk liegt vor in den beiden Bänden ?Nach der Natur. Ein Elementargedicht? und ?Über das Land und das Wasser?. Zudem ist lieferbar der Interviewband ??Auf ungeheuer dünnem Eis.? Gespräche 1971 bis 2001?, herausgegeben von Torsten Hoffmann. W. G. Sebald wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u. a. mit dem Mörike-Preis, dem Heinrich-Böll-Preis und dem Joseph-Breitbach-Preis.
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Einleitung


Aufgrund der besonderen, vielfach traumatischen Entwicklung, die Österreich von dem weit ausgedehnten Habsburger-Imperium zur diminutiven Alpenrepublik und von dieser über den Ständestaat und den Anschluß an das unselige Großdeutschland bis zur Neubegründung in den Nachkriegsjahren durchlaufen hat, nimmt der mit Begriffen wie Heimat, Provinz, Grenzland, Ausland, Fremde und Exil umrissene Themenbereich in der österreichischen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts eine auffallend prävalente Stellung ein. Es ließe sich die Auffassung vertreten, daß die Beschäftigung mit der Heimat über alle historischen Einbrüche hinweg geradezu eine der charakteristischen Konstanten der ansonsten schwer definierbaren österreichischen Literatur ausmacht, auch wenn, wie es bei der Vielfalt der ethnischen und politischen Denominationen anders gar nicht sein kann, die Vorstellung von dem, was Heimat einmal war, ist oder sein könnte, bis auf den heutigen Tag in einer Weise schwankt, daß eine systematische Vermessung dieses Geländes auf erhebliche Schwierigkeiten stoßen würde. Allenfalls ist es möglich – und um mehr soll es hier nicht gehen –, von bestimmten Aussichtspunkten, wie die Werke verschiedener Autoren sie bieten, ein wenig Umschau zu halten auf das, was da jeweils Heimat heißt. Ich bin mir dabei der Tatsache vollauf bewußt, daß ein solches Verfahren ebensoviel, ja weit mehr außer acht läßt, als es einschließt. Vieles von dem, was unter dem Titel dieses Bandes hätte behandelt werden können, bleibt darum unerörtert; andererseits aber hoffe ich doch, daß die notgedrungene Lückenhaftigkeit aufgewogen wird von Durchblicken, wie sie in einer systematischeren, weniger auf die Textqualitäten selbst ausgerichteten Behandlung sich vielleicht nicht eröffnet hätten.

Der Heimatbegriff ist verhältnismäßig neuen Datums. Er prägte sich in eben dem Grad aus, in dem in der Heimat kein Verweilen mehr war, in dem einzelne und ganze gesellschaftliche Gruppen sich gezwungen sahen, ihr den Rücken zu kehren und auszuwandern. Der Begriff steht somit, wie das ja nicht selten der Fall ist, in reziprokem Verhältnis zu dem, worauf er sich bezieht. Je mehr von der Heimat die Rede ist, desto weniger gibt es sie. Die Neue Welt, die im Exotismus der Sealsfieldschen Landschaftsschilderungen erstmals im deutschen Sprachbereich aufscheint, verdeutlicht durch ihre schwindelerregende Weite, daß die Erfahrung des Heimatverlusts nie wieder gutzumachen ist. Doch zeigt es sich auch zu Hause, wie in der Prosa Stifters allenthalben nachzuweisen wäre, daß das Verhältnis der Menschen zu ihrer angestammten Heimat gebrochen ist von dem Augenblick an, da diese ein literarisches Thema wird. Als Fremde und Ausländer ziehen die Stifterschen Protagonisten durch die ihnen doch bis ins kleinste vertraute Gegend; wie die Bergkristallkinder überzeugt, auf dem rechten Weg zu sein, gehen sie längst schon in die Irre, und das Vaterhaus, das in der Erzählung die ganze Zeit her aus dem blaugezackten Saum des Horizonts hervorragte, ist beim nächsten Blick durchs Fernrohr bereits verwandelt in eine rauchende Ruine. Die Stifter als Heimatschriftsteller reklamierten, übersahen, wie unheimlich ihm die Heimat geworden war. Überall herrscht die größte Kälte, in den Verhältnissen zwischen den Menschen sowohl als in der in ihrem Bewußtsein auf einmal als ›das andere‹ aufgegangenen Natur. Das Werk Stifters, entstanden im Zeitalter des anhebenden Hochkapitalismus, liest sich über weite Strecken wie die Geschichte einer zweiten Vertreibung. Wenn Stifter, trotz dieser Einschlägigkeit, im vorliegenden Band nicht in Betracht gezogen wird, so liegt das hauptsächlich daran, daß ich mich mit seinem Weltbild in früheren Arbeiten schon auseinandergesetzt habe und Rekapitulationen zu vermeiden suchte.[1]

