Steinkopf | Neue Schule | E-Book | www.sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 304 Seiten

Steinkopf Neue Schule

Prosa für die nächste Generation
21001. Auflage 2021
ISBN: 978-3-8437-2638-2
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Prosa für die nächste Generation

E-Book, Deutsch, 304 Seiten

ISBN: 978-3-8437-2638-2
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Die perfekte Einstiegsdroge für eine lebenslange Lesesucht Wie lässt sich bei jungen Menschen Begeisterung für Literatur wecken? Mit Goethe, Schiller, Fontane? Oder mit Erzählungen über Mobbing und gar nicht mal so unschuldige spätkindliche Spiele, mit Geschichten über zerbrechende Freundschaften und aufkeimende Liebe, über nächtliche Fahrten zur Tankstelle und seltsam unbestimmte Beziehungen mit Anfang Zwanzig. Die Erzählungen in Neue Schule sind nah und direkt an der Wirklichkeit, an den Problemen, die uns das Leben heute in der Jugend stellt. Kanon schön und gut, aber wer Literatur an junge Menschen vermitteln will, sollte vielleicht mit der jungen Literatur ihrer Gegenwart beginnen.

Leander Steinkopf, 1985 geboren, studierte in Mannheim, Berlin und Sarajevo, promovierte schließlich über den Placeboeffekt. Er arbeitet als freier Journalist, veröffentlicht literarische Essays und schreibt Komödien für das Theater. Er lebt in München. Für sein Debüt 'Stadt der Feen und Wünsche' wurde er für den Kranichsteiner Literaturförderpreis und für den Ulla-Hahn-Autorenpreis 2018 nominiert.
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Autoren/Hrsg.


Weitere Infos & Material


AUF WEN DIE
AUBERGINE ZEIGT


SHIDA BAYZAR

Er ist schmal, an ihm ist alles schmal und hässlich, sein Gesicht, sein Körper, seine Lippen, er hat eine Zahnspange und ist so was von blass, dass man ihm am liebsten Selbstbräuner ins Gesicht spachteln will, denn Sonne hilft da nicht, Sonne macht da eher nur noch alles schlimmer und rot. Mit Hackfressen wie Schmallippe habe ich Mitleid, wenn ich denn überhaupt über sie nachdenke, was automatisch passiert, wenn sie sich so dermaßen aufdrängen wie er, und wenn ich dann über sie nachdenke, möchte ich weinen, weil, erstens ist es schon auch hart, in dieser Zeit auf dieser Welt zu leben und hässlich zu sein, und, zweitens ist es erst recht hart, wenn man dabei so was von scheiße ist.

So etwas schreibe ich übrigens nur hier. So etwas würde ich nie laut sagen, aus Angst, dass man mir am Ende vorwirft, ich sei gemein, wo er doch hier eindeutig der Bösewicht ist. Wenn ich sehe, dass er vor Beginn der Stunde im Flur steht und wartet, gehe ich schneller. Ich schaue auf den Boden, in der Hoffnung, dass er Zara und mich nicht sieht, wenn wir ihn nicht ansehen. Manchmal klappt das. Dann ruft er uns nur irgendwas hinterher, was nicht so richtig bei uns ankommt, denn wir sind schon zu weit entfernt und das Gegröle der anderen übertönt es. Er ist egal. Damit meine ich, dass er allen anderen egal ist. Er ist nicht cool, er hat nichts zu melden, er interessiert niemanden. In seiner eigenen Klasse würde er sich das Ganze nicht trauen, denn da würden die anderen irgendwie reagieren und ihn noch mal daran erinnern, wo sein Platz in der Ordnung der Welt ist, aber weil wir in einer anderen Klasse sind, kann er sich das erlauben, denn niemand kriegt es so richtig mit. Das ist eigentlich geschickt, das muss man ihm lassen.

