Stein Das Alphabet des Rabbi Löw
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-943167-96-2
Verlag: Verbrecher
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Roman
E-Book, Deutsch, 290 Seiten
ISBN: 978-3-943167-96-2
Verlag: Verbrecher
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Benjamin Stein, geboren 1970 in Ostberlin, lebt heute in München. Seit 1982 veröffentlichte er Lyrik und Kurzprosa in Zeitungen, Zeitschriften und Anthologien. Er studierte Judaistik und Hebraistik in Berlin, seit 1998 arbeitet er als Berater im IT-Bereich. Von 2006 bis 2008 war er Mitherausgeber der Literaturzeitschrift spa_tien. Er betreibt das literarische Weblog Turmsegler. 'Das Alphabet des Juda Liva' war 1995 sein erster Roman, 2010 folgte 'Die Leinwand', 2012 'Replay'. Seine Werke wurden mehrfach ausgezeichnet und in zehn Sprachen übersetzt. Im Verbrecher Verlag hat Benjamin Stein 2010 'So nackt an dich gewendet' von Charlotte Grasnick herausgegeben.
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1
Rottenstein wird vorübergehend Vater eines Teufels, verspottet Rentner und verlässt hungrig das Haus.
Als Rottenstein eines Abends, von einigen Viertellitern etwas schwach auf den Beinen, das Apartmenthaus Na Pet?inach 392 betrat und der Pförtner ihm sagte, dass sein Sohn, ein schmucker Bursche mit Stirnband, bereits angekommen sei und ihn oben erwarte, hätte ihm auf der Stelle klar sein müssen, dass all seine früheren Verfehlungen nun in einem Strafgericht auf ihn zurückfallen würden. Doch er begriff nicht, was sich hier anbahnte.
Schon gut, nuschelte er, winkte müde ab und trottete weiter in Richtung Aufzug. Als der Pförtner ihm nachrief, dass der Fahrstuhl defekt sei und der Monteur erst am Morgen kommen würde, entschlüpfte ihm ein derber Fluch, denn er wusste nicht, wie er in seinem Zustand die sechs Treppen bis zu seiner Wohnung bewältigen sollte.
Mag sein, dass ihn das Treppensteigen ein wenig ernüchterte. In der zweiten Etage fragte er sich, was ein Kind von ihm wollen könnte und warum der Pförtner den Jungen für seinen Sohn hielt. Auf dem fünften Treppenabsatz fragte er sich, warum er so betont hatte, dass der Bengel ein Stirnband trug. Und als er schließlich im sechsten Stock vor seiner Wohnungstür stand, wusste er, dass hier etwas grundlegend nicht stimmen konnte und der fortgeschrittene Abend noch eine unangenehme Überraschung für ihn bereithielt.
Die Wohnungstür war nur angelehnt. Rottenstein öffnete sie und fand zunächst alles so, wie er es verlassen hatte. Er warf den Hut auf die Flurgarderobe, hängte mit größtmöglicher Sorgfalt seinen Mantel auf und warf einen Blick ins Schlafzimmer. Dann inspizierte er Küche und Bad und fand auch diese Räume nicht unordentlicher als gewöhnlich. Von dem angekündigten Besucher keine Spur.
Rottenstein öffnete langsam die Tür zum Wohnzimmer. Dann sah er den Jungen. Er hatte es sich in einem Sessel bequem gemacht und war eingenickt. Der Junge war höchstens zwölf, mit rotem Struwwelkopf und einem sommersprossigen Gesicht, das so unschuldig wirkte, dass es zum Küssen war. Das knallrote Stirnband, das schon dem Pförtner aufgefallen war, hatte durchaus Pfiff. Allerdings schien es ein wenig zu breit geraten. Obwohl es dem Jungen über die Augen gerutscht war, verdeckte es noch immer beinahe die halbe Stirn.
Der Bengel schmatzte. Ein Bild für die Götter, dachte Rottenstein und schmunzelte. Entschlossen ging er auf den Stirnbandwicht zu und weckte ihn.