Das Thema Heimat tritt in der österreichischen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts nicht zuletzt deshalb so sehr in den Vordergrund, weil es für die Schriftsteller jüdischer Provenienz während des gesamten Zeitalters der Assimilation und Westwanderung tatsächlich von übergeordneter Bedeutung gewesen ist. Wie aus den Schriften von Leopold Kompert und Karl Emil Franzos hervorgeht, stellte sich für die aus dem Ghetto Entlassenen zumindest seit der Mitte des 19. Jahrhunderts die Frage, ob man mit der Ankunft in Wien endlich zu Hause angelangt war oder ob man die wahre Heimat nicht vielleicht doch mit dem Stedtl aufgegeben hatte. Die Auseinandersetzung mit dieser Problematik in den deutschsprachigen Ghettogeschichten des 19. Jahrhunderts ist voller Ambivalenzen und erfährt auch später, in der Literatur des , keine Lösung. Was sich von Schnitzler und Altenberg bis zu Broch und Joseph Roth mehr und mehr abzeichnet, ist ein komplexer Illusionismus, der sich der eigenen Unhaltbarkeit völlig bewußt gewesen ist und der, indem er noch an der Vorstellung eines Heimatlandes arbeitete, sich zugleich bereits als Einübung ins Exil verstand.

Wenn die Juden in der Diaspora immer dazu tendierten, mit ihrem Gastland sich zu identifizieren, so war ihr Attachement an Österreich doch ein Phänomen besonderer Art. Theodor Herzl schwelgte bekanntlich eine Zeitlang in der Vision von Wien als einem neuen Jerusalem, und er wäre, sofern es sich hätte arrangieren lassen, bereit gewesen, die gesamte Wiener Judenschaft zur Einleitung einer jüdisch-christlichen Staatsutopie in den Stephansdom zur Taufe zu führen. Wäre dieser extravagante Versöhnungsplan, den Herzl dem Papst zu unterbreiten beabsichtigte, verwirklicht worden, so hätte das sozusagen die Umwandlung Österreichs ins heilige Land zur Folge gehabt. Die Realisierung des Traumkonzepts eines neuen apostolischen Reichs deutsch-jüdischer Nation war – von allen realpolitischen Erwägungen einmal ganz abgesehen – in erster Linie deshalb von vornherein zum Scheitern verurteilt, weil es im Grunde nur eine Funktion des Antisemitismus war, den es aus der Welt schaffen wollte. In Anbetracht dieser Vorgeschichte erscheint die Idee des Zionismus, die Herzl bald darauf propagierte, geradezu als pragmatischer Kompromiß zwischen einem romantisch-utopistischen Szenarium und den tatsächlichen politischen Gegebenheiten der Zeit. Eigenartigerweise tat das Wunschdenken, das in der Vorgeschichte des Zionismus zum Ausdruck kam und das nicht nur für Herzl bezeichnend gewesen ist, der kritischen Scharfsichtigkeit der jüdisch-österreichischen Autoren keinerlei Abbruch. Das stimmt nicht nur für Karl Kraus, dem ›das österreichische Antlitz‹ wohl als einem der ersten als eine Allegorie des Schreckens erschien, sondern ebensosehr für Schriftsteller wie Altenberg und Joseph Roth, die gelegentlich der Glorifizierung oder Sentimentalisierung Österreichs bezichtigt worden sind. Kritik und Treue halten einander in den Werken der jüdisch-österreichischen Autoren auf das genaueste die Waage, und man ginge gewiß nicht fehl, bezeichnete man dieses Gleichgewicht als eines der Inspirationszentren der österreichischen Literatur in ihrer produktivsten Zeit. An der Sehnsucht nach einer Synthese änderte sich bis in die komatöse Phase der I. Republik hinein nur wenig. Die Bindung an Österreich war auch nach dessen zweifelhafter Mutation in einen christlichen Ständestaat kaum zu durchbrechen. Das hat niemand genauer und früher beschrieben als Kafka in der im Schloßroman als Paradigma von der Exilierung entwickelten Geschichte der Familie des Barnabas, wo die Unterdrückten gleichfalls dem Regime hörig bleiben. Broch hingegen, der sich in seinem Bergroman ähnliches vorgenommen hatte, verstrickte sich so tief in die Mythisierung der Heimat, daß er darüber kaum wahrnahm, daß man ihm das Wohnrecht bereits aufgekündigt hatte.