Zara lässt sich niemals etwas anmerken. Nicht, dass er sie nervt, nicht, dass er sie verletzt, nicht, dass sie ihn hört. Wenn er neben uns herläuft und die Dinge sagt, die er eben sagt, wage ich es manchmal, Zara anzuschauen und sie zu beobachten. Und ehrlich, wenn man Zara anschaut, wie sie ihn wirklich nicht beachtet, obwohl er ihr ins Ohr brüllt, dass sie hässlich ist und fett und nach Knoblauch stinkt, dann könnte man meinen, dass er nicht da ist, denn Zaras Gesicht, Zaras Ohren, Zaras Gang sind das Konzept des Ignorierens in Person, und das ist ungelogen ganz großes Kino, was sie da veranstaltet, es ist oscarreif, es ist auch generell politisch preisverdächtig, denn es ist eigentlich das Höchstmaß an Zivilcourage, das ich in dieser Schule sehe. Sie macht jemanden, der eindeutig zum Kotzen ist, unsichtbar. Sie ist einfach nur da, und weil sie ist, wie sie ist, ist er weg, er ist wirklich nicht mehr vorhanden, und dafür sollte es Standing Ovations geben, denn von seinem Verschwinden profitiert ja die gesamte Menschheit. Leider hilft uns Zaras konsequentes Ignorieren aber nicht weiter, es ist vielleicht vielmehr der Grund, warum er erst recht jeden Tag, jede Pause auf uns wartet und loslegt. Wenn er dann endlich von uns abgelassen hat und wir mit unseren Leuten vor unserem Klassenzimmer stehen und auf die Lehrer warten, dauert es manchmal ein paar Sekunden, bis ich wieder ich bin. Für unsere Leute sind wir ganz normal. Normal beliebt, normal schön, normal schlau.

Einmal hat ihn Olga, unsere Klassenschönste, gehört. Sie ging vor uns, wir hinter ihr, und weil sie die Klassenschönste ist, hat sie normalerweise nicht so viel übrig für Unstimmigkeiten, ihre Aufgabe ist es vielmehr, überall Liebe und Harmonie zu verbreiten und dafür von allen angehimmelt zu werden. Ich mag unsere Klassenschönste, und am liebsten mochte ich sie, als sie im Vorbeigehen hörte, was er sagte, und sich entsetzt zu ihm umblickte, sich dann umsah, um herauszufinden, wen er gemeint haben könnte, und dann Zara und mich entdeckte, und in ihrem Gesicht stand die wunderschöne Verwunderung, die nur Menschen haben können, in deren Leben immer alles nach Pfannkuchen riecht. »Was war denn das bitte?«, fragte sie, sodass jeder es hören konnte, und ich drehte mich zu ihm um, und da sah er erst recht schmal aus, wie ein Kindergartenjunge, der von der Erzieherin einer anderen Gruppe gemaßregelt wird. Geändert hat auch das übrigens nichts, er ist höchstens etwas leiser geworden.

Jetzt sind wir an dem Punkt angelangt, an dem ich erzählen könnte, was der Ursprung des Ganzen ist, damit klar wird, mit was für einer Geschichte wir es hier zu tun haben. Bis hierhin macht ja alles noch nicht so richtig Sinn. Warum mobbt jemand, der selbst nichts zu melden hat? Warum werden Leute gemobbt, die eigentlich keine Opfer sind? Was ist hier eigentlich los?

Ich würde hier wirklich gerne plausible Antworten liefern. Ich würde am liebsten einfach eine Geschichte erzählen, eine Geschichte, die damit beginnt, dass jemand Geburtstag feiert und wir in dem Partykeller, der nach frischer Farbe und alten Äpfeln riecht, auf dem Boden sitzen und Flaschendrehen spielen. Damit, wie der Gastgeber es witzig findet, dass wir statt einer Flasche lieber eine lange gekrümmte Aubergine benutzen, die ihn in Form und Länge nach eigener Beschreibung an seinen Penis erinnert, was alle Jungen ziemlich witzig und alle anderen ziemlich eklig finden. In dieser Geschichte hätten wir dann Flaschendrehen-mit-Küssen gespielt, was eigentlich selten ist, denn meistens sind alle zu verunsichert, aber in dieser Runde hätten dann vielleicht alle irgendwen im Blick gehabt, den zu küssen sie heimlich hofften, und dadurch wären sie ein bisschen mutiger geworden. Ich sehe genau vor mir, wie ich auf jeden Fall auf jemand Bestimmten hoffe, aber die Aubergine zeigt natürlich bis zum Schluss nicht auf mich, wie immer. Was aber auch heißt, dass ich niemand Blöden küssen muss, also alles kein Drama. Die Aubergine zeigt dann aber erstaunlich oft auf Zara, vielleicht, weil Auberginen sich einfach nicht so richtig gut drehen, ich weiß es nicht, Zara tauscht Küsse mit zwei Mädchen, so kleine zarte Küsse auf die Lippen, und alles ist witzig und aufregend und auch ziemlich egal, und dann soll Zara ihn, den blassen Jungen mit der Zahnspange und den schmalen Lippen, küssen. Er kniet und rutscht nervös hin und her, setzt sich etwas gerader hin und tut mir leid, weil man ihm ansieht, dass er sich freut, und weil man Zara wiederum ansieht, dass sie sich überhaupt nicht freut. Zara würde aufstehen, ihn sehr kurz und hastig und fast ohne Berührung küssen und sich schnell wieder hinsetzen, und es wäre nicht Zaras Schuld gewesen, dass alle anderen deswegen lachen müssen, nur kurz, gar nicht mal so richtig gemein, aber lang genug, dass er sich gedemütigt fühlen würde.

