E-Book, Deutsch, Band 4, 506 Seiten
Speed Speeds Arbeit
3. Auflage 2025
ISBN: 978-3-8192-5894-7
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Eine autistische Intervention in den Arbeitsbegriff - In Zeiten von KI und Robotik
E-Book, Deutsch, Band 4, 506 Seiten
Reihe: Artistic Research - Neurodivergente Forschung
ISBN: 978-3-8192-5894-7
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Timothy Speed (geb. 1973/England) ist Künstler, Aktivist und neurodivergenter Theoretiker. Als Autist mit ADHS lebt er das, worüber er schreibt - in Armut, in Konflikt mit Systemen, und mit einem Denken, das quer zum Mainstream steht. Seine Forschung ist provokant und tiefgreifend: für die Physik, für die Philosophie, für die Gesellschaft. In Selbstversuchen, Institutionenrecherchen und radikal verkörperter Theorie entwickelt Speed eine neue Sicht auf Bewusstsein, Realität und Macht. Im Zentrum steht die MNO-Theorie - ein Modell, das Nichtlokalität, Subjektivität und soziale Ordnung aus einer strukturellen Lücke ableitet. Aus der Ausnahme von der Regel. Speed betreibt keine Forschung über die Welt - er faltet sich hinein, lebt in ihr wie in einem offenen Labor. Seine Texte sind der Abdruck dieser Praxis: wild, präzise, unbequem. Was, wenn Realität nicht aus Dingen besteht, sondern aus dem, was zwischen ihnen fehlt? Was, wenn wir nur die Antwort auf eine Leere sind? Was bedeutet das für unsere Freiheit?
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DIE BERUFUNG DES AUTISTEN
Der von mir geprägte Begriff der autistischen Berufung, also der biologisch bedingt angeborenen Arbeit, bezieht sich darauf, dass ich mein ganzes Leben als den Ausdruck einer geometrischen Form, einer Frequenz, eines Musters, eines Tanzes, einer speziellen Sphäre, im Sinne, der in späteren Kapiteln dargestellten Modelle und Theorien erlebe, die ich in Zyklen versuche durch mein Leben, in meiner Arbeit zu verwirklichen. Damit ist ein biologisch fundiertes, verkörpertes Lebensmuster gemeint, das nicht gewählt, sondern gelebt werden muss – als epistemisch zwingende Arbeit in Symbiose mit Weltstruktur. Das ist eine tiefgründige Form der autistischen Ontogenese, die sich nicht als Identität, sondern als Lebensrhythmus entfaltet.
Gibson beschreibt, wie erwähnt, Affordanzen als relationale Handlungsmöglichkeiten, die nur dann existieren, wenn Umwelt-Gestalt und leibliche Disposition zueinander passen. Ein Sessel »affordiert« Sitzen, weil Größe, Form und Muskel-Tonus des Menschen sich verschränken. Bei Autist:innen ist dieses Affordanz-Feld oft enger und präziser kalibriert – sie erkennen vor allem jene Strukturen, die mit ihren Spezial interessen, Sinnesfiltern und motorischen Routinen kompatibel sind. Die Monotropismus-Theorie zeigt, dass autistische Kognition Ressourcen in wenige dominante Interessenkanäle lenkt. Wird genau dort eine passende Affordanz-Landschaft geboten (z. B. in künstlerischer Forschung, Datenanalyse, Detailkunst), entsteht Flow: maximale Sinn-Kohärenz, minimale Vorhersagefehler2. Jobs, die andere Affordanzen erzwingen (Telefonakquise, Großraum-Administration), erzeugen dagegen permanente Fehler-Signale; der Organismus reagiert mit Stress. Predictive-Processing-Modelle besagen, dass Autist:innen sensorische Abweichungen hoch und präzise gewichten und schwache Priors3 haben. Eine Tätigkeitsumgebung, die ständig »falsche« Reize liefert, lässt sich nicht einfach ignorieren – das Gehirn meldet unaufhörlich Vorhersagefehler. Die Aussage »Ich kann das nicht tun« ist also wörtlich zu nehmen: Die neurophysiologischen Kosten, Fremd-Affordanzen fortwährend zu unterdrücken, übersteigen verfügbare Ressourcen. Dies wird im späteren Verlauf dieses Buches entscheidend, wenn es darum geht, dass Behörden mich zu einer anderen Arbeit zwingen wollten.