Die Ideologisierung der Heimat, die in Österreich in den dreißiger Jahren sich durchgesetzt hatte, lief letztlich auf ihre Zerstörung hinaus. Heimat, das war nun, wie Gerhard Roth das in einem Interview einmal ausgedrückt hat, der Zustand, in dem jeder von jedem und alles von allem vereinnahmt wird.[2] Was man damals zu bewerkstelligen suchte, war die Abschaffung jeglicher Differenz, die Erhebung der Engstirnigkeit zum Programm und des Verrats zur öffentlichen Moral. Die Holzwegliteratur hatte einen zentralen Anteil an dieser Umwertung sämtlicher Werte, in deren Zusammenhang auch die Pervertierung der Heimat gehört. So gründlich wurde dieses Geschäft besorgt, daß deren Rehabilitierung in der seriösen Literatur lange Zeit ganz und gar ausgeschlossen schien. Namen wie Weinheber und Waggerl belegen zur Genüge, welche Art von Heimatbegriff bis weit in die sechziger Jahre hinein im Umlauf gewesen ist. Erst durch die Arbeit der Wiener Gruppe, mit Artmanns ›gedichta r aus bradnsee‹, und später, auf breiterer Basis, durch den inzwischen schon legendären Auszug der Grazer gelang so etwas wie eine Rekonstitution der Heimat im Rahmen einer nicht kompromittierten Literatur.

Für einen Autor wie Jean Améry, der, nach eigenem Zeugnis, den Heimatverlust nicht hatte verschmerzen können, kam diese korrektive Entwicklung allerdings um einige entscheidende Jahre zu spät. Daß der Prozeß der Rehabilitierung nur sehr langsam vonstatten ging, ist andererseits nicht verwunderlich. Es bedurfte eines Generationenwechsels und es bedurfte einer beträchtlichen Anzahl ethisch und ästhetisch gleichermaßen engagierter Bücher, um die Hinterlassenschaft des Faschismus auszugleichen und aufzuwiegen. Solche Bücher sind nun und werden weiterhin geschrieben. In der Berichterstattung darüber, was an der Heimat, in der die gegenwärtige Schriftstellergeneration großgezogen wurde, falsch...


Sebald, W.G.
W. G. Sebald, geboren 1944 in Wertach im Allgäu, lebte seit 1970 im ostenglischen Norwich, wo er als Dozent für Neuere Deutsche Literatur an der Universität lehrte. Er starb 2001 bei einem Autounfall. Zu seinen Werken gehören die Prosabände ›Schwindel. Gefühle‹, ›Die Ringe des Saturn‹, ›Die Ausgewanderten‹ und ›Austerlitz‹ sowie der Nachlassband ›Campo Santo‹; weiterhin die Essaybände ›Logis in einem Landhaus‹ und ›Luftkrieg und Literatur‹ sowie die beiden Bände zur österreichischen Literatur ›Unheimliche Heimat‹ und ›Die Beschreibung des Unglücks‹. Das lyrische Werk liegt vor in den beiden Bänden ›Nach der Natur. Ein Elementargedicht‹ und ›Über das Land und das Wasser‹. Zudem ist lieferbar der Interviewband ››Auf ungeheuer dünnem Eis.‹ Gespräche 1971 bis 2001‹, herausgegeben von Torsten Hoffmann. W. G. Sebald wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u. a. mit dem Mörike-Preis, dem Heinrich-Böll-Preis und dem Joseph-Breitbach-Preis.

W.G. SebaldW. G. Sebald, geboren 1944 in Wertach im Allgäu, lebte seit 1970 im ostenglischen Norwich, wo er als Dozent für Neuere Deutsche Literatur an der Universität lehrte. Er starb 2001 bei einem Autounfall. Zu seinen Werken gehören die Prosabände ›Schwindel. Gefühle‹, ›Die Ringe des Saturn‹, ›Die Ausgewanderten‹ und ›Austerlitz‹ sowie der Nachlassband ›Campo Santo‹; weiterhin die Essaybände ›Logis in einem Landhaus‹ und ›Luftkrieg und Literatur‹ sowie die beiden Bände zur österreichischen Literatur ›Unheimliche Heimat‹ und ›Die Beschreibung des Unglücks‹. Das lyrische Werk liegt vor in den beiden Bänden ›Nach der Natur. Ein Elementargedicht‹ und ›Über das Land und das Wasser‹. Zudem ist lieferbar der Interviewband ››Auf ungeheuer dünnem Eis.‹ Gespräche 1971 bis 2001‹, herausgegeben von Torsten Hoffmann. W. G. Sebald wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u. a. mit dem Mörike-Preis, dem Heinrich-Böll-Preis und dem Joseph-Breitbach-Preis.



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