Diese Party gab es aber nun einmal nicht. Schmallippe hat diesen Grund nicht. Aber alle, die uns kennen, wissen: Hätte es diese Party gegeben und hätte die Aubergine auf Zara gezeigt und hätte sie Schmallippe deshalb küssen müssen, wäre es so gelaufen. Vielleicht reicht Schmallippe dieses Wissen, um so auf sie abzugehen. Denn er hat es viel mehr auf sie abgesehen als auf mich. Dabei bringe ich viel mehr Opferpotenzial mit, aber er beschimpft zwar uns beide, nie aber mich, oft aber Zara. Also, die Party und das Auberginendrehen waren nicht der Ursprung des Ganzen, denn es gibt ganz einfach keinen Ursprung, finden wir uns doch einfach damit ab, es gibt keinen Ursprung, aber es gibt ein Reihe von Problemen, und diese Probleme lauten erstens, dass ich mich davor fürchte, nach der Pause zu unserer Klasse zu gehen, zweitens, dass er grauenhafte Dinge zu uns sagt, drittens, dass ich mich schrecklich fühle, weil es jemand so auf Zara abgesehen hat und sie wirklich rein gar nichts durchschaut. Die Sache mit Zara nämlich ist die: Wenn es die Party gegeben und wir die Aubergine gedreht hätten, hätte Zara gar nicht gemerkt, wie viele Leute gehofft hätten, dass die Aubergine nicht nur auf Zara, sondern anschließend auf sie selbst zeige. Zara hätte nicht die leiseste Ahnung davon gehabt, dass Schmallippe sich über die Aussicht auf einen Kuss gefreut und sie ihn versehentlich verletzt hätte. Zara nämlich denkt kein Stück daran, dass sie begehrenswert sein könnte, denn sie ist zwar in meinen Augen einer der klügsten Menschen hier, sie hat aber trotzdem irgendwie oft keine Ahnung von der Welt. Ähnlich wie meine Mutter übrigens. Ich habe ihr natürlich nichts von der Sache erzählt, wer macht so was schon. Ich kenne Menschen mit sehr schlechten Beziehungen zu ihren Eltern, die würden ihnen nichts erzählen, weil sie und ihre Eltern sich nicht mögen. Und ich kenne Menschen mit einigermaßen guten Beziehungen zu ihren Eltern, mich zum Beispiel, und die würden nichts erzählen, um ihre Eltern nicht traurig zu machen, und, vor allen Dingen, damit die Eltern vor lauter persönlicher Verletztheit nicht plötzlich aktivistisch werden.

Das wäre ja grauenhaft, wenn ich meiner Mutter von Schmallippe erzähle, und dann beschwert sie sich beim Direktor, und dann sitzen wir in seinem Büro, alle, Zara, Mama, Schmallippe und ich, und ich müsste dann noch mal erzählen und wiederholen und zitieren, was Schmallippe zu uns sagt, wie blöd wäre das denn bitte. Und der Direktor würde dann so gucken wie: Was geht ab, ist doch alles nicht so schlimm; meine Mutter würde so gucken wie: Was geht ab, dieser Junge geht gefälligst sofort in den Knast, und Zara würde so gucken wie: Alter, seit wann bist du eine Petze. Und hätte als Einzige recht. Vielleicht würde meine Mutter, die Weltferne, gar nicht mal so krass aktivistisch werden und den Direktor anrufen, vielleicht würde sie mir auch einfach diese Ratschläge geben, die einen zum Platzen bringen. Vielleicht würde sie, weil sie weltfremd ist, sagen, dass wir aber doch zu zweit sind und er allein, dass es doch wirklich kein allzu großes Problem sein sollte,...


Steinkopf , Leander
Leander Steinkopf, 1985 geboren, ist Schriftsteller, Essayist und Psychologe. Er forschte zum Placebo-Effekt, schrieb für das Feuilleton der FAZ und Komödien fürs Theater. Sein Debüt "Stadt der Feen und Wünsche" wurde mit dem Preis der Schülerjury beim Kranichsteiner Literaturförderpreis ausgezeichnet
und war für den Ulla-Hahn-Autorenpreis 2018 nominiert. Nach Stationen in Mannheim, Berlin, Sarajevo und Plovdiv lebt er nun mit Familie in München.



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