Für den Stups, den er ihm verpasst hatte, erntete er ein quengeliges Grunzen. Der Junge setzte sich im Sessel auf und rieb sich die Augen.
Rottenstein war einen Schritt zurückgetreten und hatte die Arme vor der Brust verschränkt.
Du willst also mein Sohn sein? brummelte er und wartete auf ein Wort der Erklärung. Der Junge aber schwieg zunächst und musterte ihn abschätzend.
Bist du Rottenstein? fragte er schließlich.
Und als der antwortete, dass er schon glaube, er selbst zu sein, kratzte sich der Junge hinterm Ohr.
Mein Vater, stammelte er, hat gesagt, ich soll unbedingt warten, bis Sie kommen. Ich bin aber schon seit dem Nachmittag hier. Und draußen war es so kalt.
Dein Vater? unterbrach ihn Rottenstein.
Ji?í Procházka, erwiderte der Junge. Er nestelte an seinem Stirnband. Ich soll Ihnen ausrichten, dass er Sie unbedingt sprechen muss.
Ji?í Procházka? Rottenstein schüttelte den Kopf. Kenne ich nicht, wehrte er ab, obgleich ihm der Name durchaus bekannt vorkam. Denn als Rottenstein und ich vor fast genau vier Jahren beim Zimmerservice in der Krocínova besagtes Zweizimmerappartement gemietet hatten, war es das eines gewissen Ji?í Procházka in der Leninová, Praha-Dejvice, gewesen. Und hatte er damals nicht ein Fläschchen Eau de Cologne aus dem Kosmetikschrank des Hausherrn mitgehen lassen? Dennoch wiederholte er seine Behauptung: Kenne ich nicht. Und schon gar nicht nachts um elf.
Aber … setzte der Junge an.
Nichts aber, fuhr Rottenstein dazwischen und ging auf ihn zu. Schlapp fühlte er sich nach dem Wein und den vielen Treppen. Schlafen! dachte er nur und nahm den Wicht bei der Hand. Nicht grob, doch bestimmt bugsierte er ihn durch den Korridor zur Wohnungstür.
Geh, Junge, sagte er: Dein Vater muss mich mit jemandem verwechseln.
Aber was soll ich ihm sagen? brachte der Junge seine Frage zu Ende.
Rottenstein öffnete die Tür, schob ihn sanft hinaus auf den Flur und überlegte einen Moment, bevor er antwortete: Sag ihm, dass es ein Jammer ist, dich auf Stunden in die Kälte zu schicken. Und dass er nicht erwarten kann, dass ich mitten in der Nacht wildfremde Leute besuche.
Schon gar nicht, wenn du sie vor Jahren bestohlen hast … flüsterte ihm sein plötzlich erwachtes Gewissen zu, als er die Tür schon schließen wollte. Er hüstelte.
Und wenn er mich unbedingt sprechen muss, setzte Rottenstein bestimmt hinzu, muss er schon selbst kommen.
Na gut, sagte der Junge.
Gut, sagte auch Rottenstein und streckte dem Jungen zum Abschied die Hand entgegen. Dann schloss er die Tür.
Schlafen! sagte er sich noch einmal, zog sein Jackett aus und warf es aufs Sofa. Hemd und Schuhe schleuderte er achtlos auf den Boden und schlief wohl schon, als er, noch halb angezogen, ins Bett fiel.
Einige Stunden später, draußen war es noch dunkel, erwachte er aus einem Traum. Er hatte einen Jungen mit Stirnband gesehen, der nachts mit Farbspray ein großes Aleph an die Wand des Apartmenthauses Na Pet?inach 392 sprühte, Rottenstein!, Rottenstein! rief und schadenfroh lachte.