Schwache Priors liefern auch einen physiologischen Schlüssel dafür, weshalb ich sagte: »Je emotionaler, umso rationaler«, denn starke, leiblich getragene Affekte wirken in meinem System als temporäre Präzisionsbooster und verdichten das Rauschen, sodass Analyse möglich wird. Ohne diesen affektiv sensorischen Verdichter bleiben die Priors breit, das Signal chaotisch. Ich muss die Verhältnisse persönlich machen.
Genau dort setzt jene »Berufung« an: Die Welt ist nicht außen, sie entfaltet sich durch das Subjekt, das aber nicht als Ego agiert, sondern als Formresonanz. Mel Baggs (2007): »In My Language« ? beschreibt auch, dass ihre Art, in der Welt zu sein, nicht metaphorisch ist. Sie kommuniziert mit der Welt durch Muster, Berührung, Bewegung, Echo. Damian Milton (2014): »Autistic Expertise: A Critical Reflection on the Production of Knowledge« ? argumentiert, dass viele Autist:innen eine Form von »epistemischer Notwendigkeit« spüren: eine zwanghafte Bindung an ein Thema, eine Form, eine Ordnung. Man kann also sagen, dass wir nicht forschend analysieren, sondern verkörpernd forschen – als innere Notwendigkeit, durch Mustererfüllung. Ich verstehe dies selbst als eine Art »Mythologischer Existenz.« Wie Engel, Götter oder Fabelwesen, haben auch manche Autist:innen eine geradezu determinierte innere Aufgabe, die sich aus der erlebten Form der Muster der Welt ergibt. Man stelle sich nur das Chaos vor, schickte man einen Gott, oder ein Fabelwesen zur Arbeit in die Firma und dieses Wesen wäre unfähig etwas anderes zu tun, als die eigene Bestimmung. Das wäre in etwa mein Erleben autistischer Berufung.
Die in den folgenden Kapiteln beschriebene Forschung als »autistischen Berufung« ist kein metaphorisches Bild, sondern eine in der neurodivergenten Forschung beschriebene Lebensrealität. Viele Forschende zeigen, dass autistische Erkenntnisprozesse nicht optional oder rational strukturiert sind, sondern aus einer verkörperten, rhythmisch formierenden Ordnung heraus operieren. Die Person wird dabei nicht Träger von Wissen, sondern ein Aspekt der Struktur selbst, die sich durch das Subjekt verwirklicht.
Ich bin als Autist und Künstler von dieser Ordnung nicht getrennt, sondern wir existieren in Symbiose. Neurotypische Menschen tun dies nicht auf diese Art. Sie sind nicht derart eine Einheit mit der Welt. Sie können vergleichsweise wesentlich willkürlicher darin agieren. Diese Musterordnung kann ich als Autist weder ignorieren noch kann ich damit aufhören, sie zu erforschen oder in meiner Existenz auszudrücken. Sie ist mir folglich zur natürlichen Arbeit geworden, die mir angeboren ist. Das Muster, die Form, hat mir eine Aufgabe zugeteilt, nämlich eine Differenz zu beschreiben, zwischen ihr und der Zivilisation. Das mag für neurotypische Menschen schwer zu verstehen sein, deren Handeln von ihnen mehr oder weniger frei entschieden werden kann, die sozialen und gesellschaftlichen Normen oder Bedingungen folgt, um möglichst einen Platz, also einen Job in der Gruppe zu finden. Darin liegt ein gewisser, auf Anpassung beruhender Möglichkeitsraum und eine Offenheit und Flexibilität, die vielen Autist:innen fehlt. Das alles muss ich ignorieren, wenn es der Verwirklichung der in mir verkörperten Ordnung widerspricht. Das ist kein Zwang, in dem Sinne, dass ich darunter leiden würde, sondern eine Voraussetzung meines Seins. Ich muss diese selbstbestimmte Arbeit machen, weil alles andere meine Auslöschung als menschliches Wesen zur Folge hätte. Jobs als fremdbestimmtes Handeln sind somit nicht die Grundlage meiner Existenz, sondern waren und sind schon immer eine Bedrohung dessen gewesen. Betrete ich ein Unternehmen, sehe ich überall abweichende Ordnung, die korrigiert werden muss. Da Jobstrukturen mein Handeln externalisiert über meinen Körper fremdbestimmen wollen, verorten sie mich in Raum und Zeit und zerbrechen mich auf diese Weise. Weil ich mein Handeln als Autist nicht von der Notwendigkeit der Einhaltung jener Ordnungen und Muster trennen kann, die mich selbst zu einer Art personifizierten Skulptur meines Welterlebens gemacht haben, also zu einer mythologischen Existenz. Ich bin in meinem ganzen Sein ein Wesen, dass den freien Selbstausdruck benötigt, wie andere Luft zum Atmen. Meine neurologische Verschaltung erlaubt es mir nicht, getrennt von meinem Erleben, meiner Wahrnehmung zu handeln, als hätte das eine mit dem anderen nichts zu tun.
In der neurotypischen Bias nennt man mein Problem mit der Welt auch »Pathological Demand Avoidance«. Also die Verweigerung, äußeren Anforderungen zu folgen. Es ist kein krankhaftes Verhalten, sondern ein Mechanismus der Evolution, um Komplexität in Ökosystemen zu bewahren, die Neurotypische nur allzu gerne ignorieren, wenn es ihnen einen Vorteil in der Gruppe verschafft. Es muss also Menschen geben, die Abweichungen und Unterschiede in Strukturen erkennen, die Muster präzise sehen können, ohne subjektive Verzerrung, auch wenn es politisch und entlang sozialer Normen nicht erwünscht ist. Diese Menschen können dazu beitragen, die innere Ordnung der Natur zu schützen und das, was Realität ist, fortlaufend zu erweitern.
Mit diesem Kapitel versuchte ich also die grundlegenden Unterschiede zwischen neurodivergenter Forschung und klassischer Wissenschaft zu beschreiben. Denn klassische Wissenschaft beruht auf Paradigmen neurotypischer Gehirne, also auf Annahmen und Methodiken, die deren Realitätserleben entsprechen und deren Schwächen ausgleichen sollen. Das neurotypische Gehirn ist wesentlich stärker an Objekten, Kontrolle und Vorhersagbarkeit orientiert, während viele Autist:innen und Neurodivergente die Realität über unmittelbare Prozesse, Details und Beziehungen konfigurieren. Ausdruck ist stärker gewichtet als Aussage. Was aber nun Realität ist, was Erkenntnis ist, was Wissen ist, lässt sich folglich nicht gleichermaßen in Methoden und Sichtweisen für neurotypische wie neurodivergente Gehirne definieren. Genauso wenig wie zwischen einem Alien und einem Menschen, denn ein Alien würde Wissen aus vollkommen anderem Realitätserleben heraus begreifen, im Kontext einer völlig anderen neurologischen Verbindung zum Ökosystem.
Im folgenden Kapitel möchte ich mich mit der fundamentalen Frage befassen, was die oder eine Grundlage der Freiheit innerhalb der Diversität erfordert, was deren Grundlage ist oder sein könnte. Denn wenn wir uns in weiterer Folge dieses Buches den Arbeitsbegriff im Kontext mit Mensch und KI ansehen wollen, ist es unerlässlich zu verstehen, dass unser Handeln, unser Arbeiten, unser Gestalten der Welt, in Resonanz mit dieser geschieht und es kein relevantes Denken außerhalb der Welterfahrung gibt, weil alles andere nur Simulation wäre, also das Denken in einer geschlossenen Box. KI ist heute weitgehend Simulation, weil es der KI fundamental an erlebtem Weltbezug, an einem erlebten Weltmodell...