Rottenstein drehte sich um, zog die Decke über den Kopf und erinnerte sich einmal mehr an die Worte seiner Mutter, die ihm seit Jahren riet, sich endlich einmal analysieren zu lassen. Er hatte es immer abgelehnt, weil er seit seinem achtzehnten Geburtstag der festen Überzeugung war, die einzige Gefahr, die seiner Seele drohe, sei die übermäßige Fürsorglichkeit seiner geliebten Mama. Damals hatte sie ihn die Kerzen auf seiner Geburtstagstorte ausblasen lassen, um ihm dann zu verraten: Jetzt bist du mein erwachsenes Kind.
Am nächsten Morgen erwachte Rottenstein mit brennendem Durst und einer drängenden Unruhe in den Eingeweiden. Auf keinen Fall hätte er sich eingestanden, dass es etwas mit dem Procházka jr. oder seinem nächtlichen Traum zu tun haben könnte.
Er lief in die Küche, öffnete eine Flasche Mehrfruchtsaft und nahm einen tiefen Schluck. Draußen stürmte es und er begann zu frösteln. Unentschlossen langte er nach dem Telefon und trank noch einen Schluck aus der Flasche, bevor er mit einem Ruck den Hörer abnahm und die Nummer der Jazyková Škola wählte.
Er würde sich krank melden. Heute musste es ohne ihn gehen. Seine Schülerinnen würden wahrscheinlich sogar dankbar sein, bei diesem Wetter nicht auf die Straße zu müssen.
Das Telefonat war schnell erledigt. Rottenstein beschrieb seine Symptome. Hitzeschauer und Zittern, er habe sich wohl erkältet.
Sie Ärmster, kam es besorgt vom anderen Ende der Leitung zurück, wenn’s nur nichts Schlimmeres ist!
Glaube ich nicht, erwiderte Rottenstein mit leidender Stimme. Ein bisschen Ruhe und schwarzer Tee, und morgen geht’s schon wieder, Fräulein Janová.
Die Sekretärin der Jazyková Škola erging sich noch ein wenig in guten Ratschlägen. Bessern Sie sich, sagte sie abschließend mit ihrem entzückenden tschechischen Akzent und legte auf.
Rottenstein stellte das Telefon zurück. Nun, da er einen Tag Urlaub hatte, wollte er ihn wenigstens mit einem guten Frühstück beginnen. Er inspizierte seinen Kühlschrank und stellte fest, dass der kein annehmbares Frühstück mehr hergeben würde. Rottenstein zog sich fertig an, überschlug seinen Vorrat an Kronen und genoss die Vorfreude auf die frischen Hörnchen mit Butter und Pflaumenmus, die er sich holen würde.
Der flüchtige Blick in den Spiegel mahnte ihn jedoch, sich nicht zu überschätzen. Um ganze Jahre schien er über Nacht gealtert. Und so überlegte er noch einen Moment, ob es nicht besser wäre, an diesem Tag nicht aus dem Haus zu gehen, angelte dann aber doch den Hut von der Flurgarderobe und trat hinaus auf den Treppenflur.
Der Fahrstuhl funktionierte noch immer nicht. In den elf Wochen und vier Tagen, die Rottenstein nun in diesem Haus wohnte, war er bereits dreimal defekt gewesen, und der dann täglich hoffnungsvoll erwartete Monteur hatte nie weniger als eine Woche gebraucht, um die Reparatur tatsächlich in Angriff zu nehmen. Den übrigen Mietern schien dieser Zustand inzwischen schon so vertraut zu sein, dass sie es aufgegeben hatten, ihn noch einer Bemerkung zu würdigen. Rottenstein jedoch konnte sich noch immer aufs Neue darüber ärgern, was den Pförtner, der dies für eine typisch deutsche Reaktion hielt, insgeheim amüsierte.
Auch an diesem Morgen grinste er, als er Rottenstein die Treppe herunterkommen sah. Er stand in der offenen Haustür und war halbherzig damit beschäftigt, die Türscheibe zu putzen. Rottenstein, der das Grinsen ignoriert hatte, wurden die Knie weich, als er die Tür...




